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Ich bin eine Geschichte
Ich bin eine Geschichte
Am Anfang war ich noch sehr klein; ich erinnere mich gar nicht, wo ich hergekommen bin. Ich sei das Produkt einer Idee, wurde mir gesagt, dabei wurde ich aufgenommen, in die Arme geschlossen und liebgewonnen. Jetzt liege ich hier und schaue mir beim Wachsen zu. Der Mensch vor mir auf dem Stuhl, das ist der Autor. Ein Autor ist jemand, der Ideen hat, heißt es. Ich bin das Produkt seiner Idee. Das klingt gut! Dabei scheine ich auch das Produkt von viel Zeit zu sein. Viel zu oft musste ich hier ganz ruhig liegen bleiben, während der Mensch an mir arbeitete.
Manchmal arbeitete mein Autor nicht, dann sah ich ihn, wie er seine Stirn runzelte, und wie er seine beiden Hände tief in seine Haare vergrub. Nachdenken tut er, sagte mein Autor dann. Ja, nachdenken! So ganz genau weiß ich nicht, was das ist, aber es scheint sehr wichtig für mich und meine Gestalt zu sein. Oft waren die Nachdenkphasen sehr ungewöhnlich und auch ungewöhnlich lang. Ich musste eine lange Zeit in einer dunklen Kammer verbringen. Ich dachte, es wäre mein Schicksal, dort zu bleiben.
Aber, ich irrte mich und wurde eines Tages wieder ans Licht geholt. Ich hatte im Dunkeln sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich überlegte, was der Sinn des Lebens für mich ist. Was ist meine Aufgabe? Es war nicht sehr einfach, im Dunkeln eine Antwort auf meine Frage zu bekommen. Meine Freude war auch groß, als ich wieder zurück ans Licht kam, aber, aber den Sinn für mein Dasein habe ich noch immer nicht gefunden. Ich sehe mich wieder wachsen. Was passiert eigentlich, wenn ich immer weiter wachse? Das ist wieder eine Frage ohne Antwort.
"Fertig!" Die Stimme des Menschen verdrängt die Stille, die sonst immer Herr in diesem Raum war. Ich schaue auf und sehe in ein fröhliches und entspanntes Gesicht. Ist das der Sinn für mich? Ist es meine Aufgabe, den Menschen mit den Ideen glücklich zu machen? Ich schaue zu mir herunter. Ich bin also fertig mit Wachsen. Wenn das meine Aufgabe ist, den Autor fröhlich zu stimmen, dann gefällt mir das. Ich bin gut geworden, sagt der Mensch. Ich glaube, er ist jetzt sehr stolz. Ich weiß nicht genau, was Stolz ist, aber der Mensch hatte das oft erwähnt. Stolz!
Ich sehe, mein Lebensweg geht weiter. Ich bin sehr gespannt, was jetzt kommen wird. Ich werde bewertet werden. Das klingt gut. Es würde mich noch mehr freuen, wenn ich wüsste, was Bewerten ist. Mein neues Zuhause? Ich werde fortgehen? Wohin? Zu den anderen Geschichten? Ich wusste gar nicht, dass es auch noch andere Geschichten gibt. Dorthin? Da sind ja ganz viele Geschichten. Nein! Da möchte ich nicht hin. Ich habe Angst. Werde ich wieder in die Dunkelheit gesperrt?
"Hallo, du bist neu hier", sagt meine Nachbarin.
"Hallo", ist meine Erwiderung, "wo bin ich?"
"Das kann ich dir auch nicht sagen, ich bin auch erst seit kurzem hier. Wie heißt du?"
"Mein Name?"
"Ja!" Ich denke kurz nach und schaue nach oben.
"Ich heiße Ich bin eine Geschichte."
"Oh, das ist ein interessanter Name. Ich heiße Lautlose Freundschaft. Guck mal bei mir unten." Ich schaue Lautlose Freundschaft an. Sie sieht so stolz aus, wie mein Autor, und sie kann es gar nicht erwarten, bis ich endlich zu ihr nach unten gesehen habe.
"Was ist das?" Lautlose Freundschafts Stimme wurde noch stolzer, als sie sagt:
"Das ist", sie macht eine kunstvolle Pause, bevor sie fortfährt, "eine Kritik." Ein großes Raunen geht durch die Geschichtengesellschaft, und andere Geschichten sehen herüber, um die Kritik zu bewundern.
"Da hast du aber Glück", ruft eine Geschichte.
"Ich habe auch eine Kritik, ich habe auch eine Kritik", verkündet eine andere Geschichte.
"Das ist doch gar nichts. Ich, Das Lachen Eines Dritten, habe sogar schon drei Kritiken", erklärt eine tiefe Geschichtenstimme. "Ja da staunt ihr, oder?" Stille! Ich überlege, was der Sinn der Kritiken ist und beschließe, Das Lachen Eines Dritten danach zu fragen, als ich in diesem Moment grob von meinem Platz verdrängt werde.
"Mach Platz für Foxy Klaut Die Kokosnuss!" Der Neuankömmling Foxy Klaut Die Kokosnuss schaut mich grimmig an und teilt mir mit. "Pah, Ich Bin Eine Geschichte, du warst lang genug im Ausguck."
"Im Ausguck? Was ist das", möchte ich wissen.
"Klappe, ich bekomme gerade eine gute Kritik. Mein Autor ist echt clever." Kritik! Ich erinnere mich und frage laut:
"Das Lachen Eines Dritten, kannst du mir erklären, was es mit den Kritiken auf sich hat?" Stille! "Das Lachen eines Dritten?"
"Er ist weg", erklärt eine leise Geschichtenstimme.
"Weg? Was bedeutet das? Ich habe doch gerade mit ihr gesprochen!" Plötzlich werde ich wieder einen Platz weitergeschoben.
"Hallo zusammen", begrüßt uns die neue Geschichte. "Ich bin Käkse Aus Der Dose." Eine Geschichte fängt laut an zu lachen.
"Käkse Aus Der Dose. Was ist das für ein blöder Name?!"
"Muss das nicht Kekse heißen?", fragt eine andere Geschichte in der Mitte.
"Nein, mein Autor hat gesagt, dass das sein persönlicher Stil ist." Ich bekomme so viele Fragen, so dass ich gar nicht weiß, welche ich zuerst stellen soll.
"Achtung!" Lautlose Freundschaft stößt mich an.
"Was ist denn?"
"Du wirst gerade von einem Menschen gelesen." Stille! Ich kenne das. Mein Autor hatte mich immer sehr oft gelesen. Das waren schöne Momente. Ich mache mich bereit, um wieder diesen Moment zu genießen.
"Er ist schon fertig", sagt eine besonders lange Geschichte.
"Fertig? So schnell?" Die besonders lange Geschichte erklärt:
"Ja, das kenne ich, die Menschen sind hier sehr schnell im Lesen. Mein Autor war immer sehr langsam. Er las mich immer und immer wieder. Gestern war ein Mensch, der"
"Ruhe", unterbricht eine andere Geschichte. "Ich Bin Eine Geschichte bekommt eine Kritik."
"Was ist eine Kritik, und was ist ihr Sinn?", frage ich gespannt. Ich sehe Ratlosigkeit unter den Geschichten.
"Also, eine Kritik ist," beginnt eine lange Geschichte nachdenklich, "der Hinweis eines Menschen, dass er die Geschichte gelesen hat." Ich werde wieder einen Platz weiter gedrängt.
"Das ist Blödsinn", empört sich die Geschichte mit besonders vielen Tippfehlern, "Kritiken sind Verweise auf die eigenen Geschichten."
"Verweise auf eigene Geschichten? Ich verstehe das alles nicht", gebe ich verständnislos bekannt.
"Das tut mir leid", flüstert Lautlose Freundschaft mich an, ihr Blick ist auf meine Kritik gerichtet. "Eine negative Kritik."
"Eine negative Kritik? Was bedeutet das?" Von ganz weit hinten ruft eine Stimme:
"Kritik ist" In dem Moment gesellt sich eine neue Geschichte zu uns, und wir rücken alle einen Platz weiter.
"Weg", seufzt eine klare Geschichte, "jetzt werden wir nicht mehr erfahren, was Hans In Pech zum Thema Kritik sagen wollte."
"Ich bin die nächste, die geht", rief die Geschichte am letzten Platz.
"Guckt mal, Ich Bin Eine Geschichte bekommt wieder eine Kritik." Alle Geschichten verharren atemlos. Meine Fragen finden einfach keine Antwort.
"Wieder eine schlechte Kritik", bedauert mich Lautlose Freundschaft. Abermals rücken wir alle einen Platz weiter.
"Das gibt es doch nicht", ruft Käkse Aus Der Dose, "Eine Geschichte bekommt schon wieder eine Kritik, diesmal sind es sogar gleich zwei Menschen." Alle Geschichten starren mich unten an, und keine von ihnen sagt einen Ton. Dann endlich!
"Es sind nun insgesamt vier schlechte Kritiken", sage ich kleinlaut.
"Sieh mich an", sagt die längste Geschichte in der sich bewegenenden Gruppe traurig, "ich habe noch gar keine Kritik. Ich wäre für eine schlechte Kritik schon dankbar." Ich verspüre keinen Wunsch mehr, Antworten auf meine Fragen zu bekommen und schaue nur noch unbeteiligt zu, wie sich meine Position dem letzten Platz der Gruppe zusehends nähert.
"Hallo", höre ich eine lautlose Stimme. Ich schaue auf und sehe in das nicht sehr fröhliche Gesicht meines Autors. "Komm nach Hause!" Nach Hause, das sind sehr schöne Worte. Ich weiß zwar immer noch nicht, was Kritiken sind, aber ich weiß, dass die schlechten Kritiken mich heimbringen. Und zuhause ist es doch immer am schönsten!
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