Helenas Weihnachten
Helenas Weihnachten
Helena führte ein erfülltes Leben mit Höhen und Tiefen. In den letzten Jahren überwogen zwar die Tiefen in ihrem Leben, aber sie verzweifelte nicht an den Prüfungen, die ihr gestellt wurden. Sie hatte ihre positive Einstellung nie verloren.
Ihr Mann war gestorben, ein Herzinfarkt, er war einfach nicht mehr aufgewacht. Bald danach zog der Krebs bei ihr ein; ein Untermieter, den keiner mag.
Helena verstand es zu kämpfen mit 75 Jahren. Für ihren Sohn und ihre Enkelkinder nahm sie dieses Leid geduldig auf sich. Mit der Chemo verlor sie ihre Haare. Es machte ihr nichts aus, ihre Glatze fand sie cool, so wie es die Jugend zu sagen pflegte.
Ihr sehnlichster Wunsch war es noch ein vielleicht auch zwei Weihnachten mit ihrer Familie zu erleben.
Sie liebte Weihnachten, den Schnee, Tannennadeln, das Zusammensein mit ihren Liebsten, das Singen von Weihnachtsliedern.
Das schönste Weihnachten war für sie im Jahre 1945 in ihrer Kindheit.
Während ihrer Kindheit lernte sie die Leiden und die Härte eines Krieges kennen.
Es wurden damals fast jede Nacht auf eine eigentlich schon ausgebombte Stadt Angriffe geflogen. Die Bodentruppen der späteren Siegermächte rückten vor.
Die Sirenen hatten sie wie viele Nächte zuvor geweckt. Helena und jedes ihrer fünf Geschwister hatte einen eigenen kleinen Rucksack, den ihre Mutter aus Handtüchern genäht hatte; ein kleines Notfallpaket, wenn man sich verlieren würde.
Sie verließen das Haus; nein es waren eigentlich die Reste eines Mehrfamilienhauses, die die Angriffe bis heute überstanden hatten. Es war kalt geworden, Rauchschwaden zogen senkrecht aus einem Kamin in den eiskalten Himmel. Man vernahm ein dumpfes Knallen der Luftabwehr. Eisblumen zierten das Fensterglas. Ein Weihnachten im Luftschutzkeller. Die Stunden vergingen, sie hatten ihr Zeitgefühl komplett verloren. Es war ruhig geworden, keine Granaten schlugen mehr ein.
Es öffnete sich die Tür des Luftschutzraumes. Ein großer Farbiger mit breitem Lachen und weiß blitzenden Zähnen trat ein. „Ich wünsche euch Allen frohe Weihnachten, der Krieg ist vorbei!“
Es kamen noch mehr Soldaten herein. Sie teilten ihren Tee und ihre Schokolade mit den Kindern. Sie stellten Kerzen auf, ein weihnachtliches Gefühl breitete sich aus. Mit ihren Befreiern in warme Decken eingehüllt sangen sie Weihnachtslieder; immer wieder „Oh du fröhliche.“
Nun holte die Gegenwart Helena aus ihren Gedanken zurück. Ihr eigentlicher Weihnachtswunsch war für dieses Jahr nicht in Erfüllung gegangen, Weihnachten mit ihren Lieben zu verbringen. Ihr Sohn hatte sie kurz vor Weihnachten in ein Seniorenheim gebracht. Sie nahm es hin, sah wie man bei einer Haushaltsauflösung ihr Leben zu Dumpingpreisen verkaufte. Ihr Sohn sagte nur „Mama das wirst du eh nicht mehr brauchen.“
Ihre Enkelkinder beachteten sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Mobiltelefon, aus dem mit mechanischer Stimme das Lied „Oh du fröhliche.“ erklang. Sie stellte sich die Frage, ob sich diese Kinder heute noch über eine Tafel Schokolade freuen würden. Ihr Sohn hatte sie zum Busplatz gebracht. Die Enkel waren zuhause geblieben; es hatte begonnen zu schneien wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
In den Bus zum Seniorenheim eingestiegen, hatte sie immer noch die Worte ihres Sohnes in den Ohren. „Dir ein frohes Fest und ein gutes neues Jahr. Wir fliegen in den Süden und sind am 11. Januar erst wieder da.“
Es schneite heftiger und Helena dachte daran wie sie mit dem Schlitten den Berg als Kind hinabfuhr. Ihre Knochen schmerzten jetzt heftig, eine Träne suchte sich ihren Weg. Einfach allein gelassen von ihrem eigenen Fleisch und Blut.
Ein Mann im Anzug bearbeitete seinen Laptop; er saß eine Reihe hinter ihr.
Dann war da noch eine hübsche Farbige mit drei Kindern, die auf ihren Plätzen eingeschlafen waren. Ein älterer Herr, der seine Liebe dem Alkohol geschenkt hatte, trank einen tiefen Zug aus seiner Flasche Schnaps. Sie hoffte, dass die Fahrt schnell vorüber gehen würde und sie wieder in ihrem Seniorenheim wäre.
Das Schneetreiben war dichter geworden, das man die Fahrbahn kaum mehr erkannte. Sie musste unwillkürlich an den Winter 1945 denken.
Der Bus begann zu rutschen, durchbrach die Leitplanke und raste in den verschneiten Wald. Helena hatte die Augen geschlossen und betete zu Gott. Als der Bus endlich zum Stillstand gekommen war, öffnete sie ihre Augen. Ein paar Schürfwunden, sonst war sie unversehrt. Alle hatten es gut überstanden; nur ein paar kleine Blessuren. Die farbige Frau verlor die Nerven und schrie und weinte. Ihre Kinder sahen sie fragend an. Der Trinker öffnete erneut die Flasche und nahm einen großen Schluck daraus. Helena suchte nach Decken und hüllte die Kinder darin ein. Sie holte ihre Thermoskanne aus der Tasche und goss der Farbigen einen Tee daraus ein. Helenas Schmerzen waren fast unerträglich geworden. Die Farbige zitterte am ganzen Körper. Helena zog ihren Mantel aus und packte die Frierende darin ein. Schokolade, die sie immer mit sich führte, teilte sie mit den Kindern. Eines der Kinder sagte „Danke liebe Oma.“ Helena war gerührt. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Der Trinker und der Mann im Anzug gesellten sich zu dieser Runde. Der Fahrer versuchte, ob das Radio noch funktionierte. Fast hatte er es aufgegeben, als mit kratzender Stimme das Lied ertönte „Oh du fröhliche.“
Sie alle begannen zu singen. Es riss nicht ab. Immer wieder hörte man sie singen. Helena war glücklich. Ihr Leben hatte einen neuen Sinn gefunden.
von Georg Weiß (1. November 2014)