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Heiligabend in Zaragoza

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10.09.2014
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Heiligabend in Zaragoza

Hier in Spaniens Norden ist die Sommerzeit ein Fest. Beschwingt und elegant ziehen diese paradiesischen Monate vom zeitigen Frühjahr Mitte März bis tief hinein in den Oktober übers Land. Wenn in Andalusien alles glüht und ächzt und es in Galizien nicht aufhören will zu regnen, dann genießen die Einwohner Zaragozas die klimatischen Vorzüge des in ihren Köpfen immer noch bestehenden Königreiches Aragon.
Zur Zeit allerdings ist der herrliche Frühling oder gar der Sommer noch in weiter Ferne, denn es herrscht ein gruseliges Wetter und es könnte der dritte Februar oder der achte November sein. Aber heute ist der vierundzwanzigste Dezember.

Wir tun gut daran, die Fensterläden zu schließen, die Rollos herunterzulassen und die Gardinen zuzuziehen, um ganz sicher zu sein, dass uns nun dieser schauderhafte Anblick mit Nebelballen, Regenböen und viel Grau erspart bleibt.
Immerhin wirkt jetzt der Kerzenschein besonders anheimelnd - warm fürs Auge und wärmend fürs Herz. Die Weihnachtsdekoration meiner Frau – eine Mischung aus bieder und pfiffig – ist wieder einmal gelungen. Eine Gran Reserva aus der Rioja ist bereits geöffnet. Es ist eine Magnum. Das scheint viel, aber es folgen ja noch zwei weitere Feiertage.
Diesen etwas sentimentalen Abend müssen wir leider allein verbringen, denn unsere Kinder leben auf der südlichen Halbkugel und können uns aus verschiedenen Gründen erst zu Sylvester besuchen.
Natürlich haben wir Freunde, richtig gute und sympathische Freunde, doch die haben alle Familie und sind am sensibelsten Abend des Jahres eingebunden in den üblichen Weihnachtsablauf. So also spielen wir einige Runden Räuberrommé und ich beginne bereits, wegen immer schlechter werdender Karten die gute Laune zu verlieren. Andrerseits lohnt es sich weiterzuspielen, denn traditionell begleitet ein guter Tee dieses launische Spiel – in meinem Fall ein Tee mit Rum.
Das Telefon schrillt. Der Nachbar. Mario, ein Zugereister aus Sardinien. Schöne Weihnachten wünscht er uns, und er hätte eine Kleinigkeit, die er uns zu diesem Anlass schenken möchte. Wir seien doch zu Hause, ob er für einen Moment herüber kommen dürfe?
„Ach, das ist lieb von Dir, Mario, selbstverständlich doch. Wir freuen uns schon.“
Gleich darauf klingelt es. Mario natürlich, wer sonst.
Fast wäre ihm sein Geschenk aus der Hand gerutscht, doch er fängt’s im Fluge.
Ich meine ein Wölkchen Grappa oder Aguardiente wahrzunehmen. Er hoffe nicht zu stören, sagt er und deutet auch an, nicht allzu lange bleiben zu wollen.
Seine Tochter wollte über die Tage mit ihm zusammen sein, doch im letzten Moment sei sie leider verhindert gewesen. Es täte ihr schrecklich leid, weil er nach Mammas Tod allein auf sich gestellt sei. Im Ausland sicher kein Zuckerschlecken, das könne sie sich sehr gut vorstellen. Doch auch daheim in Sassari gebe es nicht viel zu lachen. Aber das wisse er selbst viel besser. Ihr künftiger Schwiegervater hingegen, ein Bauunternehmer ...
Ich zeige mich interessiert, bin etwas fahrig und verschütte fast ein wenig von dem guten Wein, was eine Schande wäre. Derjenige, der heute noch eine paar Flaschen des himmlischen Jahrgangs 1994 liegen hat, sollte damit umgehen wie mit den Kronjuwelen.
„Ach ja, was ist mit dem Schwiegervater Deiner Tochter?“, versuche ich meine Unaufmerksamkeit zu kaschieren.
„Na, der hat mit den Problemen der kleinen Leute nichts am Hut. Dem geht’s gut. Und immer besser. Nordafrikaner hat er eingestellt, vorbeigetrickst am Amt und an der Steuer. Und wegen solcher Schweinereien hab’ ich meinen Job verloren!“
Ich entdecke eine andere Schweinerei: Mario trinkt unseren Kronjuwelenwein viel zu schnell. Er schaut ihn nicht an, er hält ihn nicht gegen das Licht, um sich an diesen klaren violetten Reflexen zu erfreuen, er riecht und schnüffelt nicht, um in Gedanken noch einmal hinabzusteigen in die Keller mit den – ihrer Einmaligkeit wegen - unbezahlbaren Schätzen.
Der Nachbar Mario lässt den Wein in sich hineinfließen. Diesen Wein! Er gibt ihm keine Chance, mit seinen Qualitäten aufzutrumpfen. Marios Zunge nimmt nichts wahr von den einmaligen Eigenschaften eines perfekt gereiften Castillo Ygay - sie dient nur dem Transport nach unten. Mario lobt nicht das edle Kristallglas – unsere Festtagsgarnitur -, sondern packt es an wie seine Maurerkelle. Ein Wein für Milliardäre – in diesen rissigen Pranken!
Und er hat, was ich bei seiner Jonglierkunst beim Eintreten völlig übersah, ein kleines, nicht zu dünnes Fotoalbum bei sich, das er mit uns gerne einmal durchblättern möchte.
Unverhofft kommt oft? In Marios Fall stimmen meine Frau und ich überein, dass uns schon ein einziges Mal ‚unverhofft’ zu viel wird.
Wie werden wir den Kerl wieder los? Je mehr er trinkt, desto italienischer wird sein Spanisch und somit für uns immer rätselhafter. Wir sind auf Seite 14 des inhaltsvollen Familienalbums. Hier sehen wir Mario in Positur vor dem Tyrrhenischen Meer am selbst gemauerten Grill, mit Auberginen und Meeresgetier, mit Freunden und Weinkaraffen. Ich, als Mann des Details, erspähe unter den Grilladen sofort Oktopus und schicke mich an, unseren sardischen Gast darauf hinzuweisen, dass ein Oktopus vom Grill immer ledern und hart bleiben wird – und damit ungenießbar, weil diese Zubereitungsart nicht dessen Naturell entspreche und er das doch als Inselbewohner wissen müsse. Mario sagt zum Thema Kochen anderes: Er erachte es für unsinnig, für eine einzige Person einzukaufen, zu kochen, dann noch zu spülen und alles abzutrocknen, damit am nächsten Tag der ganze Schwachsinn von vorn anfangen könne.
Heute Abend habe er beispielsweise Corned Beef gegessen, eine zuverlässig gute Konserve aus Argentinien. Aber irgendetwas sei ihm nicht gut bekommen. Ob wir eventuell einen scharfen Schnaps für ihn hätten?
Nichts für ungut. Nächstes Jahr werde er Sardinien wieder einen Besuch abstatten. „Nicht per Flugzeug mit diesem lächerlichen Freigepäcklimit, sondern mit meinem Punto. Den werde ich bis obenhin vollladen mit den besten Produkten der Insel, meiner zweiten Heimat.“ Er prostet mir zu.
Eigentlich sei er ja Kalabrese, und zwar ein echter. Ob ich übrigens wüsste, dass die Kalabresen Italiens feurigstes Volk seien? Das meinten zwar die Sizilianer auch von sich, doch deren schwerstes Bündel sei ihre Selbstüberschätzung. Und dann hätten die noch die Armut und die Mafia - e basta. Die kalabresische N’drangheta dagegen sei fast eine Wohlfahrtsorganisation. Sie nehme und gebe, auch die Kirche sei ihr gewogen.
Jetzt platzt mir der Kragen und ich werfe ein:
„Und der Verband der Beerdigungsunternehmer selbstverständlich ebenfalls.“
Doch Mario lässt sich in seinem Vortrag nicht unterbrechen und sagt:
„Die weiter oben im Norden, die Milanesen, sind nur am Geldmachen und am Geldzählen interessiert – Emotionen kennen die gar nicht. Das sind eigentlich gar keine Italiener.“
Wieso ist er jetzt in Norditalien? Der rote Faden – wo ist er? Meine Frau hilft ihm auf die Sprünge: beste Produkte aus der neuen Heimat.
„Si, certo!“ Jetzt hat er ihn wieder, den roten Faden, also:
„Das sardische Olivenöl ist nicht schlecht, und das sagt ja auch keiner - doch mit dem aus Kalabrien kann es wirklich nicht mithalten. Bene, zum Kochen kannst Du das nehmen, aber wenn ich mein Knoblauchbrot röste, dann schmeckt’s nur mit echtem kalabrischen Olivenöl, sonst kann ich gleich die Butter der Norditaliener aufstreichen. Pfui Teufel! Ich hätte große Lust, Euch eine Kostprobe zu machen.“
Meine Frau greift ein: „Oh no no no, Mario! Lass uns das mal auf die Zeit nach den Festtagen verschieben.“
Knoblauchbrot oder kein Knoblauchbrot - jedenfalls hat sich Mario in Rage geredet - er sollte noch einen Schnaps haben.
Beim Familienfotoalbum sind wir immer noch auf Seite 14. Unseren kleinen unprätentiösen Heiligabend haben wir längst abgeschrieben. Wir sind überfallen worden von diesem netten, einsamen Nachbarn und fühlen uns fast wie die Versteher aller Einsamen zur Weihnachtszeit.
Unser Schnaps bringt Mario wieder auf die Spur.
Si, Grappa werde er mitbringen, auch für uns! Vom besten Brenner des Dorfes destilliert und dann in kleinen Akazienfässern gereift – da könnten die französischen Herren mit ihrem Cognac einpacken!
Der Mario geht uns gründlich auf die Nerven. Sein Gesicht strahlt mittlerweile wie die Sonne der Rioja. Es ist eigentlich ganz hübsch mit den fetten Grübchen, den markanten Brauen, die ein weit gespreiztes Dach über seinen Holzkohleaugen darstellen und dem gespaltenen Mobbelkinn, das entweder große Durchsetzungskraft oder auch überdurchschnittliche Einfühlsamkeit oder eine Mischung aus beiden ausdrücken kann.
Jetzt möchte er ein Weihnachtslied aus Kalabrien vortragen. Wir werden es nicht verhindern können, es sei denn, wir knebelten und fesselten ihn. Er beginnt mit Summen, dann folgen die ersten Vokale - und jetzt hören wir das eigentliche Lied. Er singt gar nicht schlecht, der Mario! Allerdings haben wir uns diesen Heiligabend ohne kalabrische Weihnachtslieder vorgestellt.
Auch habe ich mich seit Monaten auf diesen ganz besonderen Wein gefreut, den nun der Mario in tiefen Zügen zu sich nimmt. Deshalb können mich seine dieserart angeregten Sangeskünste überhaupt nicht begeistern. Jetzt erhebt er sich etwas unsicher und führt uns den zum Lied gehörenden Tanz vor. Der Boden bebt und dröhnt und wir müssen an die unter uns Wohnenden denken. Es ist Heiligabend. Ich muss diesen Wahnsinn stoppen. Aber noch bevor ich einen Laut herausbringe, ertönen andere Laute und die kommen von Mario’s Handy.
Mario vergisst das Getanze und Gesinge, sagt „Pronto“ und setzt sich gespannt aufs Chaiselongue. Das Italienische geht ihm doch viel fließender über die Lippen als Spanisch. Er ist glücklich, es ist seine Tochter. Ich versuche noch, der Magnum einen letzten Schluck zu entlocken, bekomme aber nur einen erbärmlichen Rest - allerdings mit dem gesamten Depot. Qué chasco!
Meine Frau sitzt schon, genervt oder demonstrativ, vor dem Fernseher.
Mario ist weit weg von hier, bei seiner Tochter und all den Anderen, mit denen er die Feste zu feiern pflegte und ist sehr gerührt. Der derbe Kerl verliert Tränen – das kann ich deutlich sehen! Und er wird leiser, hört bald mehr zu, als dass er selber spricht und - jetzt ist er gar nicht mehr zu hören. Er ist eingeschlafen.

Ich winke meiner Frau. Wir haben noch nie einen Menschen gesehen mit einem so zufriedenen und friedlichen Gesichtsausdruck. Damit das auch so bleibt, holen wir eine dicke flauschige Decke und breiten sie über unserem unverhofften Gast aus, denn es ist Weihnachten.

 

…, dass die Kalabresen Italiens feurigstes Volk seien? Das meinten zwar die Sizilianer auch von sich, doch deren schwerstes Bündel sei ihre Selbstüberschätzung. Und dann hätten die noch die Armut und die Mafia - e basta. Die kalabresische N’drangheta dagegen sei fast eine Wohlfahrtsorganisation. Sie nehme und gebe, auch die Kirche sei ihr gewogen.

¡Buenos dias, Josefelipe!

Was gäbe es da viel zu sagen, außer dass ich Dich jetzt auch noch vor Weihnacht heimsuche! Und warum wählt der jetzt den Konjunktiv? Weil’s doch mit ihm nahezu vorzüglich in der (mutmaßlich autobiografisch) launigen Erzählung gelingt. Allemal in der indirekten Rede! Da bleiben nur Zweifelsfälle – wie hier

In Marios Fall stimmen meine Frau und ich überein, dass uns schon ein einziges Mal ‚unverhofft’ zu[…]viel wird
Wo einer wie ich gerne ein „zu viel werde“ sähe, aber auch weiß, dass das ja tatsächlich Eure Meinung ist und damit der Indikativ obsiegen müsse (nur nicht beim zu viel, da wird nur die Substantivierung zusammengeschrieben, etwa als „es war ein Zuviel“.

Aber einmal ruft ein Satz nach dem Konjunktiv II, den nicht erst Karl Kraus mit dem Attribut irrealis belegte:

Wir werden es nicht verhindern können, es sei denn, wir knebeln und fesseln ihn.
Das ist ja sehr hypothetisch und schreit geradezu nach „wir knebelten und fesselten ihn“ -
und komme da keiner, man könnte die Konstruktion mit einer Vergangenheitsform verwechseln!

Der erste Schnitzer steckt aber schon in der Überschrift, wenn

Zaragoza
kleiner gehalten wird, als es ist.

Hier wäre jeweils ein Komma nachzutragen

und ich beginne bereits[,] wegen immer schlechter werdender Karten die gute Laune zu verlieren.
(Infinitiv)
von diesem netten[,] einsamen Nachbarn
(bloße Aufzählung gleichrangiger Adjektive)

Et este claro:

Gern gelesen vom

Friedel,
der auch entgegen der ersten Begegnung immer mehr feine Ironie verspürt ...

¡Hasta la vista!

 

Hola Friedel,
geht in Ordnung, dass Du mich noch einmal heimsuchst. Ist ja auch eine Heimsuchung der sachlichen Art - für die ich Dir danke. Die Fehler habe ich flugs ausgemerzt und jetzt sieht die Geschichte aus wie neu.
Hingegen habe ich das Z für zaragoza technisch nicht hingekriegt. (Sehr wohl weiß ich, dass Städtenamen großgeschrieben werden - was ja auch im Text zu erkennen ist.) Der Titel stand in Großbuchstaben und beim Posten ist dieser scheinbar irreparable Fehler passiert. Ich habe schon die heilige Bernadette um Hilfe angefleht, aber sie weilt wohl schon in St. Moritz. Ist ihr zu gönnen.

Und Dir viel Besinnlichkeit bei Glühwein, Grog und Gänsebraten!
Joséfelipe

 

Hola Joséfelipe,

Mann, die Geschichte habe ich gerne gelesen! Funzt von Anfang an, würden IT-ler sagen. ;)
Man kann förmlich am Wein riechen, der hätte mir geschmeckt und ich kann das traurige Herz des Prots fühlen, wenn sein guter Tropfen weggesoffen wird.

Also, ich habe hier nichts, aber auch gar nichts zu kritisieren. Einfach schön! Danke!

Freegrazer

 

Hola Freegrazer,
auch Dein Kommentar hat bei mir gefunzt. Ich hoffe, dieses mir bis eben nicht bekannte Wort richtig angewendet zu haben. Hauptsache, Dir hat's gefallen.
Die Geschichte hatte eigentlich eine - wie e. offshore sagen würde - redundante Einleitung, die ich weggelassen habe. Sie war übrigens sehr romatisch, aber eine KG verträgt das nicht.
Lass es Dir gut gehen, bis die Tage!
Joséfelipe

 

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