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Immer, wenn sie in den Spiegel sah

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04.12.2007
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Immer, wenn sie in den Spiegel sah

Sie sah nicht gerne in den Spiegel. Wenn es ging vermied sie es, einen Blick hineinzuwerfen oder gar sich länger darin zu betrachten. Aber wenn sie doch mal davor stand, dann überkam sie wieder dieses Gefühl. Dieses Gefühl von Unzufriedenheit. Enttäuschung über sich selbst. Und der Ekel. An diesen Tagen redete sie noch weniger als sonst und ihre Familie bekam sie kaum zu Gesicht. Immer, wenn sie in den Spiegel sah, dann sah sie dort dieses dicke Mädchen. Dick und mit stumpfen, blonden Haaren, die ihr aufgeschwemmtes Gesicht umrahmten. Ihre Augen waren dunkel und glanzlos und ihre versteinerte Miene zeigte, dass es schon länger her gewesen sein musste, dass sie gelacht hatte. Sie besah sich ihre Oberschenkel und ihren Bauch im Spiegel und fragte sich, wann wohl der Knopf ihrer Jeans platzen würde. So konnte es nicht weitergehen, sie musste etwas unternehmen. Es waren immer dieselben Gedanken, immer, wenn sie in den Spiegel sah. Es klopfte an ihrer Zimmertür. Sie antwortete nicht sondern ging einfach zu ihrem Bett und setzte sich hin. Kurz darauf erschien auch schon die Mutter in der Türe. Sie hielt ein Joghurt in der Hand. Sie warf ihrer Tochter nur einen kurzen Blick zu, stellte das Joghurt auf den Schreibtisch und ging wortlos wieder zur Türe hinaus. Die Tochter hatte ihre Mutter dabei unentwegt angesehen, doch auch sie hatte kein Wort gesagt. Sie war mit den Gedanken woanders. Weit weg. Weit weg von der Realität. Das Joghurt auf dem Tisch versuchte sie zu ignorieren, obwohl ihr Magen sich lautstark bemerkbar machte. Sie wusste nicht, wann sie das letzte mal etwas gegessen hatte, doch das spielte keine Rolle. Sie würde auch heute nichts mehr essen. Noch einmal ging sie zum Spiegel. Er zeigte wieder das dicke Mädchen. Wütend und traurig schlug sie mit ihrer Faust in den Spiegel. Der Schmerz pochte in ihrer Hand, doch es war eine Genugtuung für sie. Da hörte sie sie wieder. Die leise Stimme in ihrem Kopf. Sie war immer da, doch machte sich nur in solchen Momenten bemerkbar.
"Du bist zu dick", flüsterte die Stimme.
"Du bist hässlich"
"Keiner mag dich"
Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf, so als könnte sie die Stimme damit verscheuchen. Sie mochte die Stimme nicht, denn diese erinnerte sie immer wieder daran, dass sie zu dick war. Dass sie abnehmen musste. Um jeden Preis. Sie wollte dünn sein. Sie wollte hübsch sein. Und sie wollte von allen beachtet und geliebt werden. Frust breitete sich in ihr aus und sie musste sich davon abhalten diesmal auf sich selber einzuschlagen. Sie war sauer auf sich wegen ihrer mangelnden Disziplin und wollte sich für jede eingenommene Mahlzeit bestrafen. Sie zwang sich aus dem Fenster zu sehen. Es war schon dunkel und sehr neblig. Man konnte kaum 10m weit sehen. Nein, da würde sie ihre Mutter sicher nicht mehr zum Joggen rauslassen. Sie begann unkontrolliert umherzugehen. Dann auf der Stelle zu laufen. Schließlich fand sie sich, Sit-ups machend, am Boden wieder. Sie wollte alles gleichzeitig machen. Immer wieder stand sie auf um zu Laufen, um dann, im nächsten Moment, wieder am Boden zu liegen und andere Übungen zu machen. Sie schwitzte und dieser unrythmische Ablauf schmerzte in ihren Gelenken. Doch sie sah den Schmerz als Erfolgszeichen und machte immer weiter. Das Joghurt lachte sie höhnisch vom Schreibtisch aus an. Schien sie zu verspotten. Sie wurde immer schneller. Wollte es dem Joghurt zeigen und die leise Stimme spornte sie an. Sie würde dünn sein. Sie musste nur immer weiter machen und durfte nicht aufhören. Kurz sah sie ihr blasses Gesicht im Spiegel und die, vor Anstrengung geweiteten Augen.
Dann lag sie am Boden. Ganz ruhig und bewegte sich nicht mehr. Ihre dünnen, knochigen Arme von sich gestreckt und mit dem eingefallenen, blassen Gesicht zum Boden gewandt. Die hagere Gestalt eines Mädchens, deren hervorstehende Knochen von dünner Haut umspannt waren. Ausgezehrt von zu wenigem Essen und zu viel Sport. Mit einer Hose die ihr viel zu groß zu sein schien und in der man nicht einmal die Konturen der Beine ausmachen konnte. Wenn sie sich nun selber im Spiegel sehen könnte, so würde sie ein dickes Mädchen am Boden liegen sehen mit blonden Haaren und einem aufgeschwemmten Gesicht. So war es immer, wenn sie in den Spiegel sah.

 

Hallo Shamandalie,

Das ist jetzt meine erste Kurzgeschichte, die ich hier veröffentliche.
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solche Kommentare bitte immer unterhalb einer Geschichte in einem gesonderten Beitrag.

Und jetzt erstmal herzlich willkommen hier.
Für deine erste Geschichte hast du dir ein beliebtes Einsteigerthema gesucht. Schon deshalb ahnte ich recht schnell, dass das Spiegelbild recht wenig mit der wohl magersüchtigen Realität zu tun hat. Als die Mutter dann den Joghurt brachte, war es klar.
Von Aufbau und Struktur her finde ich deine Geschichte trotzdem recht gelungen. Du setzt auf eine Schockpointe, die aufrütteln soll. Das ist bei solchem Thema natürlich Geschmacksache.
Bei der Kürze der Geschichte erwarte ich natürlich keine Auseinandersetzung, warum das Mädchen magersüchtig wurde oder über die gesellschaftlichen Bedingungen. In sofern ist die innere Handlung völlig ausreichend.
Einige Details:

An diesen Tagen redete sie noch weniger als sonst und ihre Familie bekam sie kaum zu Gesicht.
Lektorate monieren bei solchen Sätzen normalerweise den Wechsel der Perspektive von dem Mädchen zur Familie. Im Grunde sagt der Satz beides aus, die Famile bekam das Mädchen kaum zu Gesicht, das Mädchen bekam die Familie kaum zu Gesicht. Gemeint ist sicherlich erstes, was zweiteres natürlich zwangsläugig ergibt, bei ersterem wechselst du aber eben die Handlungsperspektive vom Mädchen zur Familie, wenn sie bei dem Mädchen bleiben soll, dürfte sie sich bei ihrer Familie nicht blicken lassen. Dann bleibt die Handlung bei ihr.
Man konnte kaum 10m weit sehen
Auch, wenn es unbequemer ist, in Belletristik bitte ausschreiben.
Immer wieder stand sie auf um zu Laufen
auf, um zu laufen (Infinitiv klein)
Die hagere Gestalt eines Mädchens, deren hervorstehende Knochen von dünner Haut umspannt waren.
Zwar kann man grundsätzlich nach "Mädchen" auch feminine Artikel verwenden, so im direkten Anschluss würde ich den Dativ aber doch im Neutrum lassen. Mädchens, dessen ...
Ausgezehrt von zu wenigem Essen und zu viel Sport.
Warum nicht ausgezehrt vom Hungern? oder durch zu wenig Essen? Und wenigem/viel ist inkonsequent, dann müsste es auch zu vielem heißen, ich würde aber in beiden Fällen auf die Endung verzichten.

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Shamandalie :)

Das einzige was mich an deiner Geschichte störte waren diese kurzen Sätze, die oftmals gruppenweise auftauchten.
Aber die Idee gefiel mir und bis auf diese kurzen Sätze (und die 10m xD) war dein Text wirklich toll!

LG

Marlene

 

Tut mir Leid, dass ich mich erst so reichlich spät melde, aber ich konnte lange nicht ins Internet. Ich danke euch zwei vielmals für eure Kritik. Und dafür, dass du dich so ausfühlich mit meiner Geschichte auseinandergesetzt hast, sim :-)
Die kurzen Sätze, die gehören irgendwie zu meinem Schreibstil und manchmal sind sie halt einfach passend, aber ich denke das sieht jeder anders. Also danke nochmal :-)

Lg, Nina

 

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