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Help me make it through the night....
Nachbearbeitete Version.
Danke an alle für die Anregungen!
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Die Wohnung wirkte heruntergekommen und schäbig. Der Teppich fleckig, abgetretenes Linoleum im düsteren, fensterlosen Flur. Die Möbel waren lieblos zusammengewürfelt, sahen aus, als hätte er sie aus Mitleid geschenkt bekommen. Die Wände kahl, keine Vorhänge an den Fenstern. Nichts, was auch nur einen Hauch von Behaglichkeit oder echtem Zuhause vermittelt hätte.
An einer Stelle war der Putz von der Wand gebröckelt. Jemand hatte es schlampig repariert und mit einer Farbe, die nicht zum restlichen Anstrich passte, gleichgültig übermalt.
Rob tastete sich vor Sarah durch die Tür und sagte:
„Entschuldige, bei mir ist es nicht gerade gemütlich. Aber ich bin normalerweise nicht auf Damenbesuch eingerichtet."
Sie folgte ihm durch die Küche, die er mit verblüffend sicheren Schritten durchquerte.
Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle, und der kleine Esstisch war nach der letzten Mahlzeit noch nicht abgeräumt worden.
Sarah hatte immer geglaubt, dass für blinde Menschen exakte Ordnung in ihrer Umgebung oberstes Gebot wäre, damit sie sich zurechtfinden könnten. Danach sah es hier aber nicht gerade aus.
Die Einrichtung des Wohnzimmers bestand aus einer nackten Schrankwand und einem Regal, in dem sich ein CD-Player, ein teurer Plattenspieler und eine umfangreiche, feinsäuberlich mit Tastaufklebern gekennzeichnete CD- und Schallplattensammlung befanden.
Zwei E-Gitarren und mehrere Akustikgitarren standen exakt aufgereiht wie Soldaten in ihren Ständern neben der abgewetzten Couchgarnitur an der Wand.
Im Gegensatz zum Chaos in der restlichen Wohnung herrschte hier penible Ordnung.
„Setz dich doch.“ sagte er. „Was möchtest du trinken?“
„Oh, was du gerade da hast. Mach dir bitte keine Umstände.“
„Ein Glas Rotwein?“
„Gerne.“ Sie zögerte kurz und fügte hinzu: „Kann ich dir helfen?“
„Nein danke, ich komme zurecht.“
Sarah nahm auf dem nicht gerade einladend wirkenden Wohnzimmersofa Platz und fühlte sich ziemlich unwohl in der beeindruckend trostlosen Wohnung dieses Musikers, den sie kaum kannte, der ihr aber trotzdem schon so seltsam vertraut war.
Sie hatte vor ein paar Wochen zufällig ein Konzert seiner Band besucht. Sehr guter, klassischer Gitarrenrock, wie er nur noch selten zu hören war. Seine Bluesstimme war ihr unter die Haut gegangen.
Er hatte sich bei ihr gemeldet, nachdem sie ins Gästebuch auf der Homepage seiner Band geschrieben hatte. Sie hatten sich daraufhin einige Male in einem Café verabredet, und sich gleich blendend verstanden. Sarah war beeindruckt von Rob's Wissen. Egal ob Politik, Geschichte, Literatur: er war bestens informiert und sehr belesen. Seine Meinung vertrat er selbstbewußt und kompromisslos. Das imponierte ihr. Seit seiner Erblindung vor 7 Jahren lebte er von einer kleinen Rente, und dem eher spärlichen und unregelmäßigen Einkommen als Musiker. Früher war er ein begehrter Studiomusiker gewesen, das lehnte er mittlerweile ab: "Als Studiomusiker bist du eine Nutte. Sie kaufen dir deine Seele ab und du weißt nicht, was sie mit ihr nach der Einspielung machen."
Den heutigen Abend hatten sie in einem Bistro beim gemeinsamen Essen und Plaudern verbracht, und sie hatte ihn anschließend ganz selbstverständlich nach Hause gefahren.
Ein Lächeln huschte über Sarah’s Gesicht, als sie an ihr erstes Zusammentreffen dachte. Sie hatte sich vorher lange überlegt, was sie anziehen sollte, hatte sich sorgfältig geschminkt, bis ihr bewußt geworden war, dass er es nicht würde sehen können.
Nie zuvor hatte sie mit einem blinden Menschen zu tun gehabt.
Aber Rob hatte ihr sofort sämtliche Berührungsängste genommen.
Er war ein mitreißender Erzähler, ein guter Zuhörer und sie konnten über dieselben Dinge lachen. Er hatte offen und unverkrampft über seine Behinderung gesprochen, machte sogar Witze darüber.
Als ihnen die Kellnerin heute das Essen serviert hatte, hatte er Sarah gebeten, ihm zu sagen, auf welcher Uhrzeit die Zutaten liegen würden.
„Wie bitte? Was meinst du?“ hatte sie verständnislos gefragt.
„Na ja, ich sehe doch nicht, wo was auf meinem Teller liegt. Und wenn ich einfach so rumstochere, bekomme ich nichts auf die Gabel, und für dich wäre die Sauerei, die ich auf diese Weise veranstalte, nicht gerade ein appetitlicher Anblick. Wenn du dir aber meinen Teller als Zifferblatt einer Uhr vorstellst, kannst du mir sagen, auf welcher Uhrzeit was liegt, damit ich mich orientieren kann. Also meinetwegen: Das Steak auf drei Uhr, die Kartoffeln auf neun oder so. Das hilft mir weiter.“
„Ach so, klar.“ Sie hatten beide gelacht. Aber Sarah war der Unterton der Verbitterung nicht entgangen.
Jetzt saß sie hier auf seinem fadenscheinigen Sofa und beobachtete, wie er zwei Gläser Rotwein aus der Küche auf sie zubalancierte. Er war ein attraktiver Mann, wie sie nicht erst jetzt bemerkte.
Hochgewachsen und schlank, die kurzen dunklen Haare bereits leicht angegraut. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und schwarze Lederjacke. Das gleiche Outfit wie auf der Bühne. Eigentlich trug er nie was anderes.
Unter dem Etikett „blind“ hatte sie sich immer einen tatterigen Greis mit gelb-schwarzer Armbinde vorgestellt, der mit dem Langstock vor sich herschepperte.
Sie musste lachen. Ihr fiel plötzlich auf, dass Rob's Blindheit für sie eigentlich gar nicht mehr wichtig war. Seine Persönlichkeit machte etwas ganz anderes aus. Es war diese Ausstrahlung von entwaffnender Offenheit, Stärke und Souveränität, gepaart mit Einfühlungsvermögen und großer Verletzlichkeit, die sie faszinierte. Und immer wieder war dieser unterdrückte Anflug von Aufbegehren und Verbitterung bei ihm spürbar.
„Wo sitzt du, Sarah?“
„Hier, rechts auf dem Sofa.“
Er stellte die Gläser sehr vorsichtig auf dem Couchtisch ab und nahm links neben ihr Platz.
Er lächelte in ihre Richtung und sie blickte in seine milchig trüben, aber trotzdem tiefblauen Augen, die sie nicht fixieren konnten.
Er fragte: „Stört es dich, dass ich meine Sonnenbrille abgenommen habe?“
„Nein, warum sollte es?“
„Weil es dir vielleicht unangenehm ist, in meine toten Augen schauen zu müssen.“
„Deine Augen sind nicht tot!" entfuhr es ihr entrüstet. "Sie…sie haben nur einen ganz besonderen Ausdruck.“
Er schnaubte verächtlich.
„Ich würde auf diese Besonderheit gerne verzichten."
Sarah schwieg betreten.
Er tastete nach seinem Glas und prostete ihr zu:
„Auf diesen Abend! ...Weißt du, warum ich dir damals auf deinen Gästebucheintrag hin geschrieben habe? Weil er sich von allen anderen so sehr unterschieden hat! Das war nicht der übliche Spruch, den mir mein Spracherkennungsprogramm sonst vorliest:
„Toller Sound, Jungs, weiter so!“ oder was Oberflächliches in der Art. Bei dir habe ich gemerkt, dass du meine Musik wirklich gespürt hast. Du hast geschrieben, dass der Abend dich sehr berührt hat. Da wusste ich, du hast verstanden.“
„Was…verstanden?“ hakte Sarah vorsichtig nach.
„Dass ich keine Performance gebe, sondern einfach ich bin. Dass ich über die Musik alles von mir preisgebe.“
Er hatte Recht. Genau so hatte sie es empfunden. Der Abend damals war ihr förmlich durch Mark und Bein gegangen. Und das nicht nur, weil die Band technisch perfekten Bluesrock präsentiert hatte.
Sie dachte an die Männer, die ihr bis dato begegnet waren:
Was für ein Unterschied zu Rob!
Vor einem Jahr hatte sie nach ihrem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften nach längerer Suche ihre erste feste Anstellung in einem Großunternehmen angetreten, war jetzt sozusagen eine Jungmanagerin mit vielversprechender beruflicher Zukunft. Allerdings fühlte sie sich nicht besonders wohl an diesem Platz. Aber sie war froh, überhaupt einen halbwegs angemessen bezahlten Job gefunden zu haben.
Die Männer aus diesem Umfeld waren in ihren Augen allesamt nichtssagende, blasse Anzugständer, Wichtigtuer in feinem Zwirn mit Schlips und Laptop, Speichellecker und Phrasendrescher, die mit Börsenzahlen und aufgeblasenem Business-"Denglisch" um sich warfen.
Nichts wussten die vom wirklichen Leben, gar nichts!
Frauen wurden von dieser Spezies nur nach ihrem Äußeren beurteilt, waren bestenfalls schmückendes Beiwerk zu ihrem eigenen Auftritt.
Ihr Blick fiel auf ein vergrößertes Foto, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Es zeigte einen sportlichen, jungen Mann mit windzerzausten halblangen Haaren, der nur mit Shorts bekleidet glücklich lachend einen anscheinend soeben selbst gefangenen Fisch in die Kamera hielt.
„Bist du das auf dem Foto, das da an der Wand hängt?“ fragte sie.
„Ja.“ antwortete er. "Das war vor ungefähr 10 Jahren, während meiner letzten USA-Reise, von der ich dir erzählt habe. Also noch vor meiner Erblindung. Damals wusste ich noch nicht, dass ich den Rest meines Lebens allein in dunkler Nacht würde verbringen müssen.“
Er sagte es völlig ohne Pathos, mit einer Prise Sarkasmus in der Stimme, aber sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Frage.
„Rob, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht….“
„Ist schon gut!“ fiel er ihr sanft ins Wort. „Mach’ dir keine Gedanken. Ich habe mich mit meiner Situation arrangiert.“
Aus seinem nur auf den ersten Blick beherrschten Gesichtsausdruck sprach plötzlich eine so abgrundtiefe Traurigkeit, dass ihr das Herz vor Zärtlichkeit schier überging.
Rob griff nach einer der Gitarren, die neben dem Sofa standen, und begann, sie zu stimmen.
Er legte den Kopf langsam zurück und schloss die Augen. Es kam ihr vor, als ob seine Züge sich seltsam entspannen und er tief in seinem Inneren einen vertrauten, heimeligen Raum betreten würde.
Seine Finger glitten über die Saiten und er intonierte mit einer Mischung aus unglaublicher Leichtigkeit und Intensität die ersten Takte eines Songs von Kris Kristofferson.
Sie kannte den Text und formte mit dem Mund stumm den Refrain mit:
Come and lay down by my side
Till the early mornin´ light
All I´m takin´ is your time
Help me make it through the night
Als die letzten Töne verklungen waren, schwiegen sie lange.
Rob legte die Gitarre wieder beiseite und streckte seine Hand nach Sarah aus. Sie verstand die wortlose Geste und schmiegte sich wie selbstverständlich in seine Arme. Er hielt sie wie ein kleines Kind und vergrub seinen Kopf in ihrem Haar.
"Rob?"
"Ja?"
"Ich...ich würde gerne ein Stück mitgehen...durch...durch deine Nacht. Und ich...ich hab' ziemlich viel Zeit..."