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Ich bin soweit

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10.07.2003
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Ich bin soweit

Manchmal meine ich, zufrieden mit meinem Leben sein zu können. Vielleicht zufrieden sein zu müssen. Ich sitze hier in meinem eigenen Haus, ruhige Lage, nette Nachbarn. Zu meinen Füßen liegt Balu, der Familienhund, und im Fernsehen läuft mein Lieblingsfilm. Aus dem Kinderzimmer höre ich die ausgelassenen Stimmen von Marie, meiner Frau, und meinen beiden Söhnen, Kevin und Marcus. Die allabendliche Kissenschlacht ist in vollem Gange.

Ich habe einen Job, der mich ausfüllt und wichtiger: der unser Bankkonto füllt. Bei den Kollegen genieße ich größten Respekt und mein Freundeskreis ist groß genug, um ein kleines Stadion damit füllen zu können. Na ja, vielleicht nicht ganz so groß.
Doch der Gedanke an den Tod lässt mich nicht los, er ließ mich nie los. Er verfolgt mich selbst in den glücklichsten Stunden. Ich sehe ihn direkt vor mir, wie er lässig im Türrahmen lehnt und gelangweilt auf die Uhr sieht. Jetzt in diesem Moment. »Na, wie lange brauchst du noch? Können wir?« Das Wissen um seine Anwesenheit macht mich krank, lähmt meinen Körper, macht mich müde. Ich habe kaum noch die Kraft, seinen ständigen Blicken auszuweichen.

Aber im Lauf der letzten Jahre habe ich gelernt, meinen Begleiter immer mehr zu akzeptieren. Wir sind doch alle schon tot und warten nur darauf, an die Reihe zu kommen. Heute steht er bei mir im Türrahmen, morgen … wer weiß? Alles wofür ich lebe, wofür ich kämpfe … wozu? Es ist sinnlos wie Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen. Es spielt keine Rolle, ob ich arm bin oder reich, ob ich ein Haus baue oder unter der Brücke schlafe. Es ist vollkommen egal, ob ich jeden Sonntag in die Kirche gehe und jährlich einen großen Batzen Geld spende. Wozu morgens aufstehen und lästige Pflichten erfüllen? Letztendlich kommt er zu uns allen, ob wir wollen oder nicht. Ich glaube nicht, dass jemand in naher Zukunft einen Weg finden wird, den Tod auszutricksen, oder ihn wenigstens noch etwas hinzuhalten.

Ich vergleiche es immer mit dem Film »Auf der Flucht«, in dem ich die tragische Rolle des Dr. Kimble spiele. Ab und zu gelingt es mir, meinen Verfolger abzuschütteln, vielleicht schaffe ich es sogar, mir ein kleines, gemütliches Versteck einzurichten; trotzdem weiß ich, dass er und seine Helfer mir ständig auf den Fersen sind. Bis ich eingesehen habe, dass es gar nicht schlimm sein muss, jedenfalls nicht schlimmer als bisher. Ein glückliches Leben? Ja, das habe ich mir eingeredet. Eine Fassade, gebaut aus Styropor, das man grau angemalt hatte, damit es wie Beton aussieht.

Meine Ehe hat sich in eine langweilige Mischung aus Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit verwandelt, ohne dass ich es gemerkt habe. Warum verspüre ich schon morgens den Wunsch, mich in das Auto zu setzen und einfach wegzufahren? Immer weiterzufahren und nie mehr zurückzukommen? Warum verspüre ich keine Freude, wenn Kevin mit einer Eins nach Hause kommt oder mir sagt, dass er mich lieb hat? Meine Firma schreibt seit Monaten rote Zahlen und es wird von Personalabbau gesprochen. Aber das ist es nicht, was mich verzweifeln lässt. Er ist es, der mich um den Schlaf bringt. Aber ich stelle mich ihm.

Der Revolver ist im obersten Fach des Wohnzimmerschrankes. Der Schlüssel dazu befindet sich in meiner Hosentasche. Als ich aufstehe, um die Waffe zu holen, wedelt Balu glücklich mit dem Schwanz. Wissen Tiere, dass sie sterben werden? Oder glauben sie, dass es immer so weitergehen wird? Herrchen geht mit einem Gassi, beim Kunststück gibt es ein Leckerli.
Einen kleinen Augenblick hoffe ich, die Waffe möge nicht mehr da sein, aber natürlich liegt sie immer noch dort, eingewickelt in ein grünes Poliertuch. Marie hatte ich erzählt, sie sei zum Schutz vor Einbrechern, aber auch diese Lüge war nur Teil der Styroporfassade. Für meine Frau ist der Tod ein rotes Tuch, etwas über das man nicht spricht, als würde sie damit nie in Berührung kommen.

Ich lade den Revolver. »Frauen und Kinder zuerst«, höre ich einen Seemann der sinkenden Titanic rufen, auf der wir uns alle befinden und ich ergänze die eine Kugel im Lauf um drei weitere. Egoismus war immer eine Schwäche von mir, aber der Seemann hat Recht: »Frauen und Kinder zuerst«. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meinen Tod beweinen und einen Versager wie mich zu Grabe tragen müssten. Und ja, ich gebe es zu, ich will nicht alleine sein, dort, wo immer er mich auch hinführt.

»Ich bin soweit«, nicke ich ihm zu und er nickt zurück. Auf dem Weg zum Kinderzimmer kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich höre immer noch das fröhliche Lachen meiner Familie.

 

Hallo zusammen!

Puh, ehrlichgesagt fällt es mir schwer, mich zu einer Geschichte zu äußern, die ich vor über einem Jahr hier reingestellt habe. Der Abstand dazu ist viel zu groß, als dass ich mich noch hineinversetzen könnte.

@mac

Ich stimme dir in allen Punkten zu, natürlich kann man als Leser wahrscheinlich nur schwer nachvollziehen, warum der Prot. die Tat begeht.

Aber genau das wollte ich auch. Wenn man im wahren Leben von sowas hört, ist es auch keine Seltenheit, daß man verstörte, verzweifelte Angehörige sieht, die sich nicht erklären können, warum es soweit gekommen ist, weil ja alles so harmonisch und glücklich nach Außen hin gewirkt hat.

Natürlich hätte ich die Motive genauer aufzeigen können, aber das war nie meine Absicht. Ich hab nur an der Oberfläche gekratzt, hab ein paar Punkte in den Raum geworfen, wie z.B. die drohende Arbeitslosigkeit, die eintönige Ehe usw. Allerdings hatte ich nie den Vorsatz, eine tiefgründige Psychenanalyse des Prots. zu erstellen. Ich bin nicht mal sicher, ob mir das so gut gelungen wäre, daß es nicht gekünstelt gewirkt hätte.

Ich schreibe normalerweise ausschließlich Horrorstorys, und diese Geschichte war nicht mehr als ein kleiner Ausflug in ein mir fremdes Genre.

Wie gesagt, ich hatte einen Prot. vor Augen, der an Depressionen leidet, dies aber gut verbergen kann und der mit sich und der Welt schon länger abgeschlossen hat.

Die Geschichte ist genau so lang (oder kurz *g*) geworden, wie ich sie haben wollte, ohne selbst in schlechte Stimmung zu verfallen ;-)

Jedenfalls danke für eure Kommentare!

Ach ja:

Dein Stil ist routiniert und sicher. Aus meiner Sicht wäre es an der Zeit, tiefer in die Psychologie Deiner Prots vorzudringen und als Autor auch Ursachen aufzudecken und/oder Lösungen aufzuzeigen.

Meintest du damit DIESE Geschichte oder generell meine Geschichten? Hat mich ein wenig stutzig gemacht.

Viele Grüße
Mike

 

Hallo Mike,
Diese Geschichte funktioniert nur, weil der Protagonist sich entschließt das Unvollstellbare zu tun. Ob er es getan hat lässt du offen. Ich vermute mal er hat es nicht getan. Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich.
Goldene Dame

 

Hallo Dame!

Bin leider etwas ratlos über deine Kritik. Hab nicht rauslesen können, ob du sie jetzt Kacke (auf deutsch gesagt) oder ganz passabel findest.

Zu deiner Frage: doch, der Prot. wird tatsächlich das tun, was er vorhatte, holt die Waffe und ... naja.

Wenn das nicht aus dem Text erkennbar ist, hab ich wohl schlechte Arbeit geleistet :-(

Gruß
Mike

 

Hallo Mike,
Ob gut oder schlecht, soweit will ich mich, auf deutsch gesagt, nicht aus dem Fenster hängen. Ich weiß selbst nicht so genau, was es ist. Sie ist nicht schlecht. Sie hat mich einfach nur nicht überzeugt. Ich kaufe dem Prot nicht ab, dass er seine Familie abmurkst. Eine solche Fantasie zu haben, das traue ich ihm zu.
GD

 

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