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Ihre letzten Stunden
Wie in Trance stand er da, den starren Blick eisern aus dem Fenster gerichtet.
In seiner rechten Hand hielt er eine langsam verglimmende Zigarette, deren Asche lautlos zu Boden fiel. Der letzte Zug war gerade vorbeigefahren. Es dämmerte schon leicht, nur noch ein paar Sonnenstrahlen erkämpften sich mühsam den Weg in das Hotelzimmer und ließen George in einem schimmernd weißen Licht erscheinen. Sein Gesicht wirkte blass und seine rauen Züge waren nun deutlich zu erkennen. Seine Frau Eve saß in einem einfachen schwarzen Ledersessel, ganz in ihr Buch vertieft. Sie ahnte nichts von der grausamen Nachricht, die George heute Mittag von seinem Arzt erfahren hatte. „Sie werden diese Nacht höchstwahrscheinlich nicht mehr überleben“, das war das letzte was George noch wahrgenommen hatte. Er konnte es nicht glauben, konnte es einfach nicht fassen. Sollte denn wirklich alles vorbei sein? Nie zuvor hatte er so ein Gefühl erlebt. Es war grausam, es war das schrecklichste, was er je gefühlt hatte. Er wünschte sich er würde jetzt in seinem Bett liegen, aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen ist. Doch es war die bittere Realität. Seine größte Sorge war nicht, dass er sterben würde. Nein, es war der Gedanke daran, dass er seine Eve, seine über alles geliebte Eve einfach so im Stich lassen würde. Mit diesem Gedanken konnte er sich einfach nicht abfinden. Doch er musste es ihr sagen, denn es war ihr letzter gemeinsamer Abend, ihre letzte gemeinsame Nacht.
„Eve, Schatz, ich muss mit dir reden“, sagte er mit leiser rauer Stimme. „Kann das denn nicht noch warten, ich bin grade mitten im Lesen.“ „Nein, ich…ich muss jetzt mit dir reden. Schatz, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber ich muss“, leise fing er an zu schluchzen, „Ich liebe dich, das musst du wissen! Aber es werden unsere letzten gemeinsamen Stunden sein heute und ich möchte nicht, dass wir sie so vergeuden. Ich möchte bei dir sein, die ganze Zeit, ich möchte dich noch einmal küssen, ich möchte dich umarmen…“ „Wovon redest du denn?“, unterbrach sie ihn, „ Ich verstehe nicht was du meinst Schatz! Wieso denn unsere letzten gemeinsamen Stunden?“ „Ich war heute Mittag bei keinem Geschäftsessen, ich war beim Arzt“, er stockte kurz, sein Atem wurde immer schwerer, es fiel ihm schwer überhaupt noch zu reden, „ Die Werte sind da. Und ich…ich werde dich so vermissen!“ Ein langes Schweigen breitete sich im Zimmer aus, wie ein dunkler Schleier. Niemand sagte auch nur ein Wort, beide waren nicht fähig zu sprechen. Nach endlosen Minuten des Schweigens stand Eve auf. Schweren Schrittes bewegte sie sich auf ihren Mann zu, der immer noch schweigend da stand. „George, sag, dass das nicht wahr ist, bitte! Sag mir doch, dass das alles nicht wahr ist!“ „Doch!“ Mehr brachte er nicht hervor. Verzweifelt fing Eve an leicht gegen Georges Brust zu schlagen. Die heißen Tränen rannen nun, wie ein reißender Fluss über Eves Gesicht. Er schloss sie fest in seine Arme und es schien, als würde er sie niemals mehr loslassen. Ewigkeiten verweilten sie noch so und nahmen ihre Umwelt gar nicht mehr wahr. Was jetzt noch zählte waren er und sie und niemand sonst auf dieser doch so unwichtig erscheinenden Welt. Beide hatten inzwischen aufgehört zu weinen und legten sich jetzt ins Bett. Arm in Arm lagen sie da und nach Stunden der Stille flüsterte Eve leise: „Wir schlafen einfach nicht ein. Hörst du, du darfst nur nicht einschlafen, dann wird alles wieder gut!“ Doch alles blieb still, George antwortete nicht. Tränen stiegen Eve in ihre sonst so leuchtend blauen Augen, Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung.
Nun war es geschehen, es war vorbei!