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Helenas Hass
Helena spricht über den Hass wie ein alter Freund zu dir. Sie zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich an das Geländer ihres Balkons und kotzt ihren abgestandenen Hass in die schwüle Sommernacht. Sie tut das nicht wie ein abgefuckter Alkoholiker um fünf Uhr morgens, schwankend und lallend, mitten auf den frisch gefegten Gehweg. Sie tut das fast schon elegant, mit einer Leichtigkeit. Grob, aber lässig und zur Gewohnheit geworden, spuckt sie Schimpfwörter und Beleidigungen so eben mal über das Geländer, zwischendurch ein dreckiges Lachen, ein schiefes Grinsen, eine beschwichtigende Handbewegung und: „Ach, was juckt´s mich überhaupt.“
So vertraut wird sie dir nur beim Hass-kotzen. Auch wenn du mit Stock im Arsch, wie ein unsicheres Mäuschen, neben ihr stehst, während sie davon erzählt, wie ihr Ex-Freund sie ausgenutzt und geschlagen hat, wird sie dir immer noch wie ein alter Kumpel ´ne Kippe anbieten, dir freundschaftlich auf die Schulter klopfen und vor allem kein Blatt vor den Mund nehmen.
Helena wohnt ganz am Ende vom Dorf und auch erst seit einem Jahr, eigentlich mit ihrer
Mutter, die ist aber nie zuhause. „Stört mich nicht“, sagt Helena „Das war schon immer so.“ Die Menschen in unserem Dorf hassen oder lieben Helena. Ich glaube, so ist das oft bei kaputten Menschen. Die, die sie lieben, lieben ein Bild von ihr, das sie sich aus ihrer eigenen Einsamkeit heraus zurechtgeschnitten haben. Sie sagen: „Helena, rette mich!“ oder „Ich rette dich, Helena!“ und Helena hasst sie fast noch mehr als die anderen. Die, die sie hassen, sind nicht einsam. Sie brauchen Helena nicht, also wollen sie, sie nicht.
Mein Vater hat mal gesagt: „Helena ist ein Fall für sich“; er meinte es nicht verachtend, sondern mit Mitgefühl. Ich mochte das nicht. Helena wurde selten als ganzer Mensch gesehen. Jeder sah immer nur Teile von ihr. Die gemeine Seite, die kalte Seite oder eben das bemitleidenswerte Kind, das durch seine Vergangenheit zerstört wurde. Aber da ist mehr. Da ist ein Kern.
Ich musste mich mal auskotzen… richtig heftig. Da bin ich zu Helena gefahren. Sie hat gesagt:
„Klar, komm vorbei“, als wäre das ganz normal. Sie wusste genau, was zu tun war. Stand mit Eimer und Handtuch vor der Tür. Ohne Sprüche, ohne Grinsen, ohne Vorwürfe. Wir sind auf ihren Balkon gegangen. Ich erinnere mich, dass es kalt war. November, vielleicht Dezember. Mir war schwindelig, übel, kalt. Hass ist nicht schön, es war ekelhaft und klebrig. Ich kotzte überall hin. Erst volle Kanne auf mich selbst. Mit Tränen und Rotze, Kotze aus allen Enden kommend saß ich auf dem kalten Balkonboden. Helena stand nur da. So rücksichtslos und selbstbezogen, wie sie selbst beim Hass kotzen war, so selbstlos war sie jetzt. Sie stand da, hörte zu und reichte mir zwischendurch ein Handtuch. Es hörte nicht mehr auf. Als Nächstes ging alles auf Helena. Das tut mit bis heute leid. „Alles gut“ und „Lass es raus“ war alles, was sie dazu sagte. Danach war kurz Pause und, endlich, eine Stunde später stand ich mit schwachem Körper und zitternden Beinen am Balkongeländer und kotzte bewusst und befreit hinaus in die kalte Nacht. Nach diesem Abend verurteilte ich Helena nie wieder. Ich stand nie mehr mit Stock im Arsch neben ihr. Ich zog an meiner Zigarette, ich hörte ihr zu und ich stand mit einem Handtuch bereit.
Wir haben nicht oft geredet, außer auf ihrem Balkon. Aber das Schweigen davor war anders als das Schweigen danach. Blicke sind stärker als Worte, und nur deswegen konnte ich Helena lieben und sie mich. Das Rauchen, das Hass kotzen, das Schimpfen, das Schreien waren wie eine Mauer, die einbrechen musste, damit wir uns sehen konnten. Ich schaue sie an. Immer noch, immer, wenn ich kann, und ich sehe keinen Hass, ich sehe nur Liebe.
Blicke, die Helena über sich ergehen lassen musste: mitleidige, angeekelte, wütende, schadenfrohe, verwirrte, verunsicherte, geschockte, besorgte, genervte, hasserfüllte, erniedrigende, enttäuschte.
Und eines Tages hat Helena mich geküsst. Hass und Liebe, wie weit ist das wirklich voneinander entfernt? Ich habe sie angeschrien: „Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt?!“ Und sie hat mich geküsst. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gestritten hatten. War dann auch egal. So einfach. Einfach so.
Im Sommer liegen wir bei Helena auf dem Balkon. „Hast du das Bier dabei?“ Ich nicke. Wenn es warm ist, ist Helena wärmer. Sie streicht mir durch die Haare.
An solchen Tagen wünsche ich mir, dass es für immer so bleibt. Dann habe ich Hoffnung auf Liebe ohne Hass. Dann schaue ich Helena an und sehe nur sie, jetzt, hier und keinen Ballast. Nicht von dem, was war, nicht von dem, was noch kommen könnte.
Im Winter wird Helena abwesend, der Ballast liegt schwer wie die großen Schneehaufen vor ihrem Balkon auf ihren Schultern. „Wollen wir rausgehen?“, frage ich. „Nein.“ Ich sehe wenig, wenn ich sie anschaue. Die Mauer ist jetzt größer als zuvor, und diesmal bricht sie nicht. Helena ruft mich nicht mehr an. Auch nicht nach zwei Wochen.
Gestern war ich bei ihr. Sie hat die Tür erst nach dreimal Klingeln geöffnet. „In vier Wochen ziehe ich weg“, sagt Helena. „Warum?“ Helena antwortet nicht.
Ich versuche, sie zu trösten, ich schaue ihr in die Augen, ich versuche sie zu sehen. Sie stößt mich weg, hart, und dann schreit sie, dann kotzt sie Hass. Mitten in ihrem Zimmer. Lallend und schwankend und unkontrolliert kotzt sie all den Hass, der so lange bei ihr auf der Brust saß, auf mich, auf sich, auf alles und jeden, und ich stehe nur da. Wie ein unsicheres Mäuschen stehe ich da und ich habe Angst. Nicht vor Helena, sondern davor, sie zu verlieren.
Blicke, die Helena über sich ergehen lassen musste: verliebt.
Und eines Tages hat Helena mich verlassen. Hass und Liebe - wie weit ist das wirklich voneinander entfernt? Ich habe sie angeschrien: „Ich liebe dich!“ Und sie hat mich verlassen. Ich weiß nicht mehr, warum sie gegangen ist. War dann auch egal. So einfach. Einfach so.