- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
In der Zauberküche
Letzte Nacht ist mir etwas Seltsames passiert. Ein schwarzer Rabe packte mich in seinen Schnabel und trug mich durch die laue Sommernacht über Flüsse, Dörfer und Wiesen, bis wir vor einem hohen Berg anhielten. Auf einen Flügelschlag des Raben hin öffnete sich die Wand.
Eine steile Wendeltreppe führte hinab in das Innere des Berges. Ich fröstelte ein wenig und sehnte mich zurück in mein warmes, gemütliches Bett. Doch der Rabe war schon auf dem Weg nach unten und krächzte: „Los, folge mir!“ Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Hinter mir hörte ich, wie sich die Bergwand schloss. „Wo sind wir?“ fragte ich voller Angst. Keine Antwort. Immer tiefer gelangten wir in den Berg, bis wir irgendwann vor einer schweren Eisentür ankamen. Der Rabe murmelte etwas Unverständliches, woraufhin die Tür sich öffnete.
Von Innen blies mir eine gewaltige Dampfwolke ins Gesicht. Ich musste husten. Eine heisere Frauenstimme fauchte mich böse an und zog mich in den stickigen Raum hinein. Die Tür fiel mit einem lauten Donnern ins Schloss. Als der Dampf sich verzogen hatte, erkannte ich die Frau: sie war in altmodische Klamotten gekleidet, hatte eine große, krumme Nase, ein buntes Kopftuch, was ihre feuerroten Haare halb bedeckte, und mindestens zehn Warzen in ihrem schrumpeligen Gesicht. „Bist du eine echte Hexe“ fragte ich, den Mund vor Staunen weit geöffnet. Die Frau sah mich einen Moment verdattert an, dann kreischte sie: „Was bildest du dir eigentlich ein, unverschämtes Gör?! Erst platzt du mitten in das Experiment hinein und zerstörst es auf diese Weise und dann willst du auch noch frech werden!“
Die Hexe überschlug sich fast vor Schimpfen und Fluchen. Anfangs war ich sehr erschrocken, doch jetzt sah ich mich neugierig in dem geheimnisvollen Raum um. Ein schnarchender Zauberer lag in einem Schaukelstuhl. Auf dem Herd stand eine brodelnde Suppe. In den Wandregalen befanden sich staubige Reagenzgläser und zerfledderte Bücher, deren Aufschrift ich im Halbdunkel des miefigen Zimmers nicht entziffern konnte. Vermutlich Zauberbücher. Im ganzen Raum roch es verkohlt und moderig. Die Decke war spinnwebenverhangen und einzige Beleuchtung waren ein paar dunkelrote, tropfende Kerzen.
Die Hexe hatte sich nun wieder beruhigt und wurde langsam etwas freundlicher. Da fiel mir der Rabe ein. Ich konnte ihn nirgends erblicken. Vorsichtig fragte ich: „Wo bin ich hier? Und wie bin ich eigentlich hergekommen?“ Die Hexe erklärte: „Mein Rabe Satan hat dich gebracht, oder? Das ist sein Job. Er beschafft uns Kinder, die wir für unsere Versuche benötigen. Offensichtlich hat er sich schon wieder auf die Jagd gemacht. Ich bin übrigens Zora. Das da drüben ist Grufti. Jedesmal, wenn irgendetwas danebengeht, lümmelt er sich einfach in den Schaukelstuhl und fällt in Tiefschlaf – so wie jetzt. Unmöglich, wie ich finde...“ Ich nickte. Auf meine Frage, was das denn für Versuche seien, antwortete Zora nicht. Stattdessen räusperte sie sich. „Entschuldige meinen Wutausbruch vorhin. Aber Grufti und ich arbeiten zur Zeit an einem wichtigen Experiment, da darf uns niemand stören.“
Die Vorstellung von mysteriösen Versuchen mit Kindern beunruhigte mich, überhaupt war mir das alles nicht so ganz geheuer. Insgeheim hätte ich sehr viel dafür gegeben, wieder daheim zu sein, aber ich wollte der Hexe nichts vorjammern.
Gerade wachte der Zauberer auf. Er räkelte sich, gähnte und sah mich prüfend an. „Aha, das ist also unsere Testperson.“ „Intelligenzbolzen“ zischte Zora. Irgendwie flöste Grufti mir Angst ein. Ich spürte, dass eine Gefahr von ihm ausging. Nun stand er auf und probierte von der heißen Suppe auf dem Herd. Zora wies mich in den Schaukelstuhl. Dann flüsterte sie dem Zauberer etwas ins Ohr, worauf sich seine Stirn in Falten legte. Ich bekam Angst.
Der Zauberer trug hochhackige, schwarze Stiefel, einen langen, dunkelblauen Umhang und einen großen, schwarzen Hut. Sein Gesicht war kalkweiß. Gegen die Hexe wirkte er äußerst elegant.
Zora stand am Herd. Eine dicke fette Spinne krabbelte am Kochtopf hoch. Oben angekommen, plumpste sie über den Rand in die heiße Brühe. Fast hätte ich gelacht, doch als ich Gruftis düsteren Blick sah, verging mir jeglicher Spaß. Der Zauberer angelte sich ein Buch aus dem Regal, blies den Staub hinunter und blätterte in den Seiten. Zora schüttete derweil ein Pulver in den Topf, was den Inhalt laut aufzischen ließ.
Plötzlich rief Grufti: „Ich hab’s!“
Es folgte ein merkwürdiger Spruch, den ich nicht zu deuten wusste. Zoras Miene hellte sich schlagartig auf. Sie rieb sich die Hände und rief: „Na, dann an die Arbeit!“
Sie und Grufti liefen fortan geschäftig hin und her, streuten hier etwas in die Suppe, mischten dort ein dampfendes Elixier... Ich wurde unruhig. „Was macht ihr?“ wollte ich wissen. Grufti lachte schallend. Auch Zora grinste hämisch und erwiderte: „Wirst’ schon sehen.“ Meine Hände zitterten und begannen zu schwitzen. Die Totenköpfe in einem der Regale weckten in mir eine dunkle Vorahnung von dem, was mir bevorstand. „Bitte nicht“ flüsterte ich.
„Ich bin fertig“ sagte Zora schließlich zufrieden. Sie hielt eine Tonschale mit gemörserten Kräutern in der Hand. „Ich auch!“ Grufti kam mit einem Reagenzglas, in dem ich eine gefährlich glitzernde, schwarze Flüssigkeit erkennen konnte. Die Beiden kamen grinsend auf mich zu. Mein Herz klopfte bis zum Hals. „Lasst mich in Ruhe!“ schrie ich so laut ich konnte. Zora lachte. Ich hielt den Atem an. Grufti kam immer näher... „Nein!“ brüllte ich, und noch einmal „Nein!“ aus voller Kehle. Jetzt lachte auch Grufti gemein. Ich spürte schon Zoras heißen Atem an meinem Hals und stand kurz davor, ohnmächtig zu werden, als sie zu zählen begann: „Eins, zwei, drei! Jaa!“ Beide gossen ihr dampfendes Höllenzeug über mich und fielen dabei sofort wieder in dieses schreckliche Lachen. Mir wurde schwindelig. „Jetzt ist es aus“ dachte ich. Mit letzter Kraft schrie ich „Hiiiilfeee!“. Mein Kopf begann zu beben, als wolle er jeden Moment auseinanderspringen. Alles tat mir weh. Von weither vernahm ich Zoras und Gruftis fürchterliches Gelächter...
Und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, war alles totenstill. „Es ist vorbei“ war mein erster Gedanke. „Ich bin gestorben.“ Doch das konnte nicht sein, denn Tote können keine an ihrem Fußende liegenden Katzen schnurren hören. Erleichtert schaltete ich das Licht an. Jetzt war mir alles klar – ich hatte nur geträumt. Ich ging in die Küche und holte mir etwas zu trinken. Nun streichelte ich meine Katze und knipste das Licht wieder aus. Es war zwanzig vor vier. Von draußen hörte ich das Rauschen der Autobahn. Bald war ich wieder eingeschlafen.