Heute
«Endlich» dachte ich, als es läutete, und stand vom Sofa auf. Neugierig ging ich Richtung Tür. Ich hatte eine schlechte Nacht hinter mir, war stundenlang wach gelegen. Aus dem Fenster sah ich nun die ersten Sonnenstrahlen am Horizont und tröstete mich über die düsteren Gedanken der letzten Nacht hinweg.
Als ich die Tür öffnete, erwartete mich das kleine grauhaarige Männchen wie jeden Morgen und grinste mich schief an. «Na, was gibt’s?» fragte ich, als er nicht zu sprechen begann. Jeden Tag dasselbe Spiel. «Süßen Sonnenschein und eine gute Portion Glück» flötete Herr Heute mit heller Stimme. «Außerdem werden Sie eine außerordentliche Bekanntschaft machen» versicherte er. Ich bedankte mich und schloss die Tür hinter mir.
Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit; nach der anstrengenden Nacht gab es doch noch Zuversicht. Was es wohl mit der außerordentlichen Bekanntschaft auf sich hatte?
Da läutete es nochmals. Ich zögerte kurz und öffnete dann doch erneut die Tür. «Entschuldigen Sie» stammelte Herr Heute, «ich habe mich in der Adresse geirrt.» Ein starker Luftzug wehte ihm durchs Haar. «Für Sie sind heute Gewitter und ein grösserer Verlust geplant!» schrie er mir durch den Wind zu. «Es sieht ganz so aus, als ob Sie heute einen Unfa-» Ich knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Draußen donnerte es. Ich seufzte, verkroch mich im Bett und versuchte zu schlafen, doch die Gedanken von letzter Nacht holten mich wieder ein. Nach längerem hin- und herwälzen stand ich schließlich doch schlecht gelaunt auf – vielleicht würde mich die Arbeit ablenken.
Hektik. Lärm. Grelles Licht. Alles war weit weg. Nur die pochenden Schmerzen, die sich von meinem Arm in den ganzen Körper ausbreiteten, waren unangenehm nah.
Langsam ließ der Lärm nach, das Licht verdunkelte sich, das Pochen war nur noch dumpf zu vernehmen.
Ein regelmässiges Piepsen weckte mich aus unruhigem Schlaf. Eine unbekannte Stimme hatte im Traum zu mir gesprochen, doch das Piepsen verdrängte sie. Im Stillen verabschiedete ich mich von meinem neuen Traumfreund.
Vom Bettende her schimmerte mir ein weisses Etwas entgegen, das nur langsam Gestalt annahm.
«Sie hatten einen Unfall. Ein Baum wurde vom Blitz getroffen und stürzte auf ihr Auto. Sie wurden dadurch leicht am Kopf verletzt und haben den Arm gebrochen. Außerdem haben Sie verschiedene Quetschungen erlitten. Insgesamt ist Ihr Zustand erstaunlich gut – was man von Ihrem Fahrzeug nicht behaupten kann.» Bevor ich antworten konnte, klopfte es an die Tür, herein kam Herr Heute mit gelben Blumen im Arm. Ich war nicht sicher, ob ich mich freuen sollte.
Herr Heute lächelte mir zu. Von draussen hörte ich den Regen an das Fenster klopfen, die Sonnenblumen erhellten den Raum. Die Unfallbilder in meinem Kopf waren verflogen. Wage Erinnerungen an meinen Traum kamen zurück: eine ruhige Stimme, die wie zu sich selber sagte: «Jeder Tag liegt im Auge des Betrachters.» Ich blickte zu Herrn Heute und lächelte zurück.