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Helenas Hass

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18.04.2022
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Helenas Hass

Helena spricht über den Hass wie ein alter Freund zu dir. Sie zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich an das Geländer ihres Balkons und kotzt ihren abgestandenen Hass in die schwüle Sommernacht. Sie tut das nicht wie ein abgefuckter Alkoholiker um fünf Uhr morgens, schwankend und lallend, mitten auf den frisch gefegten Gehweg. Sie tut das fast schon elegant, mit einer Leichtigkeit. Grob, aber lässig und zur Gewohnheit geworden, spuckt sie Schimpfwörter und Beleidigungen so eben mal über das Geländer, zwischendurch ein dreckiges Lachen, ein schiefes Grinsen, eine beschwichtigende Handbewegung und: „Ach, was juckt´s mich überhaupt.“

So vertraut wird sie dir nur beim Hass-kotzen. Auch wenn du mit Stock im Arsch, wie ein unsicheres Mäuschen, neben ihr stehst, während sie davon erzählt, wie ihr Ex-Freund sie ausgenutzt und geschlagen hat, wird sie dir immer noch wie ein alter Kumpel ´ne Kippe anbieten, dir freundschaftlich auf die Schulter klopfen und vor allem kein Blatt vor den Mund nehmen.

Helena wohnt ganz am Ende vom Dorf und auch erst seit einem Jahr, eigentlich mit ihrer

Mutter, die ist aber nie zuhause. „Stört mich nicht“, sagt Helena „Das war schon immer so.“ Die Menschen in unserem Dorf hassen oder lieben Helena. Ich glaube, so ist das oft bei kaputten Menschen. Die, die sie lieben, lieben ein Bild von ihr, das sie sich aus ihrer eigenen Einsamkeit heraus zurechtgeschnitten haben. Sie sagen: „Helena, rette mich!“ oder „Ich rette dich, Helena!“ und Helena hasst sie fast noch mehr als die anderen. Die, die sie hassen, sind nicht einsam. Sie brauchen Helena nicht, also wollen sie, sie nicht.

Mein Vater hat mal gesagt: „Helena ist ein Fall für sich“; er meinte es nicht verachtend, sondern mit Mitgefühl. Ich mochte das nicht. Helena wurde selten als ganzer Mensch gesehen. Jeder sah immer nur Teile von ihr. Die gemeine Seite, die kalte Seite oder eben das bemitleidenswerte Kind, das durch seine Vergangenheit zerstört wurde. Aber da ist mehr. Da ist ein Kern.

Ich musste mich mal auskotzen… richtig heftig. Da bin ich zu Helena gefahren. Sie hat gesagt:

„Klar, komm vorbei“, als wäre das ganz normal. Sie wusste genau, was zu tun war. Stand mit Eimer und Handtuch vor der Tür. Ohne Sprüche, ohne Grinsen, ohne Vorwürfe. Wir sind auf ihren Balkon gegangen. Ich erinnere mich, dass es kalt war. November, vielleicht Dezember. Mir war schwindelig, übel, kalt. Hass ist nicht schön, es war ekelhaft und klebrig. Ich kotzte überall hin. Erst volle Kanne auf mich selbst. Mit Tränen und Rotze, Kotze aus allen Enden kommend saß ich auf dem kalten Balkonboden. Helena stand nur da. So rücksichtslos und selbstbezogen, wie sie selbst beim Hass kotzen war, so selbstlos war sie jetzt. Sie stand da, hörte zu und reichte mir zwischendurch ein Handtuch. Es hörte nicht mehr auf. Als Nächstes ging alles auf Helena. Das tut mit bis heute leid. „Alles gut“ und „Lass es raus“ war alles, was sie dazu sagte. Danach war kurz Pause und, endlich, eine Stunde später stand ich mit schwachem Körper und zitternden Beinen am Balkongeländer und kotzte bewusst und befreit hinaus in die kalte Nacht. Nach diesem Abend verurteilte ich Helena nie wieder. Ich stand nie mehr mit Stock im Arsch neben ihr. Ich zog an meiner Zigarette, ich hörte ihr zu und ich stand mit einem Handtuch bereit.

Wir haben nicht oft geredet, außer auf ihrem Balkon. Aber das Schweigen davor war anders als das Schweigen danach. Blicke sind stärker als Worte, und nur deswegen konnte ich Helena lieben und sie mich. Das Rauchen, das Hass kotzen, das Schimpfen, das Schreien waren wie eine Mauer, die einbrechen musste, damit wir uns sehen konnten. Ich schaue sie an. Immer noch, immer, wenn ich kann, und ich sehe keinen Hass, ich sehe nur Liebe.

Blicke, die Helena über sich ergehen lassen musste: mitleidige, angeekelte, wütende, schadenfrohe, verwirrte, verunsicherte, geschockte, besorgte, genervte, hasserfüllte, erniedrigende, enttäuschte.

Und eines Tages hat Helena mich geküsst. Hass und Liebe, wie weit ist das wirklich voneinander entfernt? Ich habe sie angeschrien: „Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt?!“ Und sie hat mich geküsst. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gestritten hatten. War dann auch egal. So einfach. Einfach so.

Im Sommer liegen wir bei Helena auf dem Balkon. „Hast du das Bier dabei?“ Ich nicke. Wenn es warm ist, ist Helena wärmer. Sie streicht mir durch die Haare.

An solchen Tagen wünsche ich mir, dass es für immer so bleibt. Dann habe ich Hoffnung auf Liebe ohne Hass. Dann schaue ich Helena an und sehe nur sie, jetzt, hier und keinen Ballast. Nicht von dem, was war, nicht von dem, was noch kommen könnte.

Im Winter wird Helena abwesend, der Ballast liegt schwer wie die großen Schneehaufen vor ihrem Balkon auf ihren Schultern. „Wollen wir rausgehen?“, frage ich. „Nein.“ Ich sehe wenig, wenn ich sie anschaue. Die Mauer ist jetzt größer als zuvor, und diesmal bricht sie nicht. Helena ruft mich nicht mehr an. Auch nicht nach zwei Wochen.

Gestern war ich bei ihr. Sie hat die Tür erst nach dreimal Klingeln geöffnet. „In vier Wochen ziehe ich weg“, sagt Helena. „Warum?“ Helena antwortet nicht.

Ich versuche, sie zu trösten, ich schaue ihr in die Augen, ich versuche sie zu sehen. Sie stößt mich weg, hart, und dann schreit sie, dann kotzt sie Hass. Mitten in ihrem Zimmer. Lallend und schwankend und unkontrolliert kotzt sie all den Hass, der so lange bei ihr auf der Brust saß, auf mich, auf sich, auf alles und jeden, und ich stehe nur da. Wie ein unsicheres Mäuschen stehe ich da und ich habe Angst. Nicht vor Helena, sondern davor, sie zu verlieren.

Blicke, die Helena über sich ergehen lassen musste: verliebt.

Und eines Tages hat Helena mich verlassen. Hass und Liebe - wie weit ist das wirklich voneinander entfernt? Ich habe sie angeschrien: „Ich liebe dich!“ Und sie hat mich verlassen. Ich weiß nicht mehr, warum sie gegangen ist. War dann auch egal. So einfach. Einfach so.

 

Salut @FliegeImRegen,

das ist aber mal eine zärtliche Geschichte. Ganz schön gut. Wirklich.

So vertraut wird sie dir nur beim Hass-kotzen
Ich dachte, wenn du es so oft benutzt/kombinierst, dann mach doch ein Hauptwort draus und schreib es immer groß. Also das Hasskotzen ... dann kannst dir Bindestrich und anderes sparen und hast ne neue Wortschöpfung. Ist ja nicht verboten.

also wollen sie, sie nicht.
Komma muss weg

auskotzen… richtig heftig
Die Auslassungszeichen ... immer davor und danach ein Leerzeichen.

Mit Tränen und Rotze, Kotze aus allen Enden kommend saß ich auf dem kalten Balkonboden.
aus allen Löchern kommend, wäre die korrekte Formulierung. Es kommt dir aus allen Löchern, an allen Ecken und Enden. Aber geschickter wäre: Mit Tränen, Rotze und Kotze aus allen Löchern kommend ...

beim Hass kotzen war
beim Hasskotzen s.o. (Vorschlag)

Als Nächstes ging alles auf Helena.
Als nächstes

Ich zog an meiner Zigarette, ich hörte ihr zu und ich stand mit einem Handtuch bereit.
Wenn es nicht wirklich geplant ist, könnte 2 x ich weg.

dreimal Klingeln geöffnet
dreimal klingeln ...

Ab und zu sind da auch Zeiten durcheinander, so meine ich gesehen zu haben.

Man kann sagen, dass in den wenigen Zeilen ein ganzer Roman steckt. Ein Film. Und das scheint auch durch. Die Intensität. Ich finde, es ist eine Perle. Durchaus lakonisch erzählt, aber dadurch passend. Mal sehen, was noch kommt an Kommentaren.

Hat mir sehr gefallen.

Grüße
Morphin

 

Grüß dich, @FliegeImRegen!

Irgendwie kommentiert hier kaum jemand, zu Unrecht, wie ich finde.

Deine Geschichte ist mir nahe gegangen, beim zweiten Lesen sogar noch mehr.
Alle Achtung für ein Anfängerin(?)!

Die Menschen in unserem Dorf hassen oder lieben Helena. Ich glaube, so ist das oft bei kaputten Menschen. Die, die sie lieben, lieben ein Bild von ihr, das sie sich aus ihrer eigenen Einsamkeit heraus zurechtgeschnitten haben.
Habe ich so noch nie betrachtet, aber jetzt, wo du es so deutlich auf den Punkt bringst, denke ich, da ist was dran ;-)

Vieles ist vage gehalten, man erfährt so gut wie nie, warum gerade Hass gekotzt wird, und trotzdem passen alle Teile zusammen, sehr schön!
Handwerklich auch sehr sauber geschrieben.
Ich habe auch nur ein paar kleine Anmerkungen (zusätzlich zu denen, die Morphin schon erwähnt hat):

Das tut mit bis heute leid
mir

Im Sommer liegen wir bei Helena auf dem Balkon
Ab hier wechselst du plötzlich ins Präsens. Dahinter scheint eine Absicht zu stehen, hilft der Story m.E. aber nicht und irritiert eher. Ich persönlich finde sogar, dass die Geschichte stärker wird, wenn alles in der Vergangenheitsform geschrieben ist. Das würde das Endgültige des Schlusses deutlicher hervorheben, nach dem Motto "ab jetzt ist Helena nichts weiter mehr als eine Erinnerung". Das ist aber nur meine Ansicht.

Im Winter wird Helena abwesend, der Ballast liegt schwer wie die großen Schneehaufen vor ihrem Balkon auf ihren Schultern.
Der einzige Satz, den ich zweimal lesen musste, um ihn ganz zu kapieren, weil er mir zu verschachtelt daherkommt. Vielleicht lieber
"der Ballast liegt auf ihren Schultern wie die großen Schneehaufen vor ihrem Balkon."

Ansonsten sehr gelungen!

Freut sich auf mehr:
M.D.

 
Zuletzt bearbeitet:

Irgendwie kommentiert hier kaum jemand, zu Unrecht, wie ich finde.
Kann natürlich auch daran liegen, dass unter der letzten Geschichte noch einige unbeantwortete Kommentare stehen.

Hey @FliegeImRegen

Am Text könnte noch einiges gefeilt werden, wie ich finde.

Helena spricht über den Hass wie ein alter Freund zu dir.
Ein Beginn um die Ecke. Aber gut. Ich denke mir also, alte Freunde sprechen zu mir in vertrautem Ton und liebevoll, und folgere, dass Helena liebevoll über ihren Hass spricht. Das tut sie aber gar nicht, sie spricht nie über ihren Hass, sie kotzt ihn bloss aus - oder begleitet den Erzähler dabei. Wenn du es bei dieser Behauptung belassen willst, dann würde ich sie nicht zu Beginn des Textes platzieren, weil sie sonst ein grosses Gewicht bekommt und ich als Leser erwarte, dass der Text dieses Behauptung in irgendeiner Form aufgreift und verdeutlicht.
Sie zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich an das Geländer ihres Balkons und kotzt ihren abgestandenen Hass in die schwüle Sommernacht.
Das zweite "ihre" kann weg. "Abgestanden" ist ein wesentlich interessanteres Adjektiv als "schwül" (in Verbindung mit Sommernacht). Ich würde "schwül" streichen. Das "abgestanden" treibt mich allerdings schon auch um. Ist das ein passendes Adjektiv? Also muss der Hass zunächst an Kraft verlieren und an Säure, bis er ausgekotzt werden kann? Ich stelle mir das anders vor, nämlich, dass er gärt und an Säure gewinnt, bis er schliesslich die Speiseröhre hochdrückt. Aber gut, das ist ja wohl gerade das Spezielle an dieser Figur, dass sie einen besonderen Umgang mit dem Hass und dem Kotzen pflegt.
Sie tut das nicht wie ein abgefuckter Alkoholiker um fünf Uhr morgens
Nicht jedes Substantiv braucht ein Adjektiv. Ich finde, das hier leistet relativ wenig, ausser dass mir der Erzähler ein bisschen unsympathisch wird.
mitten auf den frisch gefegten Gehweg
Auch dieses Substantiv bekommt eine Präzisierung und da habe ich mich gefragt, wo werden Strassen und Gehwege noch von Hand gefegt und zwar vor morgens um fünf?
Sie tut das fast schon elegant, mit einer Leichtigkeit.
streichen oder dann: "mit einer Leichtigkeit, die ..."
Grob, aber lässig und zur Gewohnheit geworden, spuckt sie Schimpfwörter und Beleidigungen so eben mal über das Geländer
Zur Gewohnheit geworden spuckt sie Schimpfwörter? Das ist kaputte Syntax.
Auch wenn du mit Stock im Arsch, wie ein unsicheres Mäuschen, neben ihr stehst, während sie davon erzählt, wie ihr Ex-Freund
streichen
wird sie dir immer noch wie ein alter Kumpel ´ne Kippe anbieten
weshalb "immer noch"? Habe ich nicht kapiert.
Die, die sie lieben, lieben ein Bild von ihr,
Kann weg. Einfach: "Die sie lieben, lieben ein Bild von ihr."
Die, die sie hassen, sind nicht einsam.
Hier ebenso.
Sie brauchen Helena nicht, also wollen sie, sie nicht.
Aus dem Satz werde ich nicht schlau.

Ich breche hier ab. Mal schauen, ob du mit den Vorschlägen was anfangen kannst. Das von den Vorkommentatoren bereits angemerkte Knuddelmuddel mit den Zeiten solltest du auf alle Fälle angehen.

Aber da ist mehr. Da ist ein Kern.
Noch eine globale Rückmeldung zum Text: Der liest sich gut, aber für mich bleiben die beiden zitierten Sätze blosse Behauptungen, für meinen Geschmack kriege ich in Bezug auf diesen Kern (und auch insgesamt) zu wenig erzählt. Ja, das steckt ein Roman in diesem kurzen Text, aber für meine Begriffe einer, den ich mir selbst ausdenken muss, da klingt für mich zu wenig an und schwingt zu wenig mit, was die Aussage: Aber da ist mehr rechtfertigen könnte.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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