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Im Herbst
Oft fiel es ihr schwer, etwas Sinnvolles zu tun, obwohl sie den Gedanken mochte, am nächsten Tag in einer schöneren Welt aufzuwachen – wenn ich nur den Teppich staubsauge oder meine Wäsche auf die Leine im Garten aufhänge; sobald ich den Tag nutze, ihm eine Bedeutung gebe, etwas Achtsamkeit und Güte. Aber sie wusste auch, dass der Abend kommt; wenn sie träge, wie betäubt, vorm Fernseher saß, ihr Butterbrot aß und schlechte Filme im ersten Kanal anschaute, bis sie müde war, und sie war früh müde, schon um acht, manchmal um halb Neun, dann putzte sie sich die Zähne, zog ihr Nachthemd an; und lag im Bett wie ein Kind, wenn die Schatten näherkrochen. Meistens stellte sie das Radio an, Hörbücher um diese Uhrzeit, dazu schlief sie ein ... Oder träumte von ihrer Jugendliebe im Sommerlager: Händchenhalten, der erste Kuss. Nachts im Zelt eine warme, verstohlene Hand auf ihrer Brust, die schon wuchs, und der Regen fiel – lang bevor ihr Mann, der Wolfgang, in ihr Leben trat, mit langem Haar und Schlaghosen.
Morgensonne, ein Schein, der scharf und golden wäre, hätte sie die Fenster geputzt, heute ein milchiger Fleck. Sie holte Butter aus dem Kühlschrank und den Käse; füllte Wasser in einen Topf, stelle ihn auf den Herd, drehte auf. Sie öffnete die Schublade, zog einen Kaffeefilter aus der Packung; setzte sich an den Klapptisch, wartete, bis Dampf aus dem Deckel fauchte. Und frühstückte, obwohl sie keinen Hunger hatte; keine Lust, sich zu duschen, geschweige denn zu baden, schon gar nicht in der Nasszelle für Gäste im Erdgeschoss: ein Bad ohne Fenster, wo der Schaum nie blütenweiß, sondern gelb war durch die Glühbirnen eines Schminkspiegels, vielleicht für Schauspieler, Stripperinnen oder Clowns – den sie, vor Jahren, auf einem Flohmarkt gekauft hatte, um neuen Glanz ins Haus zu bringen. Vergeblich. Dort, in dieser Badewanne, hatte sie Wolfgang gepflegt, wenn er zu krank, zu erschöpft war durch den Krebs und die Chemo, dass er nur noch unten im Wohnzimmer lag, unter seiner bunten Steppdecke, und nicht mehr im Ehebett.
Mit dem Waschlappen und der Seife wusch sie ihr Gesicht, den Hals, unter Achseln und Busen; Scham und Po. Sie trocknete sich ab, kämmte ihr Haar, es war nicht fettig, bloß stumpf von grauen Strähnen, und zog Jeans und T-Shirt an. Danach prüfte sie, ob alle Hähne fest verschlossen waren, ein Kindheitstrauma und Ursache ihrer Angst: Als Mädchen stand sie im Bad, die Wanne war schon randvoll, da ist die Glühbirne geplatzt, plötzlich im Dunkeln, bei geschlossener Tür – nur das überlaute Gluckern des Wassers.
Renate ging zum Briefkasten: leer. Gottseidank! Keine Rechnungen. Erwachsen bist du, wenn die Monster unterm Bett dort eingezogen sind ... Ja, sagte sie. So ist das halt. Sie hatte ein paar Mark extra in der Tasche, solange sie im Tante-Emma-Laden arbeiten konnte, bis Mai: die Regale auffüllen, Waren bestellen; manchmal an der Kasse. Jetzt stand auf dem Kalender von der Apotheke: August 1989, mit einer kitschigen Landschaft – und sie war allein, arbeitslos. Ihre Witwenrente stopfte zwar die Löcher, trotzdem waren keine Sprünge drin.
Sie schloss die Haustür ab, obwohl das nächste Haus einen Kilometer entfernt war, hierhin verirrte sich keine Seele ... Allein mit der verwilderten Katze, die manchmal, im Winter, im Treibhaus schlief und weder Futter noch Milch annahm, solange sie in Reichweite blieb.
Beide Hände in den Taschen folgte sie dem Feldweg zum Wald: Die ersten Pflanzen welkten schon, manche Stängel rotbraun und hart, die Blüten hingen zerfranst vom Unwetter gestern. Von Wolfgang kannte sie ihre Namen, auch die lateinischen: Rainfarn, Goldrute; Urtica, die Brennnessel.
Der Geruch des Sommers war fort, nach Staub, warmem Holz und Kräutern, eine Kühle hing in der Luft, etwas Kaltes. Die Sonne hinter Wolken. Und es war still. Im Schatten der Nadelbäume fror sie. Renate kehrte um.
Hör hin: Etwas passiert.
Wie oft hatte sich Wolfgang als Lehrer aufgespielt, und sie hasste es, immer noch: seine Rechthaberei; aber es wäre wohl seine Bestimmung gewesen, nicht diese öde Arbeit in der Druckerei, die er annahm; sich die Haare abrasierte: Schutzvorschriften. Bevor ihr Kind kam, eine Tochter, Julia.
Ach, wie schön er war!
Beim Unfall mit dem Auto, sie hätte ihn fast vom Fahrrad gefegt, weil er zu schnell, mit wehender Mähne, um die Ecke gerauscht kam – ein Schock; doch er lachte nur, sein freies, wunderbares Lachen, seine grünen Augen; und gab ihr diese Karte fürs Konzert. Und sie ging hin, in die verrauchte Kneipe, die nach Bier und Haschisch stank, heimlich, denn ihre Eltern hätten das nie erlaubt. Und später mit zu ihm, verlor ihre Unschuld. In seinem Bett aufzuwachen, während er am Fenster eine Zigarette rauchte ...
Wind raschelt im Gras.
Kein Spatz im Brombeerstrauch.
Renate betrat das Treibhaus, es war beschädigt: Ein Hagel hatte die Deckgläser zerschlagen, lose geflickt mit Einkaufstüten, mit braunem Tesafilm; es regnete rein. Graue Tomaten. Selbst die Kakteen verschrumpelt und tot. Eine Schande. Hier drin war sie ihm am nächsten, in seinem kleinen Reich; fühlte sich seltsam beschützt zwischen leeren Blumentöpfen, einem Sack voller Erde und Dünger aus Granulat, der chemisch roch. Sie stellte das Radio an, ein Grundig, hörte Schlager, Nachrichten ... wird das Unwetter heftige –
Sie schaltete ab.
Halb elf, und sie wusste nichts mit sich anzufangen: Wenn sie jetzt schlief, war sie abends stundenlang wach. Essen wollte sie nicht. Staubwischen? Vielleicht den Rasen mähen. Nein. Stattdessen setzte sie sich auf die klebrige Bank unterm Pflaumenbaum, aus dem Harz tropfte und starrte auf ihre Hand, auf die Narbe, auf das Lederarmband, das ihm gehört hatte: Glasperlen, Indianerschmuck – und lehnte sich zurück: Am Himmel türmten sich Wolken auf, grell und kränklich.
Das sind Cumulonimbus.
Ja, weiß ich!
Geh rein.
Im ersten Stock war das Kinderzimmer, noch so, wie Julia es verlassen hatte, mit den Stofftieren, dem Schulranzen, den Postern einer Boyband, sogar die selbstgemalten Bilder hatte sie zurückgelassen – und rechts die Nähkammer, sowohl eine antike Maschine mit rostigem Pedal, von Großmutter, als auch die moderne, elektrische. Ihre Eltern hatten sich durchgesetzt, sodass sie Bürokauffrau lernte, anstatt ihren Träumen zu folgen: ausgefallene Mode zu machen, die auf den Laufstegen der Welt gezeigt wird. Oder Ärztin zu werden, vielleicht Biologin. Ja, sie hatte immer gerne genäht, für Wolfgang, für ihre Tochter, sich selbst ... Nach seinem Tod die Klamotten in eine Truhe auf dem Dachboden geworfen, in der seine alten Platten lagen: Pink Floyd, natürlich, Beatles, Zappa. So oft gehört, wenn Renate bei ihm war, in seiner Studentenbude, mit den Fotos von Lennon und Mao an der Wand, eine Hanfpflanze im Topf, klar; und Räucherstächen – und dann, eines Tages, Jahre später, nichts mehr, nur Radio.
Von oben, am Fenster, sah sie abgeerntete Felder, deren Stoppeln krause Muster formten – dahinter der Fluss, heute nicht fröhlich glitzernd, sondern stumpf wie Eisen. Am Himmel ragten Wolken auf, jodbraun, fast schwarz. Da kommt was runter, sagte sie. Ich muss den Keller abdichten.
Auf dem Teppichläufer, der muffig roch, ging sie abwärts zum Flur; rechte Tür auf und die Treppe zur Ölheizung hinab, vorsichtig, denn die Stufen waren aus Stein, sehr glatt. Hinten lag die Vorratskammer: Regale voll Einmachgläser, Birnen und Bohnen: eine konservierte Jahreszeit, dazu Marmelade und staubige Kartoffeln in einer Holzkiste. Wein; Bier, längst abgelaufen, noch von ihm; sie selbst trank nicht, hatte es auch nie vertragen ... Alkohol ist der Teufel.
Nur ein Genussgift.
Schlimm genug!
Hastig zerrte Renate eine Mülltüte zwischen Waschmaschine und Trockner hervor, stopfte sie in den Bodenspalt der Tür. Sie prüfte die Luken: beide Riegel fest verschlossen. Gut. Das sollte reichen. Wo sie schon hier unten war, füllte sie einen Beutel mit Kartoffeln, vielleicht ein Pfund – hoch zur Küche, um sie ungeschält mit viel Salz zu kochen. Ihr Mittagessen, dazu Remoulade und Pfeffer. Sie hatte Lust auf Salat, aber nicht die Kraft, ihn zu machen. Müde saß sie am Tisch, strich die Wachsdecke glatt: Staub an ihrer Handfläche.
Nieselregen setzte ein ...
Beim Donner schreckte sie hoch. Jetzt Blitze in rascher Folge, ein Stakkato, ehe der Schauer kam, erst wenige Tropfen, die schlierig auf den Scheiben abflossen, dann heftig: Hart klickerte er aufs Treibhaus und prasselte über den Kies.
Sturmwind raufte die Bäume.
Renate stellte die Kochplatte ab, obwohl die Kartoffeln noch nicht gar waren, und zog sich ins Wohnzimmer zurück: Wenige Orte, an denen sie sich geborgen fühlte, sein Sessel aus Studienzeiten, der Stoff längst verblasst und fadenscheinig, war einer davon. Manchmal sah sie Wolfgang dort sitzen, als Gespenst, im Schein der Glotze, nach der Arbeit, die aus dem lebenslustigen Spinner, in den sie schockverliebt gewesen war, einen bitteren Mann machten; jeden Tag das Bier im Schoß, er trank gierig – später todkrank. Nein, er wurde nie laut, hätte niemals die Hand gegen sie oder ihre Tochter erhoben, sondern zog sich zurück, lebte in einer inneren Welt, zu der sie keinen Zugang finden konnten.
Seitensprünge? Vielleicht; früher ganz bestimmt: Ein Blumenkind, ein Tunichtgut war er, so schlau, voller Witz und Charme; der gerne große Reden schwang: über Spießigkeit, das Bürgertum, über Vietnam und Hồ Chí Minh; über die Ureinwohner der USA – im Sitzkreis mit Freunden und Freundinnen, während sie ihn aushielt, mit dem kleinen Gehalt. Um Wolfgang an sich zu binden, ließ sie die Pille weg, wurde schwanger. Später Hochzeit, ihre Eltern hatten drauf gedrängt, soll das Kind in Schande leben; und die erste Wohnung, klein, ein Küchenfenster zum Hof; der Kochgeruch von Eiern und Speck in den nikotingelben Gardinen.
Als sie das Haus auf Raten kauften, da blühte Wolfgang wieder auf: Er liebte den Garten, das Treibhaus, selbstgebaut; hatte den grünen Daumen: Auch gebrochene Äste treiben neue Blätter; man kann Stecklinge einpflanzen, sobald sie erste Wurzeln haben ... Doch der Schatten kam zurück.
Sein trauriges Schweigen.
Dieser Tag, als er die Diagnose mit nach Hause brachte – und Wodka, um sich aus der Welt zu schießen; nach einer Stunde konnte er kaum noch stehen, kein gerades Wort rausbringen; lallend kam er zur Küche, stolperte über eine Falte im Teppich, wäre umgekippt, sie wollte ihn fangen, doch er war so schwer! Sie stürzten zu Boden, und dabei schlug die Flasche auf ihre Hand, brach: Eine Scherbe schnitt tief ein, daher die Narbe. Seitdem konnte sie die Finger schlecht bewegen.
Ihr fröstelte. Renate setzte sich, nahm die Steppdecke von der Lehne und mummelte sich darin ein ...
Eingenickt; erst am Abend wieder wach. Der Regen rauschte, ein Strömen, das Haus und Garten umgab. Ich muss im Keller nachsehen, seufzte sie, aber der Klang war tröstend, daher schmiegte sie sich ans Kissen und döste bis zur Nacht.
Benommen, wusste erst nicht, wo sie war, schälte sie sich aus den Polstern. Im Flur knipste Renate die Lampe an, ließ sie brennen, während sie ins Bett ging, ohne Zähne zu putzen. Sie zog die Jeans aus und legte sich hin. Nicht den Arm auf seine Hälfte legen! Aber heute tat sie es doch: das kühle, leere, weiche Laken. Vielleicht noch Radio hören, flüsterte sie zu ihm; war eingeschlafen.
Am Morgen schweres Grau. Noch immer goss es in Strömen: Der Wind trieb Regen gegens Fenster.
Im oberen Flur legte sie den Lichtschalter um: Nichts. Auch unten war es dunkel. Ratlos, in Bademantel und Puschen, stand Renate auf der Treppe, bevor sie ins Nähzimmer ging – und sah beklommen, dass der Fluss übers Ufer getreten war, schlimmer noch: Der untere Rand des Ackers war ausgefranst, sodass Furchen einen Teil des Wassers brachen und nach Süden ablenkten ... zum Haus.
Ich muss die Feuerwehr rufen, keuchte sie. Aber im Dorf gab es keine, und die nächste Stadt war eine Autostunde entfernt.
Mein Gott.
Renate rannte ins Schafzimmer, warf Mantel und Hausschuhe ab und ließ sie liegen, zog ihre Sachen von gestern an. Die Treppen runter; aber im Keller war keine einzige Regenpfütze ... Trotzdem stapelte sie alles, was am Boden stand, in die Regale und legte zwei gerollte Lappen extra vor die Tür.
Gut so.
Wieder am Fenster: Aus der Ferne wie am Meer, sobald die Tide ansteigt, doch keine Möwen über dem Watt wie 1973 … sich in der Sonne zu aalen, im Urlaub ein Buch zu lesen; Wolfgang und Julia haben eine Burg für Barbie gebaut. Kein Sand, sondern Schlick kroch langsam näher – urplötzlich schwoll das Wasser an, riss Wildgras und Steine mit sich, bevor der Acker in einem Erdrutsch versank:
Die Schlammlawine rollte auf sie zu!
Die Panik kam, Hände eiskalt: eine Ader klopfte am Hals. Sie wollte zum Sessel und die Decke um ihre Knie schlingen, in Schockstarre, wie im Bad, als die Glühbirne platzte; bis die Mutter reinkam. Aber sie riss sich zusammen. Mechanisch lief sie zur Küche und öffnete den Kühlschrank, nahm so viel Essen, wie sie tragen konnte, Milch und die letzte Sprudelflasche heraus, verstaute alles im Beutel.
Da war ein Schwappen, dann Laute, die nicht von dieser Welt schienen: ein Scharren, ein feuchtes Reißen wie von Hunden, von Wölfen. Als sich der Teppich dunkel färbte, als würde jemand im Flur verbluten, rannte sie los.
Hinter ihr klirrte Glas, und sie sah doch zurück: Ein Holzbalken, der wogend in der Flut trieb, war durchs Fenster geschlagen: gezacktes Loch, durch das Wasser einströmte, bis die Scheibe zerbrach – und ein Schwall ergoss sich auf die Fliesen, graubraun wie Haferbrei, spülte Klapptisch und Stühle krachend gegen die Wand. Sogar der Kühlschrank geriet ins Wanken, kippte, bekam Auftrieb, schwamm wie eine Boje.
Bis zur Hüfte stand sie jetzt im Schlamm, der kühl und klebrig war; mühsam kämpfte sie sich zurück, wobei die Flut das Wohnzimmer nahm, den Sessel verschluckte, gegen die Haustür brandete, dessen Angeln knarzten.
Wie ein Vogel stakste Renate die Treppe empor und stellte den triefnassen Beutel ab – hockte sich auf den Absatz: Wütend, trotzig sah sie mit an, wie die braune, stinkende Brühe zu ihr aufstieg, Stufe für Stufe, als hätte sie die Flut angezogen, irgendwie herbeigerufen.
Ein Blitz, grell und kalt auf den Tapeten; ein Donner, der das Haus durchfuhr. Sie löste sich aus ihrer Starre.
Der Dachboden!
Dort bist du sicher.
Sie stapfte ins Bad, stellte die Dusche an: Noch fiel Trinkwasser raus, klar und kalt. Zitternd wusch sie den Dreck von der Haut, nahm ein Handtuch; zog alte Wäsche an.
Füll die Wanne und das Waschbecken voll!
Und sie tat es. Danach holte sie den Hakenstab für die Falttreppe aus einer Ecke, wo auch der Staubsauger stand; und zurück, am Fenster vorbei, und ihr stockte der Atem: Das Treibhaus war nicht geflutet, sondern einfach: weggespült – dafür trieben Autoreifen, Mülltüten, ein Fernseher und ein Fahrrad ohne Kette in den Fluten.
Und da sah sie die Katze, deren Fell wie bei einer Ölpest glänzte; panisch an ein Regalbrett gekrallt, das sich in der Bank verkantet hatte und von dem sie abrutschte. Jaulend! Renate drehte sich weg, wollte es nicht mit ansehen.
Sirenen einer Feuerwehr, weit entfernt.
Sie hing den Stab in die Öse, zog so die Treppe runter. Auf der mittleren Stufe sah Renate zurück, doch die Brühe war nicht mehr gestiegen.
Erneut das Geschrei der Katze.
Im Speicher standen Dinge wie Treibgut verstreut: Kartons, stockfleckig, mit Deko drin: eine Lichterkette und Christbaumkugeln. Ihre Schneiderpuppe, längst verstaubt. Und ein Gemälde im Goldrahmen: urige Wälder, davor eine Schafsherde, sehr kitschig, noch von Opa; an der Schrägwand stand auch sein Grammophon.
Blitze flackerten. Und die Katze schrie, schrie!
Ich muss ihr helfen, sie stirbt sonst.
Nein, du bringst dich in Lebensgefahr ...
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie die Hände auf die Ohren presste, wiegte sich vor, zurück – dann, wie abgerissen, waren die Laute fort, nur das Malmen der Wassermassen, die das Haus umspülten.
Ich hätte sie retten müssen.
Nein. Das ist der Lauf der Welt: Menschen, Tiere, alles stirbt: Im Frühling wächst das Kraut; die Blüte bringt die Frucht hervor; später Herbst, der Winter. Und aus den Samen ...
Verdammt, Ich hätte dich nie heiraten dürfen. Ich hätte das Kind abtreiben sollen ...
Was redest du‽
Im Dunkeln, umringt von fahlen, geometrischen Flächen: Kreise, Quadrate, da, plötzlich, hörte sie wieder ihr Geschrei, wie vom Kleinkind. Nein, nein, fluchte sie und sprang auf.
Renate verstellte die Kartons, bis sie den richtigen fand; klappte ihn hastig auf, wühlte darin ... das Indianerhemd, die Lederhose, zog beides an. Sie zerrte die Lichterkette heraus, entwirrte sie, auch das Verlängerungskabel für den Weihnachtsbaum.
Was hast du vor?
Und sie kletterte die Treppe runter ... Unten, im Kinderzimmer, sah Renate, dass die Katze vom Brett auf die Pflaume geklettert war, dessen Stamm sich gefährlich zur Flutrichtung bog. Sie verzurrte die Kabel, flocht ein paar Halteknoten rein, stieg danach auf den Stuhl, um die Leine am Haken der Lampe festzubinden. Und öffnete dann das Fenster, Regen wehte herein.
Wie willst du sie tragen?
Wirst schon sehen ...
Nein, tu das nicht.
Doch!
Bist du lebensmüde?
Ja, wegen dir, schrie sie heraus. Wegen dir, Wolfgang!
Unterm Sims trieb die Flut vorbei, zäh und braun ... Zwölf Meter bis zur Bank, nur zwölf, nicht mehr, halb so lang wie ein Schwimmbecken mit Kurzbahn. Die Strömung ist nicht sehr stark, weil dein Haus die Wellen bricht, du darfst nur nicht zum Rand, wo das geteilte Wasser zusammenschlägt, siehst du, da: Stromschnellen. Alles nicht tiefer als im Freibad, an der Stelle, wo das 10-Meter-Sprungbrett steht; und es geht hangauf; am Baum wirst du fast stehen können ...
Es wird dich zermalmen.
Sei bloß still!
Unschlüssig starrte Renate auf die wogende Masse, die seltsam organisch schien: wie ein Schleimpilz oder eine Amöbe, die im Zeitraffer ihre Beute verschlang. Mein Gott, was ist in diesem Wasser‽
Sie wich zurück – wieder im Flur. Dort atmete sie tief durch, ehe sie beherzt aus der Schublade die Taucherbrille holte, vom Urlaub 73, sie anlegte.
Renate nahm auch den Schulranzen, drückte auf die Katzenaugen, öffnete den Reißverschluss, kippte Schreibblock und Stifte heraus; verschloss ihn wieder – schnallte ihn verkehrt rum auf der Brust fest. Schließlich schlang sie das Kabel um ihre Hüfte, prüfte den Weberknoten; hielt kurz inne:
Mit Brille und Ranzen, der affigen Lederkluft als Rüstung stand sie wie eine Astronautin vor dem Sprung aus der Kapsel ins Weltall. Sie griente; bückte sich, schob erst ein Bein ins Wasser, das zweite, dann Hüfte, Schultern; schwebend – und die Strömung riss sie mit, das Leder sog sich gleich voll, das Gewicht zerrte sie runter. Bäuchlings glitt sie davon; der Ranzen gab ihr Auftrieb, trotzdem hing sie wie ein Fisch an der Leine, kippelte wie ein Angelschwimmer.
Sie stieß gegen Trümmer, etwas rammte ihr Knie, ein Schmerz im Rücken! Es war kein Fango, mehr wie Kakao, mit Holzsplittern drin; auch nicht eiskalt, trotzdem zitterte sie. Sie versuchte, zu kraulen, ließ sich doch lieber treiben, bis sie glitschiges Gras an den Zehen fühlte und etwas Fremdes, etwas Kühles, wie im Meer, wenn man zu weit rausschwimmt: unter sich: etwas Gefährliches ...
Aber da war nur die Angst.
Schwimm! Sie konnte sich zum Baum vorkämpfen, packte den knorrigen Ast, der morsch knackte, schwang sich auf die Parkbank – und kriegte die Katze zu fassen, die sich nicht wehrte, als Renate sie unsanft im Ranzen verstaute; sie fiepte nur, so erschöpft war sie. Rücklings zog sie sich zum Haus zurück, Hand über Hand, von Knoten zu Knoten an der schlüpfrigen Leine. Neben ihr trieb ein Hocker, Styropor – und ein Teller wie ein Mond.
Dann riss das Kabel.
Das Wasser drückte sie zum Baum; aus Reflex griff sie nach dem Styropor in der Form eines Fernsehers, schob eine Schulter darauf, trat Wasser wie Julia im Kinderbecken, gern zugesehen, wie die kleine Prinzessin das Seepferdchen machte. Und so fühlte sie sich jetzt: wie ein Kleinkind, verloren im Fluss. Im Ranzen hörte sie die Katze scharren. Noch sechs Meter, fünf ... Sie bekam Schlick in die Nase, prustete. Da ist schon das Fenster; keine Panik.
Sie paddelte mit den Beinen, das Styropor unter sich, das ihren Brustkorb anhob, von der linken Hand gehalten: Bitte, Finger, lasst mich nicht im Stich! Sie biss die Zähne zusammen, bekam jetzt den Sims zu fassen, hakte den Ellenbogen ein, zog sich erst rauf, dann keuchend den Ranzen von der Schulter, ließ ihn samt Katze auf den Teppich plumpsen, danach sich selbst.
Geschafft.
Sie hörte – sah, wie die Pflaume zerbrach, kurz auf der Oberfläche trieb und schwer in den Fluten versank.
Wie eine sich häutende Schlange schälte sich Renate aus dem schlammverdreckten Leder. Ihr Puls raste. Sie befreite auch das Tier, das sich kaum rühren konnte, sonst wäre es weggeflitzt, hätte sich irgendwo versteckt. Behutsam trug sie es ins Bad und legte es auf die Matte; sie drehte am Hahn, doch nichts kam: Die Rohre schienen gebrochen. Also nutze Renate die Mineralflasche, um den Schmutz abzukriegen, füllte in der Wanne gluckend nach – wusch sich selbst, den Schlick aus den Haaren; worauf sie die Katze in ein Frottee wickelte, ihr Fell abrubbelte, sie auf den Speicher trug, dort im Schuhkarton legte.
Maunzen.
Tut mir so leid, seufzte sie, während sie sich in ein Tischtuch hüllte, ihre Hand knetete: runzlige Haut. Renate setzte sich, seufzte ... und dann schluchzte sie alles aus sich raus: Die Tränen rannen. Unten knirschte das Wasser, fraß gierig. Schreckliche Laute! Sie wollte das nicht hören. Also holte sie seine Platten hervor und breitete sie wie Tarotkarten aus: Queen. The Doors. Auch poppigere Sachen aus den 70ern und 80ern: Abba. Bee Gees. Michal Jackson. Sie wählte die Musik, zog vorsichtig das Vinyl aus der Hülle, legte die Scheibe auf den struppigen Filz des Grammophons, das sie ankurbelte, die Nadel auf die Rille setze, das Tempo justierte – und da erklang, erst leiernd, dann laut, die Stimme von Janis Joplin, übertönte den Sturm, verdrängte die Schatten und die Angst.
Eingedöst. Als sie erwachte, bibbernd vor Kälte, war es schon hell. Und es war still.
Die Katze schlief.
Treppab. Der Flur schien trocken; auch am Treppenaufgang hatte sich die Flut zurückgezogen, die Haustür stand sperrangelweit auf. Im Erdgeschoss herrschte ein Schlachtfeld: alles verdreckt, die Tapeten wellig abgeschält, die Möbel verstreut wie Schachfiguren. Es roch nach Putz und Nässe, wie nach Schimmel, nach Fäkalien. In Gummistiefeln, mit einer Taschenlampe prüfte Renate die Schäden im Keller, hier stand das Wasser noch brusthoch, und der Lichtkegel schwamm auf der Oberfläche: ein bunter, schillernder Ölfilm.
Auch im Garten lag Müll, eine Trümmerwüste, die stank: Bauschutt, Geschirr, ein Gartenstuhl; ein Sonnenschirm. Und viele Plastiktüten.
Aber ein Vogel sang. Als Renate die Hand hob, um die Augen gegen die Sonne zu beschirmen, glänzte das Armband auf und brach das Licht zum Regenbogen. Sie nickte.
Gerne hätte Renate die Katze mit Thunfisch und Milch aufgepäppelt, doch sie war längst weg, dieses undankbare Mistvieh!
Dann klingelte, wie ein Wunder, das Telefon, und sie ging rein: Julia war dran. Mama! Alles okay bei dir?
Hallo Liebes.
Während das Haus trocknete, wohnte sie in einer kleinen, gemütlichen Wohnung, drei Haltestellen von der WG entfernt, in der ihre Tochter als Kunststudentin lebte. Sie hatte die Nachbarn kennengelernt, die nett waren; fast täglich spielten sie Karten.
Auf dem Balkon, im Topf am Geländer, stand die Sonnenblume ihrer Vormieterin, grau und verwelkt; doch die Küche roch nach frischen Kräutern ...
Wolfgang schwieg.