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Hans

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10.11.2013
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Hans

Dies ist die Geschichte von Hans. Es ist die Geschichte eines Mannes, der das letzte Drittel seines Lebens erreicht hat, er ist Ende fünfzig, arbeitet bei einer Sicherheitsfirma und transportiert jeden Tag Unmengen Geld von A nach B und C. Bisher ohne groß darüber nachzudenken, so als würde er Bananen oder Schokoladentafeln durch die Gegend fahren, mit dem Unterschied, dass die Lieferanten dieser Konsumgüter nicht mit Pistolen ausgesttattet werden. Sein Leben wird eine grundlegende Wende nehmen, als er erfährt, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet, die sein Leben auf wenige Monate reduzieren wird.

Es reift der Gedanke in ihm, dass sich sofort etwas verändern muss! Er hat bisher immer in prekären Verhältnissen gelebt, natürlich nicht vollkommen verarmt, in Deutschland gibt es kein Kalkutta, aber doch so, dass jeder Cent dreimal umgedreht werden muss. Das Essen kommt von Lidl, die Kleidung von C&A und die Armbanduhr von Tchibo. Im Urlaub geht es nach Bulgarien, wenn es hoch kommt, und drei Jahre lang dafür gespart wurde. Und was wäre wenn er sich jetzt einfach über alle Regeln hinwegsetzt und das Geld, das er Tag für Tag durch die Strassen fährt, einfach an sich nimmt. Es ist ja nicht weit von ihm entfernt, nur eine dünne Metallschicht trennen ihn davon. Und ein ausgeklügeltes Überwachungssystem. Er ist nicht alleine unterwegs. Sein Kollege, mit dem er sich übrigens gut versteht, ist diese Kontrollinstanz. Und natürlich die Tatsache, dass der Täter nach dem Delikt gleich bekannt ist und eine Fahndung sofort in die Wege geleitet wird. Doch was würde das schon ausmachen? Wenn ihm die Tat gelingt, bedeutet dies, die letzten Tage in Wohlstand zu verbringen, wenn nicht, gibt es auch eine ärztliche Versorgung im Gefängnis und die Tage sind gezählt. Nie hätte er solche Fantasien für möglich gehalten. Sein Leben verlief bisher in geregelten Bahnen bis auf einige „kleine“ Ausnahmen.

Aufgewachsen in einer mittelgrossen Stadt in Brandenburg, fest verwurzelt im sozialistischen Leben, wurde mit der Wende alles anders. Er verlor seinen Arbeitsplatz in einer Maschinenbaufabrik und musste nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit seinen Wohnort wechseln. Berlin war in den folgenden Jahren der neue Lebensmittelpunkt und die Umschulung zur Sicherheitsfachkraft brachte ihn in Lohn und Brot. Zu DDR Zeiten war er ein engagierter Sozialist, der die Auflösung der politischen Verhältnisse mit großem Unbehagen verfolgte. Der Staat und die alten Verhältnisse wurden atomisiert, in unglaublicher Geschwindigkeit weggesprengt und die Unsicherheit vor dem was nun kommt, sollte sich bald bewahrheiten. Die Abwicklung des Betriebes liess nicht lange auf sich warten. Ironischerweise trug er nun jede Arbeitswoche in den letzten Jahren den Grund für diese negative Entwicklung durch die Gegend, von einer Bankfiliale zur nächsten. Geld, der Grundstoff jeder kapitalistischen Gesellschaft, sozusagen das Blut, das den Organismus versorgt und am Leben hält. Warum nicht etwas anzapfen von diesem Lebenssaft, nur eine im Grunde genommen winzige Menge, ein kleiner Aderlass. Wem würde er damit schaden? Die Banken sind gut versichert, es trifft keinen Armen. Eine Wendung, die er nie für möglich gehalten hätte und die ihn verbitterte. Seine Frau hatte ihn vor einigen Jahren verlassen für einen österreichischen Unternehmer, einen richtigen Striezi, wie er fand. Die zwei Kinder sind groß und in alle Winde verstreut. Er wohnt jetzt in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Marzahn/Hellersdorf mit Balkon und einem Kanarienvogel, der ihm die Abendstunden verkürzte.

Vor zwei Wochen bekam er die Diagnose seines Arztes mitgeteilt. Es folgten noch eine Reihe von Kontrolluntersuchungen, die das Ergebnis bestätigten und alle Zweifel beseitigten. Es war nicht mehr zu leugnen. Er hatte Krebs, und zwar einen von der Sorte mit der schlechten Prognose. Es dauerte eine Weile bis diese Tatsache sich in seinem Innersten Platz schuf und ihn zu Entscheidungen drängte, auf die er sich nicht lange vorbereiten konnte. Der Arzt schlug eine sofortige Therapie mit allen bekannten schweren Nebenwirkungen vor. Seine Lebensdauer würde sich dann statistisch um neun bis zwölf Monate verlängern. Das überzeugte ihn nicht wirklich und er bat um eine Bedenkzeit.

Wie konnte „das letzte Manöver“, so nannte er seinen langsam reifenden Entschluss, umgesetzt werden. Das größte Problem war sein Kollege Manfred, Spitzname Manni. Er wollte ihm auf keinen Fall Gewalt antun, doch freiwillig wird dieser den Wagen nicht verlassen. Er war so ein pflichtbewußter Mitarbeiter. Vielleicht betäuben, aber wie? Und wenn dies gelingen würde, was dann? Ein Fluchtwagen muss bereit stehen und ihn schnell über die Grenze bringen, bevor eine landesweite Fahndung ausgerufen wird. Aber warum dieses letzte Aufbäumen, diese letzte Anstrengung, wozu? Könnte er dieses Leben nicht so auslaufen lassen, sich in die Hände der Ärzte begeben, alles mitmachen und hoffen. Oder ein Ende wie ein Paukenschlag, aufregend, voller Adrenalin und Gefahr, eine letzte Explosion, bevor sich alles wieder in Staub und Asche verwandeln wird. Das Leben war so kurz, eigentlich nur ein Wimpernschlag. In Gedanken ging er zurück in seine Kindheit und Jugend. Er konnte alles vor seinem inneren Auge wiederauferstehen lassen. Die ersten Jahre auf dem Land in Brandenburg, aufgewachsen bei seiner Mutter und zwei älteren Geschwistern. Kinderkrippe, Schule, Ferienlager, FDJ alles ging seinen sozialistischen Gang. An einer Fachhochschule studierte er Maschinenbau und lernte hier seine zukünftige Frau kennen. Ein angesehener Beruf, eine Familie, zwei Kinder, eine Datscha, ein Lada und eine Plattenbauwohnung, das war seine Bilanz nach 38 Jahren DDR, kurz vor der Wende.

So grübelte er vor sich hin ohne eine richtige Entscheidung treffen zu können. Doch die erste Saat war aufgegangen, und der Gedanke liess ihn nicht mehr los. Zu Hause sah er seinen Tablettenschrank durch, der inzwischen gut gefüllt war mit Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln. Eine Möglichkeit seinen Kollegen aus dem Verkehr zu ziehen war ihn kurzfristig zu betäuben. Das könnte gelingen, wenn er den richtigen Zeitpunkt dafür findet. Aber vorher musste die richtige Dosierung herausgefunden werden und das ging nur durch einen Selbstversuch. Er mixte sich einen Cocktail zusammen und trank ihn mit einem kleinen Bier. Die Wirkung liess nicht lange auf sich warten und er wurde müde und träge und schlief auf dem Sofa innerhalb kürzester Zeit ein. Er hatte sich noch die Zeit notiert und konnte nachvollziehen ab wann die Betäubung einsetzte.

Nach fünf Stunden tiefen Schlafs kam er nach dem Aufwachen zu dem Schluss, dass das die richtige Mischung ist. Sein Kollege war ungefähr gleich groß und von ähnlicher Statur. Das könnte gehen. Er hoffte, dass dieser ihm verzeiht, auf jeden Fall würde er ihm Geld zukommen lassen. Die Zeit drängte und er entschloss sich in den nächsten Tagen ein gebrauchtes Auto zu kaufen und die Nummernschilder durch gestohlene zu ersetzen, die mussten allerdings noch entwendet werden. Aber das dürfte kein großes Problem darstellen. Der Wagen muss an einem strategisch günstigen Ort positioniert werden, um auf dem schnellsten Wege das Land zu verlassen. Doch wohin wollte er überhaupt? Das östliche Ausland lag nah bei Berlin. Zwei Stunden mit dem Auto und er war in Polen. Ein bisschen Polnisch und Russisch konnte er noch, das würde ihm sicher helfen. Bis nach Moskau und dann weiter nach China mit dem Flugzeug. Ein Land, dass ihn schon immer fasziniert hat. Oder über Ungarn nach Rumänien ans Schwarze Meer nach Odessa. Der Schwachpunkt bei seinen Plänen war der Grenzübertritt. Gefälschte Papiere konnte er sich nicht besorgen und die globale Vernetzung wird eine unerkannte Einreise kaum möglich machen. Andererseits hat die EU die Grenzkontrollen in einige östliche Anrainerstaaten aufgehoben. Hier muss er sich noch einmal genau informieren und sich verschiedene Alternativen zurechtlegen. Hauptsache der Entschluss war gefassst, alles andere wird sich ergeben, er muss nur einen Plan haben. Die Vorstellung ganz auszubrechen überwältigte ihn und liess die kritischen Stimmen in seinem Inneren verstummen. Momentan fühlte er sich noch stark und unternehmungslustig trotz seiner Krankheit und das galt es zu nutzen. Russland und der ferne Osten waren für ihn Länder weit weg von der westlichen Zivilisation, unendlich groß, dort musste es ein Plätzchen geben, an dem er verschwinden und die letzten Tage in Ruhe und Wohlstand verbringen konnte. Es galt jetzt die nötigen Vorbereitungen in die Wege zu leiten. Eine innere Zufriedenheit machte sich Platz und er hatte das Gefühl noch einmal neu anfangen zu können, dabei war er gerade dabei die letzte Etappe einzuläuten.

Der Gebrauchtwagen war schnell gekauft, ein unscheinbares Modell, das leicht zu reparieren war. Die Nummernschilder waren schon etwas vertrackter. Am Wochenende zog er los und fand in einer verkehrsarmen, schlecht beleuchteten Strasse am Stadtrand, das was er suchte. Sie waren schnell abmontiert und verschwanden in einer großen Plastiktüte. In Gedanken ging er schon einmal die nächste Woche durch. Zu Beginn des Tages wurden Geldkassetten zur Bestückung der Automaten ausgefahren und am Abend die Einnahmen verschiedener großer Baumärkte und der Metro abgeholt. Das waren mehrere 100.000 Euro, die im Laufe des Tages transportiert wurden. Genug für das was er vorhatte.

Den Kanarienvogel, der ihm entgegegenzwitscherte als er durch die Haustür in seine zweckmäßig eingerichetete Wohnung trat, würde seine Nachbarin Frau Stenzig bekommen. Sie hatte sich immer um alles gekümmert, wenn er einmal verreist war, was in den letzten Jahren nicht häufig geschehen ist. Für sie musste er sich auch noch eine Geschichte zurechtlegen.

Ein Glücksgefühl erfüllte ihn, nachdem er seinen Entschluss endgültig gefasst hatte sein bürgerliches Dasein für die letzten Monate aufzugeben. Moralische Bedenken quälten ihn nicht in einer Welt, die seiner Meinung nach nur von materialistischen Werten geprägt ist und an ein Leben nach dem Tod glaubte er nicht. Der Gedanke an Sünde und ein Schmoren im ewigen Höllenfeuer war ihm fremd dank seiner sozialistischen Erziehung. Der Kommunismus war mit Pauken und Trompeten untergegangen und eine neue Zeit brach an, deren Verheissungen sich in seinem Leben nicht bewahrheiten sollten.

Wie eine Walze überrollte das neue System die Menschen und nur wer anpassungsfähig genug war, fand sich zurecht. Seine Generation, die ihr ganzes Leben hinter dem eisernen Vorhang verbracht hatte, tat sich schwer mit den neuen Verhältnissen. Die Anfangseuphorie verflog schnell, bei ihm mit der Kündigung seines Arbeitsplatzes. Die versprochenen blühenden Landschaften blieben aus und der Blick nach vorne ging bald zurück und verklärte das Vergangene. Vergessen die Einschränkungen, die Überwachung, das graue Einerlei, die Mangelwirtschaft, die miese Luft, die furchtbaren Autos, die heruntergekommenen Städte, all das verblasste angesichts der Sicherheit und der Anerkennung, die er zu sozialistischen Zeiten gefunden hatte. Er gehörte zu den Verlierern der Wende und seine Krankheit war der Anlass seinem Leben noch einmal einen völlig neuen Akzent zu geben, ein Schlussakkord, ein Abgesang, ein Zuschlagen bevor sich alle Türen schliessen werden.

Am nächsten Tag fuhr er zusammen mit seinem Kollegen einen großen Baumarkt in Brandenburg an, um die Tageseinnahmen abzuholen. Manni erzählte ihm mal wieder von den Problemen mit seiner Frau und den Kindern, die sich nicht so recht nach seinen Vorstellungen entwickeln wollten. Er hatte dies schon unzählige Mal gehört und entweder geschwiegen oder gute Ratschläge gegeben. In Gedanken war er schon auf der Flucht und sah sich in seinem Gebrauchtwagen über die Grenze fahren in sein neues, kurzes Leben. Mannis Gerede war wie ein Hintergrundrauschen, das ihm ein bisschen die Konzentration raubte, um sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Immer wieder blieben seine Pläne an einem Punkt hängen. Wie konnte er seinen Kollegen dazu bringen, das Betäubungsmittel zu trinken? Wie sollte er das anstellen? Er kann ihm ja nicht einfach die Flasche an den Hals halten und sagen, trink das jetzt, obwohl er das vielleicht gerne getan hätte, um auch einfach mal diesen Redeschwall zu beenden, der von seinem Nachbarn ausging. Seine Nerven durften ihn jetzt nicht im Stich lassen. Sei ruhig, freundlich und überlegt und zeige nicht was in deinem Innersten vorgeht. Alles ist wie immer. Das ist die beste Strategie. Es war wie beim Poker. Bewahre die Ruhe und passe den richtigen Moment ab um alle zu täuschen.

Nach Arbeitsende ging er in eine Buchhandlung und kaufte sich verschiedene Reiseführer und Landkarten um eine Route festzulegen. Im Coffeeshop verspürte er wieder dieses leichte, schmerzhafte Ziehen in der Magenregion, das ihn unmissverständlich an seine Krankheit erinnerte. Schon in seiner Jugend hatte er Probleme mit dem Magen gehabt. Immer wieder wurden Entzündungen diagnostiziert und mit 25 musste er sich Teile seines Magens entfernen lassen. In den letzten Jahren schien sich alles zu beruhigen, bis vor einiger Zeit die typischen Symptome von Übelkeit und Appetitverlust wieder auftraten und ihn sein Weg zum Arzt führte. Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, das war die Diagnose, die alles veränderte.

Die Flasche mit Fassbrause seines Kollegen fand er beim Aufräumen des Wageninnern und jetzt wurde ihm klar, wie er es anstellen würde. Er wird ihm eine präparierte Flasche mit diesem süßen Getränk reichen am besagten Tag, so dass sein Kollege nichts weiter bemerken wird. Zum Glück ist es zur Zeit sehr heiß und Manni war ein ausgesprochener Vieltrinker, der nicht nur ein bisschen an der Flasche nippte, sondern meistens in zwei, drei Schlucken alles hinunterspülte, was ihm gereicht wurde. Das konnte gehen, das musste klappen. Eines fügte sich jetzt zum anderen und schien in Bewegung zu geraten und eine Eigendynamik zu entwickeln. In Gedanken ging er die einzelnen Schritte immer wieder durch. Das Auto war schon da, die Schilder ebenfalls, auch das Betäubungsmittel war in ausreichender Menge vorhanden. Die Vorgehensweise war auch geklärt, so dass er nur noch auf die richtige Tour warten musste. Am Wochenende hatte er sich ausgiebig mit den Landkarten beschäftigt und seine Reise sollte ihn über die Tschechei, Slowakei, Ungarn nach Rumänien bis ans Schwarze Meer führen. In seiner Jugend hatte er an einem Austausch mit sowjetischen Jugendlichen teilgenommen und ihre Reise führte sie nach Odessa an das Schwarze Meer. Hierhin würde er zurückkehren an diese schöne und einladende Küste und seine letzten Tagen verbringen.

Abends wenn er seinen Kanarienvogel fütterte begann er noch einmal alles durchzugehen. Er würde wie gewohnt die Tagestour mit Manni beginnen. Sie werden mit viel Geld die ersten Bankautomaten bestücken, aus kleineren Märkten die Tageseinkünfte abholen und zum Schluss die großen Baumärkte am Stadtrand und in Brandenburg abfahren. Das war besonders wichtig, da er ja auf freier Strecke stoppen wird, in das Fluchtauto steigen, das er unbemerkt auf einem Waldweg oder einem einsamen Parkplatz vorher abgestellt hatte. Hier würde er auch seinen Kollegen und den Wagen zurücklassen. Wie lange wird es dauern bis die Zentrale seinen Diebstahl bemerkt? Sie waren über GPS ständig verbunden und eine Unregelmäßigkeit wird sehr schnell registriert werden. Vielleicht hat er zwei, drei Stunden Zeit bevor es schwierig wird. Das müsste reichen um über die Grenze zu gelangen.

Sonntag stieg er in seinen Gebrauchtwagen und fuhr die kommende Strecke noch einmal ab. In den letzten Tagen war ihm ein kleines Wäldchen aufgefallen. Ein unscheinbarer Weg führte hinein und endete an einer Gabelung, die durch einen Schlagbaum ein weiteres Vorkommen verhinderte. Einige Meter ging er zu Fuß und überzeugte sich von der Abgeschiedenheit dieses Ortes. Hier ist der perfekte Platz um das Fluchtauto zu verstecken. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und sein Blick ging über die Felder und die flache Weite dieser Landschaft. Hier ist absolut nichts los und so wird es auch in der kommenden Woche sein, der Woche, die sein Leben verändern wird und zwar zum Positiven. Davon war er felsenfest überzeugt. Ein Scheitern war nicht vorgesehen, so dass seine ganze Energie unbelastet in die jetzt folgenden Ereignisse hineinfliessen konnte. Denn er wusste, wenn er ein Versagen miteinschliesen würde, führt das nur zu Zweifeln, Grübeleien und Ängsten. Es gab keinen Plan B mehr. Das war jetzt der Endspurt und auf dieser kurzen Strecke wollte er noch einmal alles geben an Energie, Entschlusskraft, Fantasie, Überlebenswillen. Der Resignation einen Haken schlagen, so tun als ob es noch einmal einen neuen Anfang gibt. Alles Vergessen und Aufgehen in einem Geschehen,dass ihm vollste Konzentration abverlangen wird. Er wird nur noch für den Augenblick leben. Die kommende Flucht wird auch eine vor seiner Krankheit sein, den Behandlungen, die er im Grunde genommen nicht will, vor seiner Einsamkeit, die ihn auch jetzt nicht verlässt, aber es wird eine andere sein, keine, die ihn in einem weissgetünchten Behandlungszimmer überfällt mit Diagnosen und Krankheitsverläufen, die über seinen Kopf hinweggesprochen werden mit Ausdrücken, die kein Mensch versteht. Er fühlte sich entschlossen und tatkräftig und er wollte diesen Zustand beibehalten gegen alle inneren Einwände.

Er rumpelte mit dem Wagen zurück auf die Strasse und bog in die Landstrasse ein, die ihn wieder nach Hause führen sollte. Übernächste Woche war es soweit, bis dahin hatte er noch jede Menge zu tun. Sachen packen (logisch auch nach einem Raub musste mal die Unterwäsche gewechselt werden), das Auto abstellen, mit dem Fahrrad zurückfahren bis zur nächsten Bahnstation, Werkzeug zum Wechseln eines Reifens mitnehmen (wie lächerlich wäre das denn wegen eines Platten geschnappt zu werden), ausreichende Verpflegung, ein Zelt um in den Weiten des Ostens eine oder mehrere Nächte im Freien zu verbringen, nicht zu vergessen die geliebte Angelausrüstung. Seine Laune wurde immer besser. In Gedanken sah er sich seine letzten Tage an einem klaren, rauschenden Fluss verbringend, die Angel ins Wasser haltend um Forellen zu fangen. Abends würde er am Kaminfeuer eines Hotels sitzen, die Beine ausstrecken und einen wirklich guten Wein trinken. Das Personal wird ihm freundlich alle Wünsche erfüllen und ihm ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Die Medikamente durfte er natürlich nicht vergessen, die ganzen Schmerzmittel und Barbiturate, die für ein schmerzfreies Ende gehortet wurden. Sein Kanarienvogel war bei Frau Stenzig, seiner Nachbarin, gut aufgehoben.

Gutgelaunt startete er in die kommende Woche. Er setzte alle Vorbereitungen in die Tat um und war sich sicher das einzig Richtige zu tun. Der entscheidende Tag rückte näher. Sein Dienstplan sah am Mittwoch die richtige Route vor, die ihn nach Brandenburg führen wird. Jetzt muss nur noch sein Kollege „mitmachen“, dass war erklärtermassen der Schwachpunkt in seinem Plan. Manni muss das Getränk zu sich nehmen ansonsten würden sich seine Zukunftspläne in Luft auflösen. Am Tag zuvor füllte er in eine Flasche Fassbrause die aufgelösten Medikamente. Diese süße Flüssigkeit übertönte den bitteren Geschmack und die dunkle Farbe veränderte sich nicht durch die Beimischung. Gut gekühlt wird er es mitnehmen und seinem Kollegen reichen. Trink, Manni, trink, wie ein Mantra wiederholte er diese Worte in Gedanken, so als könnte er kraft seiner Vorstellung die kommenden Ereignisse beeinflussen.

Es war soweit, der besagte Tag war angebrochen und es ging früh los. Es wird heiß werden und für den Nachmittag waren Gewitter angesagt. Manni war heute nicht zum Reden aufgelegt und nach einer kurzen Begrüßung ging es los. Der Wagen fuhr vom Firmengelände, diese fahrende Festung, bestückt mit dem bedruckten Papier, nach dem alle trachteten. Das Spiel hatte begonnen und am Ende des Tages wird er wissen, ob er zu den Gewinnern oder Verlierern zählen wird.

Zuerst wurden die Geldinstitute angefahren danach folgten einige kleinere Märkte bis sie ihre Route zum letzten Anlaufpunkt führte, diesen neuen Baumarkt am Stadtrand von Berlin, dieses kastenförmige Ungetüm, das sich schon von weitem aus der flachen Landschaft erhebt. Ein großes Schild wies den Weg. Sie fuhren auf den Parkplatz und gingen durch einen geschützten Eingang und holten die großen Geldkassetten ab und luden sie in den Wagen ein. Alles lief wie immer. Auf der Rückfahrt bot er seinem Kollegen die Brause an und er spürte wie der Schweiss seinen Rücken herunterlief. Seine Hände zitterten leicht, ein Glück, dass es so unerträglich heiß war. Sie fuhren in einem klimatisierten Wagen, trotzdem war das Wetter anstrengend und sein Kollege hatte Durst. Manni bedankte sich und trank alles aus bis auf den letzten Tropfen. Er konnte es kaum glauben. Nach einiger Zeit beklagte sich sein Mitfahrer über Übelkeit und Schwindel. Er wurde immer stiller und ganz blass.

„Was ist Manni, geht es dir nicht gut, was ist los.“ „Keine Ahnung, mir ist total schlecht. Ich glaub, ich muss kotzen“. Gesagt, getan. So ein Mist, die ganze Sauce im Auto und ein sich krümmender Manni. Es war nicht mehr weit bis zu dem Waldgrundstück mit dem abgestellten Wagen. Solange muss es gehen. Er bog in den Weg ein und sein Kollege bemerkte die Änderung und fragte was er denn da mache. „Manni ich werde hier anhalten und du wirst jetzt Ruhe geben und hier bleiben, hast du verstanden“. Manni war kaum noch ansprechbar immer wieder kam schwallartig die Brause raus. Er bremste den Wagen und half seinem Kollegen aus dem Auto. Der setzte sich auf einen Baumstumpf und so langsam dämmerte ihm was hier geschah. „Bist du verrückt geworden oder was? Das kannst du nicht machen, die kriegen dich. Du kannst nicht einfach das Geld nehmen und verschwinden“. „Doch Manni das kann ich und du wirst mich nicht daran hindern. Du bleibst hier und machst nichts weiter, verstanden.“. „Das ist doch Wahnsinn, wo willst du hin? In zwei Stunden sind alle hinter dir her, bist du komplett durchgedreht?“ „Manni, halt die Klappe. Es gibt kein zurück mehr für mich.“

Er nahm die Kassetten und ging zu seinem Wagen. Manni sass auf einem Baumstamm und starrte ihm hinterher. Verdammt das ist in die Hose gegangen, aber auch egal. Er wird gleich in der Zentrale anrufen und dann werden alle hinter ihm her sein. Er ging zum Firmenwagen zurück und zerstörte mit einem Stein die Funkanlage und nahm seinem Kollegen das Handy ab. Er leistete keinen Widerstand. Hoffentlich passiert dem nichts. Warum verträgt der diese Tabletten nicht, das war nicht zu begreifen. Los jetzt los, nicht mehr lange nachdenken, setz dich in den Wagen und fahr. In zwei Stunden bist du an der tschechischen Grenze und dann versteckst du dich für ein paar Tage in den Wäldern und suchst dir einen anderen Fluchtwagen.

Die Selbstgespräche beruhigten ihn und nachdem er im Auto sass und den Wagen und Manni hinter sich liess und auf die Strasse einbog, ging es ihm besser. Jetzt war es passiert, es gab kein Zurück mehr nur noch Vorwärts. Er trat auf das Gaspedal und fuhr auf die Autobahn. Sein Navi zeigte ihm den Weg zum Grenzübertritt nach Tschechien. Sein weiterer Plan war es in einem der größeren Waldgebiete in der Tschechei für kurze Zeit unterzutauchen. Er kannte die sächsische Schweiz und die angrenzenden Gebiete von vielen früheren Wanderungen und wusste um einige einsame Plätze. Hier wollte er kurz verschnaufen bevor es weiterging in eine große Metropole, voraussichtlich Prag, um einen neuen Wagen zu kaufen. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen Manni, aber die Medikamentendosis war nicht tödlich und nachdem er kaum etwas bei sich behalten hatte, bestand eigentlich keine gesundheitliche Gefahr.

Er öffnete das Fenster und der Fahrtwind trocknete sein schweißdurchtränktes Hemd. Er nahm große Schlucke aus der Wasserflasche und schaute angestrengt auf die Fahrbahn. Die schweren Geldkassetten waren im Kofferraum deponiert. Er musste seine Kleidung wechseln und die Uniform ausziehen bevor die Grenze kam. Der Wagen lief gut und mit jedem Kilometer, den er zurücklegte spürte er wie die Anspannung nachliess. Es war ein schöner heisser Sommertag, die ersten Felder wurden abgeerntet, Staub wirbelte auf und der Geruch von Heu und Getreide lag in der Luft. Große Wolkenfelder ballten sich am Horizont zusammen und kündigten die ersten schweren Hitzegewitter an. Ihm war merkwürdigerweise ganz leicht zu mute und fast genoss er die Fahrt durch die schöne Landschaft.

Die ersten Ausläufer der sächsischen Schweiz kündigten sich an. In Sebnitz wird er über die Grenze fahren wenn alles gut geht. Aus dem Radio kamen noch keine beunruhigenden Nachrichten, es war allerdings keine Stunde seit der Tat vergangen. Am nächsten Abzweig steuerte er den Wagen in ein kleines Wäldchen und wechselte seine Sachen. Die Geldkassetten versteckte er im hintersten Teil des Kofferraums und bedeckte sie mit einer schweren Decke. Wie soll er sie öffnen, für diese Gedanken blieb noch genug Zeit. Wieder ging es weiter, eine Sonnenbrille verdeckte jetzt seine Augen und gab ihm ein Gefühl von Abgedunkeltsein, einer Unerkennbarkeit, für jemanden, der sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hat. Geld geraubt, das ihm nicht gehört. Dabei könnte doch alles ganz einfach sein. Diese Welt ist reich, jeder kann eigentlich genug vom Kuchen abhaben, aber so läuft es nun mal nicht. Die Gesetze sind unerbittlich.

Als Junge hatte er immer davon geträumt Astronaut zu werden und die Weiten des Weltraums zu erobern, ins Grenzenlose vorzudringen, seine Fahrt brachte diese Kindheitsträume wieder zum Vorschein. Hatte seine Reise nicht etwas davon, er war jetzt ganz auf sich gestellt und hatte die geregelte Umlaufbahn verlassen und schoss nun wie ein Irrlicht durch unbekannten Raum. Was jetzt kommt war nicht planbar und das was ganz am Ende der Strecke auf ihn wartete, davon hatte noch niemand berichtet.

Mit jedem Kilometer näherte er sich der Grenze. Es war nicht viel Verkehr auf der Strasse und er hoffte die Fahrt ins Nachbarland schnell hinter sich zu bringen. Die Strasse führte ihn durch Sebnitz, dieser ehemaligen Kunstblumenmetropole der DDR, zum Übergang. Die Grenzerhäuschen waren geschlossen und nach ein paar Metern hatte er es tatsächlich geschafft, ein großes Schild begrüßte alle Reisenden und teilte ihnen mit, dass sie jetzt in der Tschecheslowakei sind. Wunderbares Europa, das ging so leicht und unerkannt, dass er es gar nicht glauben konnte. Das Gefühl der Erleichterung konnte sich noch nicht einstellen, da sein Mißtrauen geweckt war und er eigentlich in seinem Innersten davon überzeugt war, dass seine Reise hier ein vorzeitiges Ende findet. Irgendwo werden sie doch auf ihn warten und verhaften. Aber da war niemand. Das Radio übertrug tschechische Sendungen, er startete den Suchlauf und nach kurzer Zeit fand sich ein deutsches Programm.

Der Verkehr wurde immer weniger und der Weg führte ihn zu einem entlegenen Parkplatz in der Nähe eines kleinen stillen Tals, das er aus früheren Ausflügen in diese Region kannte. Der Wagen stoppte und es wurde ganz still. Keine Menschen Seele weit und breit. Er streckte sich nach der langen Fahrt und spürte auf einmal seine Erschöpfung und einsetzende Müdigkeit. Heute Nacht wird er hier rasten, die Hütte ist nicht weit entfernt und in Erwartung keiner weiteren Störung stieg er aus dem Auto, holte das Nötigste aus dem Kofferraum. Das Geld liess er zurück, erst einmal musste er sich von der Einsamkeit seines ersten Rastplatzes überzeugen, bevor er sie holen würde.

Nach einem kurzen Fußmarsch war er am Ziel, die Hütte war verlassen und in einem schlechten Zustand. Eigentlich nur ein besserer Unterstand genügte sie ihm doch für seine Zwecke. Eine Nacht das müsste gehen. Die Dämmerung setzte ein und er ging zum Wagen zurück um die restlichen Utensilien zu holen und die Kassetten, natürlich. Er war sich unschlüssig, ob er sie hier öffnen sollte oder erst in einem sicheren Versteck. Aber wozu die Eile, nichts überhasten, für heute war genug passiert und Ausruhen erschien ihm jetzt wichtiger als ein überstürztes Öffnen der Koffer. Die Abgeschiedenheit war beruhigend und gab ihm ein Gefühl des Friedens und der Ruhe, so als könnte dieser Ort für kurze Zeit die Geschehnisse vergessen machen. Wie im Auge eines Orkans herrschte hier absolute Stille, und in seiner Fantasie sah er seine Verfolger, die Massnahmen treffen, vor denen er auch in diesem fremden Land nicht gefeit war. Strassensperren, Kontrollen, Fahndungsfotos, die Veröffentlichung seines Namens, seines Gesichts, er würde jetzt ein Gejagter sein, der immer auf der Hut sein muss. Seine weiteren Pläne sahen die Beschaffung eines anderen Autos, neue Papiere, und eine leichte Veränderung seines Äusseren vor. All dies liess sich nur in einer Großstadt verwirklichen. Er musste nach Prag.
Während all dieser Überlegungen bereitete er sich eine Tütenmahlzeit zu und legte die Isomatte und den Schlafsack auf den harten Boden. Das wird bald vorbei sein, mit diesem Gedanken fiel er in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Ein lautes Krachen und prasselnder Regen weckten ihn bei völliger Dunkelheit auf. Er spürte Nässe auf seinem Gesicht und es dauerte einen Augenblick bis er alles wieder realisierte. Die Hütte, das Geld, die Flucht und seine erste Station ausserhalb seiner gewohnten Welt. Die angestaute Hitze des Vortages entlud sich in einem gewaltigen Gewitter, das wahre Sturzbäche aus seinen Wolken entliess und aus der Schutzhütte einen triefenden nassen ungemütlichen Unterstand machte. Seine Taschenlampe erhellte diese Tristesse und gezwungenermassen musste er seine Nachtruhe unterbrechen und aufstehen. Jeder Knochen, jedes Gelenk tat ihm weh und als erstes schaute er nach den Koffern. Sie standen unversehrt in einer Ecke und leuchteten silbrig im Schein der Taschenlampe. Es war drei Uhr morgens und bis zur Dämmerung wird noch eine Stunde vergehen. Als erstes sammelte er all seine Habseligkeiten zusammen, um sie vor der eindringenden Nässe zu schützen. Ein heisser Kaffee und Frühstück mit Speck und Eiern konnten leider nicht bestellt werden, so begnügte er sich mit einem Schluck Wasser und trockenem Gebäck. Wenn es hell genug ist werden die Koffer noch hier an Ort und Stelle geöffnet, es hatte keinen Sinn diese noch weiter mit sich zu schleppen. Das Geld wird in einen großen Trekkingrucksack gesteckt und dann nichts wie weg von hier. Das Werkzeug war schon ausgepackt und jetzt musste nur noch dieser sintflutartige Regen nachlassen. Erwartungsvoll betrachtete er die Behälter, die alles verändert hatten. Was würde er mit seinem Reichtum anfangen? Für all diese Gedankenspiele war noch genug Zeit. Mit dem ersten Tageslicht machte er sich an den Geldkoffern zu schaffen. Leichte Aluminiumbehälter, die ihren Widerstand bald aufgaben und ihren Inhalt freigaben. Da lagen die Scheine gut gebündelt und sortiert und in ausreichender Menge. Eigentlich nur Papier, verrückte Welt, die sich als Lohn für alle Mühen, diese Symbolik erdacht hat. Die Koffer wurden unter einem Laubberg vergraben, die Spuren verwischt und zurück ging es durch den aufgeweichten Waldboden zum Wagen. Der kleine Bach, der durch das enge Tal floss hatte sich über Nacht in ein reissendes Gewässer verwandelt und Schlamm und Geröll mit sich gerissen. Das Gefährt stand unbeschadet unter einem Baum. Ein Glück, es war nichts geschehen. Er öffnete die Tür und verstaute alles im Wageninnern. Schnell setzte er sich hinter das Steuer, startete und fuhr mit einem kleinen Ruck an. Dieses Auto war zuverlässig wie eine alte Uhr, die nur immer wieder aufgezogen werden musste. Er liebte dieses Geräusch, wenn sich der Motor warm gelaufen hatte und wie ein gutes Laufwerk schnurrte.

Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolkendecke und warfen ihr helles blendendes Licht auf die Strasse. Alles glänzte in leuchtenden Farben, die Luft war erfüllt von dampfender, verdunstender Nässe und ein schöner Sommertag kündigte sich an.

Leichtigkeit erfüllte seinen Körper und seinen Geist wie seit langem nicht mehr. Alles schien möglich, da alles vergessen war. Nur noch nach vorne schauen, für den Augenblick leben und geschmeidig sein, wie das Wasser, das die Windschutzscheibe hinunterlief und sich immer wieder neue Wege bahnte. Seine weiteren Pläne sahen als nächsten Anlaufpunkt Prag vor. Hier wollte er in der Anonymität einer großen Stadt untertauchen und sich eine neue Identität erfinden. Es war nicht weit und er fuhr auf die Autobahn und reihte sich in den Verkehrsfluss ein, der ihn aufnehmen und in sein neues kurzes Leben führen wird, der Sonne, dem Licht entgegen!

 

Hallo mariakommwieder

Willkommen hie im Forum.

Ich habe Deinen Text bis zum Zeitpunkt des Raubs vollständig gelesen, danach nur noch überfliegend. Der Grund hierfür war, dass es in der dargelegten Form einem Rapport viel näher steht, als einer Kurzgeschichte. Fakten um Fakten reihen sich aneinander, wie wenn ein Justizsekretär die ausführliche Schilderung eines Delinquenten für die Akten festhält. Ein Gericht kann sich anhand einer solchen Abhandlung durchaus ein umfassendes Bild über die Motivation des Täters machen.
Das Merkmal einer Kurzgeschichte ist in der Regel jedoch, dass diese einen Handlungsverlauf komprimiert wiedergibt, ohne grosses Vorgeplänkel und unnötige Abschweifungen. Ganz ohne Beiwerk geht es natürlich nicht, doch sollte da stark abgewogen werden, was für den Rahmen unerlässlich ist und inwiefern es der Sache dient. Eine Kurzgeschichte kann sich auf nur einer halben Seite darstellen, was eine grosse Herausforderung an die sprachliche Leistung und den Inhalt stellt, oder auch auf zwanzig und mehr Seiten, doch muss sie stets auf das Notwendige gebündelt sein.

Beim Lesen der ersten Sätze stutzte ich bereits, da der Eröffnung einer Geschichte grosse Bedeutung zukommt. Als Leser möchte ich unmittelbar ins Geschehen gelangen, nicht mit Erläuterungen dahingeführt werden. Die nachfolgende Entwicklung zieht sich dann zähflüssig dahin, auch wenn es ein Roman wäre, würde es mir da an Lebendigkeit fehlen. Der biographische Abriss ist hier ein Zuviel, wenn es in zwei drei Sätzen erzählt würde, da es zur Charakterisierung des Protagonisten beiträgt, wäre es ausreichend. Das Zögern und Planen, wie er den Raub und die anschliessende Flucht durchführen will, erschöpft einem als Leser. Ich finde es zwar respektabel, wie Du die Entwicklung des Protagonisten säuberlich aufgliederst, fast jeden Schritt minutiös darlegst. Dahinter steckt sehr viel Arbeit. Doch einen solchen Stoff auf eine Kurzgeschichte herab zu brechen erfordert dann die Leistung, es zielgerichtet und knapp zu fassen und dennoch flüssig lesbar zu gestalten. Nicht jede Idee eignet sich für eine Kurzgeschichte, manche sind zu Komplex um sie in die Kürze einzubinden. Beim vorliegenden Thema sehe ich dieses Problem jedoch nicht, es liesse sich auf das Wesentliche fokussieren.

Was mich letztlich auch nicht befriedigte, war der Ausgang der Erzählung. Es verläuft quasi im Sande, kein Ereignis, das verblüffend auftritt. In einer Geschichte bedarf es einer Ausgangssituation, die eine Zielorientierung mit sich bringt, welche einen Wandel einfordert, der sich in der Lösung dann als wesentlich ausweisen muss. Oder mit andern Worten, das Ende verkehrt sich in einer Form vom Anfang.
Bei der Unbeholfenheit Deines Protagonisten dachte ich mir, er würde ohnehin nicht weit kommen. Also könnte die Lösung dahingehend sein, dass es seine Handlung insgesamt desavouiert. Dies wäre z. B. gegeben, wenn sich in Haft dann herausstellt, dass er eine Fehldiagnose erhalten hat, er gar nicht Sterbenskrank ist. So in dieser Richtung bekäme es eine überraschende Note.

Wenn Dir daran liegt, aus dem vorliegenden Text eine packende Kurzgeschichte zu machen, müsstest Du meines Erachtens erst mal radikal streichen, was nicht unbedingt notwendig ist. Es könnte dann damit eröffnen, dass er in der Planung bereits fortgeschritten ist. Die Motivation zu seiner Tat würde da besser erst langsam sich aufdecken, darauf hinweisend, dass er nicht einfach nur aus Habgier handelt.

Mein Kommentar als Leser Deiner Geschichte ist ziemlich kritisch ausgefallen, was Dich jedoch nicht entmutigen sollte. Ich erkenne darin durchaus gute Anteile, doch um diese in literarisch unterhaltende Form zu führen, braucht es noch sorgfältiger Nachbearbeitung. Eine gute Übung sich dem Schreiben von Kurzgeschichten anzunähern ist auch, andere Geschichten zu lesen und zu kommentieren. Bei der Auseinandersetzung mit dem Stoff anderer Autoren fällt es einem i. d. R. einfacher, Stärken und Schwächen zu orten, und so auch Rückschlüsse für seine eigene Schreibweise zu gewinnen.

In diesem Sinne wünsche ich Dir noch viel Glück, falls Du Dich an eine Überarbeitung wagst.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo, mariakommwieder ,

herzlich willkommen!


Ein ziemlich langer Text zum Einstand, aber nach wenigen Zeilen vermute ich bereits, dass es nicht deine erste Geschichte überhaupt ist. Aufatmen war angesagt.

Der erste Absatz umreißt Hans’ berufliche Situation und deutet auf eine bevorstehende Wende in seinem Leben hin. Das ist für den Anfang einer Geschichte schon mal interessant genug, um weiterzulesen.

Die folgenden zwei Absätze beschäftigen sich mit seiner Lebenssituation und vermitteln so etwas wie ein Motiv für seine Tat. Er hat nix mehr zu verlieren, weil er schon alles verloren hatte – aus seiner Sicht ohne Eigenschuld, selbstverständlich – und will sich nun das Recht nehmen, seine letzten Monate ausgiebig mit fremdem Geld zu genießen.

Zum Erzählstil lässt sich bisher sagen, dass er ziemlich erzählerlastig ist. Der Erzähler kennt den Protagonisten gut, ohne Zweifel, doch er hält Abstand, schreibt berichtartig über Hans. Hans und sein Leben scheinen für den Erzähler fast ein Sachverhalt zu sein.
„Berlin war in den folgenden Jahren der neue Lebensmittelpunkt und die Umschulung zur Sicherheitsfachkraft brachte ihn in Lohn und Brot. Zu DDR Zeiten war er ein engagierter Sozialist, der die Auflösung der politischen Verhältnisse mit großem Unbehagen verfolgte.“
Klingt für mich nach reiner Information ohne Emotion. Nun, gut, ist halt eine narrative Zusammenfassung. Vielleicht kommt der Erzähler noch der Figur und der Handlung näher. Für die Spannung wäre es angebracht. Mal schauen.

Eine Gelegenheit, der Figur etwas näher auf den Pelz zu rücken, wäre hier:
Zu Hause sah er seinen Tablettenschrank durch, der inzwischen gut gefüllt war mit Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln.
„zu Hause sah er …“ Das ist wie vom Gipfel des Mont Everest aus betrachtet. Wo soll er denn sonst seinen Schrank durchsuchen, als in seinem Zuhause? Da hätte sich der Erzähler ruhig in das Zuhause hineinbequemen können und diesen Vorgang und das Grübeln über ein geeignetes Betäubungsmittel in eine kleine Szene auflösen können. Wäre mal zum bisherigen Stil eine willkommene Abwechslung.

Was ich gut finde, sind die Überlegungen, die Hans zu dem angedachten Verbrechen anstellt. Da merkt man, der er nicht zum Schurken, sondern zum linientreuen Sozialisten erzogen wurde. Und dieser sich öffnende Zwiespalt könnte im Text noch deutlicher zum Tragen kommen. Innere Zerrissenheit einer Figur ist immer interessant und der Kampf zwischen beiden Seiten kann sehr spannend und mitreißend sein. So, wie er bisher im Text dargestellt ist, fehlt ihm die Leidenschaft. Beispiel:
Könnte er dieses Leben nicht so auslaufen lassen, sich in die Hände der Ärzte begeben, alles mitmachen und hoffen. Oder ein Ende wie ein Paukenschlag, aufregend, voller Adrenalin und Gefahr, eine letzte Explosion, bevor sich alles wieder in Staub und Asche verwandeln wird.
[…]
So grübelte er vor sich hin ohne eine richtige Entscheidung treffen zu können. Doch die erste Saat war aufgegangen, und der Gedanke liess ihn nicht mehr los.

„Die Saat ist aufgegangen.“ Das plätschert so mit einer Phrase aus. Schade.

Dann folgt wieder die Planung des Verbrechens. Wie gesagt, find ich gut. Aber es fehlen die direkten Szenen dazwischen. Zum Beispiel, wie er das Nummernschild klaut, da wird wieder eine Gelegenheit zum direkten Hinschauen verpasst. Eine kleine Szene, wie er sich auf der nächtlichen Straße ängstlich umschaut, auf jedes Geräusch achtet, kommt da jetzt ein Wagen oder ein Spaziergänger mit seinem Hund? Zittern seine Hände, während er das Nummernschild abschraubt? Was, wenn er hier schon scheitert? Was werden seine Kollegen denken, wenn er als Nummernschild-Dieb verurteilt wird? Hat er nicht solche Befürchtungen?

Was hier steht, ist wahnsinnig interessant und gut durchdacht. Da bleibt nur wenig aus:
Ein Glücksgefühl erfüllte ihn, nachdem er seinen Entschluss endgültig gefasst hatte sein bürgerliches Dasein für die letzten Monate aufzugeben. Moralische Bedenken quälten ihn nicht in einer Welt, die seiner Meinung nach nur von materialistischen Werten geprägt ist und an ein Leben nach dem Tod glaubte er nicht. Der Gedanke an Sünde und ein Schmoren im ewigen Höllenfeuer war ihm fremd dank seiner sozialistischen Erziehung. Der Kommunismus war mit Pauken und Trompeten untergegangen und eine neue Zeit brach an, deren Verheissungen sich in seinem Leben nicht bewahrheiten sollten.
Aber das liest sich fast wie eine Fallstudie, nicht wie eine Spannungsgeschichte.

Ich meine, im Text die Absicht des Erzählers zu erkennen, die Figur dem Leser sympathisch zu machen, sie so hervorzubringen, dass der Leser bei diesem Krimi auf der Seite des Täters steht. Das find ich gut gedacht, aber dazu braucht es mehr Innensicht. Auf der Verstandesebene kann ich erkennen, was Hans umtreibt, aber emotional kann ich die Figur nicht erfassen. Mir ist, trotz aller Informationen, sein Schicksal egal. Ich könnte hier sogar abbrechen und zur nächsten Geschichte klicken.
Die einzige Spannung rührt im Moment daher, dass ich wissen will, wie es ausgeht. Einfach nur aus Neugierde. Und dieses Gefühl ist mir zu wenig. Ich will mitleiden, mit der Figur, will in ihre ganz speziellen Ängste und Träume eintauchen, mich darin verlieren und einwenig zum Hans mutieren, mit ihm eins sein. Nur dieser Weg wird mir vom Erzähler nicht geöffnet.
Was, zum Beispiel, findet Hans an China faszinierend? Den Kommunismus oder den Jangtsekiang? Und warum?

Dann geht es weiter mit:
Wie eine Walze überrollte das neue System die Menschen und nur wer anpassungsfähig genug war, fand sich zurecht. Seine Generation, die ihr ganzes Leben hinter dem eisernen Vorhang verbracht hatte, tat sich schwer mit den neuen Verhältnissen.
Das sind keine neuen Informationen. Stand schon zuvor sinngemäß im Text. Da kann einiges gekürzt werden. Und mich interessieren hier nicht „die Menschen“, sondern, wenn überhaupt, nur ein Mensch, und zwar Hans. Zeig es also aus seiner Sicht, nicht aus der Sicht irgendwelcher Menschen und des Erzählers.

Okay, da kommt der Erzähler seinem Helden einwenig näher:
Wie konnte er seinen Kollegen dazu bringen, das Betäubungsmittel zu trinken? Wie sollte er das anstellen? Er kann ihm ja nicht einfach die Flasche an den Hals halten und sagen, trink das jetzt, obwohl er das vielleicht gerne getan hätte, um auch einfach mal diesen Redeschwall zu beenden, der von seinem Nachbarn ausging. Seine Nerven durften ihn jetzt nicht im Stich lassen. Sei ruhig, freundlich und überlegt und zeige nicht was in deinem Innersten vorgeht. Alles ist wie immer. Das ist die beste Strategie. Es war wie beim Poker. Bewahre die Ruhe und passe den richtigen Moment ab um alle zu täuschen.
Dieses „obwohl er das vielleicht gerne getan hätte, um auch einfach mal diesen Redeschwall zu beenden,“ find ich sogar recht humorig. Das ist mal eine neue Seite oder richtiger gesagt, die erste Seite von Hans, die mir direkt, also aus ihm heraus, gezeigt wird. Der Mann hat also Humor, das wusste ich bisher gar nicht. Und schon ist er mir einwenig sympathisch geworden.
Nebenbei, auf die zahlreichen Kommafehler, die sich im gesamten Text verteilen, gehe ich nicht im Einzelnen ein.

Das ist okay:
Im Coffeeshop verspürte er wieder dieses leichte, schmerzhafte Ziehen in der Magenregion, das ihn unmissverständlich an seine Krankheit erinnerte.
Aber diese Info ist überflüssig:
Schon in seiner Jugend hatte er Probleme mit dem Magen gehabt. Immer wieder wurden Entzündungen diagnostiziert und mit 25 musste er sich Teile seines Magens entfernen lassen. In den letzten Jahren schien sich alles zu beruhigen, bis vor einiger Zeit die typischen Symptome von Übelkeit und Appetitverlust wieder auftraten und ihn sein Weg zum Arzt führte. Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, das war die Diagnose, die alles veränderte.
Magenprobleme in der Jugendzeit tragen nix zur Geschichte bei und die Diagnose „Krebs“ ist mir bereits bekannt.
Es kann einiges gestrichen werden, um Raum für den „wahren“ Hans zu schaffen.

Die Flasche mit Fassbrause seines Kollegen fand er beim Aufräumen des Wageninnern und jetzt wurde ihm klar, wie er es anstellen würde. Er wird ihm eine präparierte Flasche mit diesem süßen Getränk reichen am besagten Tag, so dass sein Kollege nichts weiter bemerken wird. Zum Glück ist es zur Zeit sehr heiß und Manni war ein ausgesprochener Vieltrinker, der nicht nur ein bisschen an der Flasche nippte, sondern meistens in zwei, drei Schlucken alles hinunterspülte, was ihm gereicht wurde. Das konnte gehen, das musste klappen.
Hans muss erst eine Flasche finden, um sich daran zu erinnern, dass Manni während der Arbeit viel trinkt?

So, am Ende ist ja alles glatt gegangen, lief wie geschmiert, der Coup! Gratulation an Hans, aber eine Rüge an den Erzähler! Um der lieben Spannung Willen, hätte es nicht so überperfekt ablaufen dürfen. Ein kleiner Ansatz zum richtigen Weg hin zum gelobten Spannungsbogen findet sich immerhin; Es ist die Szene, wo Manni, entgegen dem Plan, nicht einschläft.
Ach … und ist das Sicherheitspersonal nicht bewaffnet? Klar sind sie das! Da liegt noch Spannungspotential ungenutzt am Wegesrand!

Abschließend kann ich sagen, da steckt viel Arbeit und viele tolle Gedanken drin. Manch einer sieht das anders, ich meine jedoch, damit sind die wichtigsten Vorraussetzungen zu guten Storys vorhanden: Der Wille, etwas zu Ende zu bringen und eine ordentliche Portion Vorstellungskraft. Nur das Umsetzen der Ideen in eine Lesergerechte Form fehlt hier über weite Strecken. Aber das bringt die Übung mit sich. Das ist also kein unumgängliches Problem. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weiterkommen.


In dem Sinne: Lieben Gruß und viel Erfolg!

 

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