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Ich bin soweit
Manchmal meine ich, zufrieden mit meinem Leben sein zu können. Vielleicht zufrieden sein zu müssen. Ich sitze hier in meinem eigenen Haus, ruhige Lage, nette Nachbarn. Zu meinen Füßen liegt Balu, der Familienhund, und im Fernsehen läuft mein Lieblingsfilm. Aus dem Kinderzimmer höre ich die ausgelassenen Stimmen von Marie, meiner Frau, und meinen beiden Söhnen, Kevin und Marcus. Die allabendliche Kissenschlacht ist in vollem Gange.
Ich habe einen Job, der mich ausfüllt und wichtiger: der unser Bankkonto füllt. Bei den Kollegen genieße ich größten Respekt und mein Freundeskreis ist groß genug, um ein kleines Stadion damit füllen zu können. Na ja, vielleicht nicht ganz so groß.
Doch der Gedanke an den Tod lässt mich nicht los, er ließ mich nie los. Er verfolgt mich selbst in den glücklichsten Stunden. Ich sehe ihn direkt vor mir, wie er lässig im Türrahmen lehnt und gelangweilt auf die Uhr sieht. Jetzt in diesem Moment. »Na, wie lange brauchst du noch? Können wir?« Das Wissen um seine Anwesenheit macht mich krank, lähmt meinen Körper, macht mich müde. Ich habe kaum noch die Kraft, seinen ständigen Blicken auszuweichen.
Aber im Lauf der letzten Jahre habe ich gelernt, meinen Begleiter immer mehr zu akzeptieren. Wir sind doch alle schon tot und warten nur darauf, an die Reihe zu kommen. Heute steht er bei mir im Türrahmen, morgen … wer weiß? Alles wofür ich lebe, wofür ich kämpfe … wozu? Es ist sinnlos wie Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen. Es spielt keine Rolle, ob ich arm bin oder reich, ob ich ein Haus baue oder unter der Brücke schlafe. Es ist vollkommen egal, ob ich jeden Sonntag in die Kirche gehe und jährlich einen großen Batzen Geld spende. Wozu morgens aufstehen und lästige Pflichten erfüllen? Letztendlich kommt er zu uns allen, ob wir wollen oder nicht. Ich glaube nicht, dass jemand in naher Zukunft einen Weg finden wird, den Tod auszutricksen, oder ihn wenigstens noch etwas hinzuhalten.
Ich vergleiche es immer mit dem Film »Auf der Flucht«, in dem ich die tragische Rolle des Dr. Kimble spiele. Ab und zu gelingt es mir, meinen Verfolger abzuschütteln, vielleicht schaffe ich es sogar, mir ein kleines, gemütliches Versteck einzurichten; trotzdem weiß ich, dass er und seine Helfer mir ständig auf den Fersen sind. Bis ich eingesehen habe, dass es gar nicht schlimm sein muss, jedenfalls nicht schlimmer als bisher. Ein glückliches Leben? Ja, das habe ich mir eingeredet. Eine Fassade, gebaut aus Styropor, das man grau angemalt hatte, damit es wie Beton aussieht.
Meine Ehe hat sich in eine langweilige Mischung aus Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit verwandelt, ohne dass ich es gemerkt habe. Warum verspüre ich schon morgens den Wunsch, mich in das Auto zu setzen und einfach wegzufahren? Immer weiterzufahren und nie mehr zurückzukommen? Warum verspüre ich keine Freude, wenn Kevin mit einer Eins nach Hause kommt oder mir sagt, dass er mich lieb hat? Meine Firma schreibt seit Monaten rote Zahlen und es wird von Personalabbau gesprochen. Aber das ist es nicht, was mich verzweifeln lässt. Er ist es, der mich um den Schlaf bringt. Aber ich stelle mich ihm.
Der Revolver ist im obersten Fach des Wohnzimmerschrankes. Der Schlüssel dazu befindet sich in meiner Hosentasche. Als ich aufstehe, um die Waffe zu holen, wedelt Balu glücklich mit dem Schwanz. Wissen Tiere, dass sie sterben werden? Oder glauben sie, dass es immer so weitergehen wird? Herrchen geht mit einem Gassi, beim Kunststück gibt es ein Leckerli.
Einen kleinen Augenblick hoffe ich, die Waffe möge nicht mehr da sein, aber natürlich liegt sie immer noch dort, eingewickelt in ein grünes Poliertuch. Marie hatte ich erzählt, sie sei zum Schutz vor Einbrechern, aber auch diese Lüge war nur Teil der Styroporfassade. Für meine Frau ist der Tod ein rotes Tuch, etwas über das man nicht spricht, als würde sie damit nie in Berührung kommen.
Ich lade den Revolver. »Frauen und Kinder zuerst«, höre ich einen Seemann der sinkenden Titanic rufen, auf der wir uns alle befinden und ich ergänze die eine Kugel im Lauf um drei weitere. Egoismus war immer eine Schwäche von mir, aber der Seemann hat Recht: »Frauen und Kinder zuerst«. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meinen Tod beweinen und einen Versager wie mich zu Grabe tragen müssten. Und ja, ich gebe es zu, ich will nicht alleine sein, dort, wo immer er mich auch hinführt.
»Ich bin soweit«, nicke ich ihm zu und er nickt zurück. Auf dem Weg zum Kinderzimmer kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich höre immer noch das fröhliche Lachen meiner Familie.