Ich und mein Affe namens Sid
Ich wohne in einem winzigen Zwei-Zimmer-Apartment und beinahe die Hälfte des Raumes, der mir als Wohnzimmer, Küche und Schlafstätte dient, wird von einem bis zur Decke reichenden Käfig ausgefüllt, in dessen dicken silbrig glänzenden Stäben sich die Reklametafel spiegelt, die vom gegenüberliegenden Haus in das Fenster strahlt und somit, was auch das einzig Gute daran ist, drastisch meine Stromkosten reduziert. Hinter diesen Stäben sitzt Sid. Er ist ein Gorilla und mittlerweile fast ausgewachsen. Wirklich beeindruckende Geschöpfe diese Gorillas. Sid kann mich mit einem einzigen Prankenhieb quer durch das ganze Zimmer an die gegenüberliegende Wand klatschen und gelegentlich tut er das auch. Jetzt allerdings ist er in eher gemütlicher Stimmung, wenn auch etwas trotzig. Vermutlich liegt es daran, dass sein Frühstück etwas kläglich ausgefallen ist. So jedenfalls sitzt Sid auf seinem Käfigboden, die Beine wie ein ungeschickt gefertigtes Origami zu einem Schneidersitz der Primaten-Art gefaltet und starrt mir, während ich von ihm abgewandt an einem kleinen Plastiktisch schreibe, mit seinen schwarzen Augen Löcher in den Rücken. Bisweilen gibt er fordernde Laute von sich. Er möchte Aufmerksamkeit. Vielleicht ist das nicht richtig von mir, aber ich habe mich entschlossen, ihn zu ignorieren. Ich brauche eine Auszeit von dem buchstäblichen Affentheater.
Wie bin ich überhaupt dazu gekommen, mir einen Affen zuzulegen? So genau kann ich das selbst nicht mehr sagen. Es war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung. Ich erinnere mich, offen gestanden, nicht einmal mehr daran, wann, wie und wo ich ihn gekauft habe. Alles was ich weiß ist, dass ich eines verregneten Morgens verkatert die Augen öffnete, unter Stöhnen aufstand und einen Schrank öffnete, um Kaffee herauszuholen. Doch bevor ich die Dose mit dem Pulver greifen konnte, flitze irgendetwas, das zu schnell war, um es mit meinen verkaterten Augen zu erkennen, durch mein Blickfeld und die Pulverdose war verschwunden. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, was passiert war. Zunächst glaubte ich, die Dose sei mir runter gefallen, was ich aber nach einem Blick in Richtung meiner Füße ausschloss. Da hörte ich ein merkwürdiges Quieken und drehte mich in die Richtung des Geräusches. Und dort saß auf eben jenem Tisch, an dem ich jetzt schreibe, ein Gorilla-Baby mit der Kaffeedose in der Hand und blickte mich an. Verwunderung oder Erschrockenheit wären an dieser Stelle wohl die angebrachten Emotionen gewesen, doch stattdessen durchströmte mich eine plötzliche Faszination für dieses mysteriöse Geschöpf. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Zuneigung oder gar Liebe war, die ich empfand. Es war schlicht Faszination. Und schon bevor ich es selbst wusste, hatte ich das Dasein des kleinen Gorillas akzeptiert und ihm bereitwillig einen Platz in meinem Leben eingeräumt. Im Nachhinein betrachtet, war dies eine unsäglich dumme Entscheidung, die ich heute zutiefst bereue.
Aber die ersten Jahre als Sid, so hatte ich ihn noch am selben Tag aus einer Laune heraus getauft, bei mir lebte, verliefen gut. Er war ausgesprochen pflegeleicht, buhlte um meine Aufmerksamkeit und lockte einige weibliche Vertreterinnen unserer Rasse an, die ich andernfalls wohl nie zu einem Aufenthalt in meiner bescheidenen Behausung hätte bewegen können. Ja, die Frauen liebten Sid, den kleinen, noch nicht ausgewachsenen wohlgemerkt. Und Sid liebte die Frauen. Er setzte sich auf ihre Schultern, spielte mit ihren Haaren, stahl ihnen das Essen vom Teller und knabberte an ihren Ohren. Doch auch Affen, so scheint es mir, kommen in die Pubertät. Sid wurde nicht nur größer und furchteinflößender sondern litt auch zunehmend an ernstzunehmenden Stimmungsschwankungen, die bei seiner immensen Kraft und seinem ungezügelt tierischen Charakter äußerst unschöne Folgen haben konnten. So wurden nach und nach die Frauenbesuche weniger und bald trauten sich nur noch meine engsten Freunde, die Sid seit seiner Kindheit kannten, in meine Wohnung. Aber auch ihre Besuche wurden immer häufiger von Sid durchkreuzt, der es nicht leiden konnte, wenn jemand anderes als er selbst im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stand. Er fing dann an zu brüllen (und der hat vielleicht ein Organ!) und gegen die Stäbe seines Käfigs zu schlagen, bis jede Form der gepflegten Konversation vollkommen undenkbar war und die Abende so im Regelfall ein frühes, ehrloses Ende fanden. Nun auch dieses Handicap wäre noch irgendwie zu verschmerzen gewesen, schließlich besteht ja für einen jeden Menschen die Möglichkeit, auch außerhalb seiner eigenen vier Wände die soziale Interaktion zu suchen. Und auch das gelang anfangs noch ganz gut. Aber bald bekam Sid ein beinahe unheimliches Gespür dafür, wann ich im Begriff stand, das Haus zu verlassen und dann fing er an zu zetern. Das war kein Problem solange er sich in seinem Käfig befand. Denn dann konnte ich einfach gehen. (Das einzig gute am ausgewachsenen Sid ist, dass er nur äußerst selten nachtragend ist. Am nächsten Morgen war er normalerweise froh, dass jemand ihm sein Frühstück brachte und die Vernachlässigungen des Vortags waren vergessen.) Doch ab und zu musste ich Sid aus seinem Käfig lassen, beispielsweise um denselben zu säubern (und ausgewachsene Gorillas…). Immer häufiger weigerte sich Sid aber, nach getaner Arbeit in seinen Käfig zurückzukehren. Inzwischen war er mir an Körpergröße und -kraft jedoch gänzlich überlegen. Ihn mit Gewalt zurück zu schieben, war mir unmöglich. Zu Beginn gelang es mir noch mit Tricks ihn wieder einzusperren. Am Anfang mithilfe von Futter und insbesondre mit Sids großer Leibspeise – rohes Steak, Bananen verabscheute er – ihn hinter Schloss und Riegel zu befördern. Aber Sid ist nicht dumm, wahnsinnig zwar, aber schlau. Er lernte die Tricks kennen und durchschaute sie. Ich war gezwungen kreativ zu werden. Einmal, als er partout nicht auf die Finte mit dem Steak reinfallen wollte, setzte ich mich an seiner statt in seinen Käfig und fing an, an dem Steak zu knabbern und Laute des Wohlgefallens von mir zu geben. Das wirkte, denn ich hatte ihm seinen Besitz streitig gemacht, was er unter keinen Umständen auf sich sitzen lassen konnte. Er schrie wütend auf und schleuderte mich einarmig zur Käfigtür hinaus, wo ich mich allerdings schneller, als er sich ausgerechnet hatte, erholte und mit einem triumphierenden Schrei eben die Tür in sein Gesicht warf, durch die ich eben noch so ehrlos geflogen war. Die Bemerkung, dass der Trick kein zweites Mal funktionierte, erübrigt sich wohl.
So kam dann also die Zeit, in der mir alle Finten ausgegangen waren. Umso mehr ich mich mühte, mit Bitten, Flehen, Drohungen und Strafpredigten Sid auf seinen Platz zu verweisen, desto mehr Macht räumte ich Sid ein. Er war physisch wie psychisch riesig geworden und nahm nicht länger nur die Hälfte meines kleinen Wohnzimmers ein, sondern auch (mindestens) die Hälfte meines gesamten Lebens. Ich kam immer seltener vor die Tür und oft ging ich selbst dann nicht aus dem Haus, wenn es mir gelungen war, Sid einzusperren, denn die verbitterten Kämpfe, die ich mit ihm führte, zeichneten sich in Form von offenen oder vereiterten Wunden und grässlichen Narben auf meinem gesamten Körper einschließlich des Gesichtes ab. Ich schämte mich sehr für diese Wunden, fühlte mich hässlich, mehr wie ein Tier denn ein Mensch und so wird es nicht schwer zu verstehen sein, dass ich mich vergrub und das Haus bald nur noch verließ, wenn es unbedingt erforderlich war. Sid wurde für mich zu einer riesigen Bürde.
Habe ich versucht ihn zu verkaufen? Klar, aber das stellt sich als unmöglich da. Ich bin in vielen Zoos und Tierparks gewesen und habe mit weiteren in der ganzen Welt Kontakt gehabt. Niemand will ihn haben. Sid ist zwar gesund, sagen sie, aber er hat sein gesamtes Leben alleine verbracht und es ist undenkbar ihn in das soziale Gefüge einer Herde einzubinden. So ungern ich diese Antwort vernehme, so gut kann ich sie nachvollziehen. Warum aber nicht zu drastischeren Mitteln greifen und ihn erschießen oder elendig in seinem eigenen Dreck verrecken lassen? Nun, trotz allem was Sid mir angetan hat, trotz dieser gewaltigen Bürde, die er mir auferlegt, würde ich es nie fertigbringen, ihn zu töten. Ich kann es nicht ganz erklären. Er scheint ein Teil von mir geworden zu sein. Zwar ein Teil, den ich belastend finde, aber eben doch ein Teil. Ein konstitutives Element meiner eigenen Identität sozusagen. Ihn zu töten hieße, einen Teil von mir selbst zu töten. Es hieße meine eigene Identität zu beschneiden und das erscheint mir falsch und unehrlich und gleichsam macht es mir Angst.
Was werde ich tun? Ich schätze, ich muss akzeptieren, dass es Sid gibt, dass er einen großen Teil meines Lebens für sich beansprucht. Aber vielleicht – und diese Hoffnung bin ich noch nicht bereit zu begraben – wird es mir eines Tages gelingen mich mit Sid zu arrangieren. Vielleicht verändert er sich auch noch. Vielleicht wird er ruhiger, wenn er erstmal aus der Pubertät ist. Vielleicht werden wir am Ende sogar gute Freunde. Dieses „Vielleicht“ macht „viel“ „leicht“ und darum werde ich es hüten und bewahren.
Und Sid? Nun, ich bin mir sicher. Der bleibt mir noch eine Weile erhalten.