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Halbes Herz

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03.07.2017
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Halbes Herz

Ein Schatten legte sich über Kakteen und Steine, und obwohl die Sonne brannte, war er nicht willkommen. Schwingen wirbelten Sand auf und Mäuse und Echsen rannten um ihr Leben. Auf dem Felsen landete ein Drachenweibchen, dessen Klauen über den Stein fuhren und weiße Kratzspuren hinterließen. Der Kopf wogte hin und her und der gegabelte Schwanz schlug Furchen in den Boden.
Drei Tage führte die Bestie einen einsamen Kampf, der jegliches Leben aus ihrer Umgebung fliehen ließ. Schließlich flog sie davon und auf den Steinen blieb ein Ei zurück. Die goldene Oberfläche wurde von lilafarbenen Adern durchzogen und aus der Ferne erweckte es den Anschein, es wäre eine zweite Sonne geboren worden.
Wie jeder Drache musste auch dieser sein Herz mit einem neugeborenen Menschen teilen. Das Klagen unter Kalkschale und Dotter blieb ungehört, während weit entfernt die Schreie des kleinen Mädchens vernommen, aber nicht verstanden wurden. Und so litten beide unter ihren halben Herzen und die Jahre vergingen und niemand fügte sie zusammen.

Während die übrigen Kinder lachten und sich eine aufgeblasene Schweinehaut zuwarfen, schaute Alena auf den Boden. Ihre Mundwinkel und Schultern zeigten nach unten und die anderen riefen: „Griesgram!“ Sie sagte nichts und malte mit ihrem großen Zeh Muster in den Staub. Auch andere waren mal traurig, wenn ein Kind starb oder es abends keine Grütze mehr gab, aber das ging vorbei.
Bei Alena nicht. Das Gefühl, dass ihr etwas Wichtiges fehlte, brodelte in ihr. Es war wie eine nässende Wunde, die schmerzte – egal, ob sie spielte oder schlief.

Über die Jahre wurde dieses Gefühl immer quälender. Und als Alenas Scheide das erste Mal pochte, war sie davon überzeugt, dass es die Männer waren, die ihre Leere füllen konnten. Doch egal, wie viel Sperma in sie hineingepumpt wurde, das fehlende Stück in ihr hörte nicht auf zu schmerzen.
Und wieder ritt sie einen Mann wie ein Kuhjunge das Kalb. Alena spürte, wie er ermüdete, nicht mehr wollte, aber sie fühlte sich noch nicht besser. Sein Schwanz wurde schlaff und klein und rutschte aus ihr hinaus. Sie nahm ihn in die Hand und rubbelte, wurde wütend. Der Mann schrie auf und versuchte sich zu befreien.
Alena erkannte, dass dieser nicht mehr zu gebrauchen war – jetzt konnte er nicht mehr und später würde er nicht wollen. Wut überkam sie und richtete sich auf den Mann, der zu schwach war, um sie glücklich zu machen. Sie legte die Hände nun um seinen Hals und Adern quollen hervor, zeichneten Muster wie zuvor auf dem Glied. Der Mann schaute sie verwirrt an, ungläubig. Er versuchte ihre Arme wegzudrücken, doch als er verstand, dass sie viel stärker war als er, da war es schon zu spät und das Leben verließ ihn.
Das Sperma verließ Alena, lief ihr die Beine runter, als sie durch das Dorf nach Hause ging. Sie wurde nicht gegrüßt, sie grüßte nicht. „Schlampe. Hexenweib“, tuschelten sie hinter ihrem Rücken, lächelten und mischten dem Nachbarn Hühnerkot in den Eintopf.

In der Hütte roch es nach altem Mann und Kohl. Der Wind, der zwischen den Holzlatten hindurchfuhr, nahm nur die Wärme mit und ließ den Gestank liegen.
Alena schloss die Tür hinter sich und schloss Licht und das Dorf aus. Karl umarmte ihr Bein, um sie willkommen zu heißen. Er war klein und sagte nie ein Wort.
Alena ließ Steckrüben und Kartoffeln auf den Holztisch poltern. Sie nahmen Reißaus und kullerten in den Schatten.
„Wird auch Zeit“, brummte es aus dem Dunkeln. Der alte Herr dort brauchte kein Licht, seine Augen verweigerten schon lange den Dienst.
Karl klammerte fester. Alena strich über sein Haar, so weich wie nichts, an das sie sich erinnern konnte.
„Ich koch uns jetzt was“, sagte sie und sammelte das Gemüse ein.

Das Ei war gewachsen. In seinem Schatten ruhte eine Ziegenfamilie, kaute das trockene Gras und achtete nicht auf den Riss, der seit einigen Wochen die violetten Linien kreuzte. Vielleicht war es die Mittagshitze, vielleicht auch der Geruch der Wiederkäuer, etwas lockte das Geschöpf. Ein lautes Knacken ertönte, Bruchstücke der Schale zerschellten auf dem Felsen und die Ziegen stoben davon. Von Innen wurde die Membran herausgedrückt, zerriss und goldene Nüstern sogen die frische Luft ein.

Ein Seil zog an Alenas Herz. Sie schrie auf vor Schmerzen und vor Sorge, es würde herausflutschen, durch die Rippen und die Haut, und davonhüpfen wie ein roter Frosch. Alena stöhnte, sank nieder. Mit den Fingern konnte sie jede pulsierende Erhebung zwischen ihren Rippen spüren.
Karl starrte sie mit großen Augen an, zupfte an ihren Haaren.
„Alles gut. Geht gleich wieder.“ Eine Lüge. Es würde nur gehen, wenn sie ginge. Zum anderen Ende des Seils.
Sie rappelte sich auf, raffte ein paar Dinge zusammen.
„Das Essen?“ Der alte Herr murrte aus der Ecke. Alena meinte es zumindest, vielleicht war er auch schon vermodert und sie hörte nur noch das Holz knarren.
Sie wischte Karl die Wange trocken. „Bin bald zurück.“
Das Seil zog stark und als sie heraus rannte, stolperte sie und schlug auf den Boden. Sie schmeckte Blut und lachte. Egal was sich am anderen Ende des Seils verbarg – Alena wusste plötzlich, dass es ihr mehr helfen konnte als alle Männer der Welt.

Alena war den ganzen Tag gerannt, doch das Seil wurde nicht schlaffer. Sie gewöhnte sich an die Schmerzen, sie verstand sie, nahm sie an.
Sie wusste nicht, wie lange sie noch durchhalten musste. Also verschnaufte sie, trank aus einem Bach und setzte sich ins Laub.
Als sie die Geräusche einordnen konnte, war es schon zu spät, und jemand drehte ihr den Arm auf den Rücken. Mit dem heißen Atem kam der Geruch von zwischen den Zähnen verwesendem Fleisch und ein Da-haben-wir-dich.
Alena warf den Mann über ihren Rücken, der Aufschlag presste die Luft aus seiner Lunge, und bevor sich diese wieder füllen konnte, zerschmetterte Alenas Ferse den Kehlkopf.
Die anderen waren vorsichtiger, stellten sich im Halbkreis auf.
„Der Alte hatte Recht.“
Netze und Ketten, Keulen und Fäuste, Spucke und Flüche gingen auf Alena nieder und schließlich versagten ihre Kräfte.
„Dafür wirst du brennen, Hexe.“
Sie verschnürten Alena wie ein Paket, schmissen sie auf eines der Pferde. Keinen Zentimeter konnte sie sich bewegen. Sie schrie und die Männer johlten und verstanden nicht, dass es nicht ihr Seil war, das Alena folterte.

Sie warfen Alena zu den Schweinen, als wäre sie verschimmeltes Brot, und verrammelten die Tür. Mit dem Gesicht im Kot lag sie, lauschte den Vorbereitungen im Dorf und erwartete ihr Erlösungsfeuer.
Es war schon dunkel, als man sie schließlich holte.
„Dein Grinsen wird dir noch vergehen.“ Der Bäckerssohn schlug ihr ins Gesicht, sie flog zurück in den Matsch, und trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lächeln. Der Zug an ihrem Herzen hatte nachgelassen, das andere Ende des Seils näherte sich.
Hände und Füße waren mit Ketten verbunden, so dass sie in Trippelschritten zum Scheiterhaufen gehen musste. Die mutigsten der Männer bewachten sie mit Mistgabeln.
Auf dem Dorfplatz standen alle bereit. In der ersten Reihe wartete der alte Herr, der sich die Wärme eines prasselnden Feuers nicht entgehen lassen wollte. Über Karls dreckiges Gesicht zogen sich Spuren, glänzend wie Schneckenschleim auf trockener Erde.
„Alles gut“, flüsterte sie, der Wind trug die Worte in die kleinen Ohren und die großen Augen schimmerten.
Eine Bö ließ Fensterläden klappern und Kannen scheppern und erstickte fast die Flammen des Scheiterhaufens. Mit ihr legte sich ein Schatten über die Bewohner und das Mondlicht verschwand. Männer hielten Hüte, Frauen bändigten Röcke und ängstlich schauten sie zum Himmel. Bevor ihre Augen etwas in der Dunkelheit erkennen konnten, traf sie ein gleißendes Licht und Fleisch und Knochen verbrannten. Überlebende schrien und flohen, die Mistgabeln lagen auf der Erde. Alena war vergessen.
Sie selbst hatte nur Augen für das Geschöpf, auf das sie ihr Leben lang gewartet hatte. Wie jämmerlich ein Mann dagegen wirkte, wie kümmerlich seine Kraft.
Das Feuer verwandelte das Dorf in einen Glutofen, und als der Drache niedersank, war alles um ihn zu Asche geworden. Nur Alena stand nackt und ungefesselt vor ihm. Er legte seine Flügel um sie, schloss sie ein in eine goldene Höhle, und endlich wurde es wieder ein Herz.

Alenas Zehen fuhren durch die Asche, so weich wie nichts, an das sie sich erinnern konnte.
Sie legte die Arme um sich, spürte sich und konnte keine Lücke finden. Im Kreis drehend malte Alena Muster auf den Boden, Funken umtanzten sie, verwirbelten mit dem Staub und hüllten sie in eine graugoldene Wolke.
Die Asche sank nieder und Alenas Flügel glänzten im Morgenlicht. Ihre ersten Schläge verteilten die Reste des Dorfes und Alena lauschte dem Wind und dem Herz und lächelte.

 

Vielen Dank für die Erklärung Friedrichard. Das heißt auch hier

Ein Schatten legte sich über Kakteen und Steine, und obwohl die Sonne brannte, war er nicht willkommen.

muss kein Komma hinter Steine, aber es ist auch nicht falsch. Ich darf es setzen, wenn mir danach ist, den zweiten Teil des Satzes bewusst abzutrennen. Das ist doch schön, da habe ich doch eine Möglichkeit mehr, meinen Geschmack sprechen zu lassen. :)

Liebe Grüße,
NGK

 

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