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Text gekürzt. 11.9.2022
In diesen Zeiten
Es war elf Uhr abends, als Aldo seinen Dienst antrat. Er übernahm von seinem Kollegen, der nach sechszehn Stunden endlich nach Hause gehen konnte, einen Flur voll von Patienten. Manche schliefen und manche husteten vor sich hin, doch keiner klagte: Sie wussten wohl, dass das Krankenhaus kaum noch einsatzfähige Ärzte hatte.
Aldo war alleine mit Linda, einer Krankenschwester, mit der am liebsten arbeitete. Die Arbeit war formal einfach: Checken, was die Kollegen vom pronto soccorso aufgeschrieben haben, mit den Patienten reden, Temperatur und Blutdruck messen, die Lunge abhören, eventuell Blut abnehmen und ins Labor schicken und dann entscheiden: Die schweren Fälle schickte man nach links auf die Intensivstation, die anderen nach rechts zum Fahrstuhl, der sie auf normale Krankenzimmer brachte. Sein erster Fall heute war ein etwa fünfzigjähriger Mann, der zwar schwer Luft bekam, sonst aber gut beisammen war. Für Aldo war das keine schwere Entscheidung, er konnte ihn leichten Herzens nach rechts schicken.
Aldo half Linda, das Bett aus der Reihe der Wartenden zu schieben, um dann, als sie mit dem Bett unterwegs zum Fahrstuhl war, ihr hinterher zu schauen. Sie hatte nun einen dicken Hintern. Sie trug Windeln, weil sie sonst nach jedem Toilettengang die Schutzkleidung hätte wechseln müssen. Ja, Schutzkleidung war in dieser Zeiten Mangelware geworden, selbst die eine Maske musste man den ganzen Tag tragen.
Er wandte sich zum nächsten Bett, auf dem der Patient bereits mit Sauerstoff versorgt wurde. Aber es war nicht irgendein Patient, sondern Matilde, die Schwester seiner Frau.
„Was machst du hier, Matilde?“
In dem Moment, in dem er die Frage aussprach, wurde ihm bewusst, wie töricht diese war. Matilde versuchte etwas zu sagen, doch er verstand nichts. Sie versuchte zu lächeln, was Aldo an ihren zusammengekniffenen Augen erkannte. Er holte oft seinen Sohn bei ihr ab, wenn dieser bei ihr zu Besuch war, um zusammen mit ihren Kindern zu spielen. Dann kochte sie ihm einen Caffè und sie plauderten ein wenig.
Matilde musste husten. Der Husten steigerte sich, wurde heftiger, zwang sie, sich aufzurichten, bis sie fast saß. Dann fiel sie zurück und blieb regungslos liegen.
Aldo fühlte ihren Puls: Das Herz arbeitete noch und sie atmete, wenn auch nur flach. Aber ihre Haut gefiel ihm nicht. Sie war graublau, er vermutete Hypoxie – ihr den Sauerstoff aus der Flasche wie bisher passiv zu verabreichen, war nicht genug: Sie musste auf die Intensivstation und künstlich beatmet werden.
Linda war noch nicht wieder zurück, also schob er das Bett selbst von der Wand und rannte mit ihm los. Er war schnell und stieß oft gegen die sich langsam öffnenden automatischen Türen. Als er endlich am Ziel ankam, rannte er beinahe einen Kollegen um, der ihm entgegenkam.
„Entschuldigen Sie bitte, es ist dringend!“
“Ja, ja, was ist denn hier nicht dringend?” antwortete dieser. „Außerdem sind wir voll.“
„Sie … sie ist meine Schwägerin!“
„Tut mir leid, Kollege, aber alle Betten sind besetzt. Wollte gerade zu Ihnen kommen und Ihnen sagen, dass Sie mir keine Patienten mehr schicken sollen.“
Aldo kannte den Arzt nicht, auf dessen Maske handschriftlich Dr. Ansberg vermerkt war. War wohl einer von den Ärzten ohne Grenzen, die hier aushalfen, weil einige Kollegen an dem Corona-Virus bereits gestorben sind oder in die Quarantäne mussten. Aber nun stand dieser Fremde zwischen ihm und den rettenden Geräten im Hintergrund.
Aldo verstand. Und erstarrte. Doch seine Gedanken rasten umso mehr. Er wusste, wenn Matilde in der nächsten paar Stunden nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird, wird sie sterben. Oder für den Rest ihres Lebens nicht mehr sie selbst sein. Er schaute sich um, sah in den durch Vorhänge getrennten Betten Patienten liegen. Die meisten lagen auf dem Bauch, intubiert und in künstliches Koma versetzt. Einige wurden lediglich durch die fest anliegenden Nasen-Mund-Masken beatmet. Das waren die minder schweren Fälle.
Dr. Ansberg drehte sich wortlos um und ging zu seinem Schreibtisch an der einen Seite des Raumes. Und Aldo widmete sich wieder Matilde, fühlte nach dem Puls, der zwar flach, aber noch deutlich spürbar war. Und weil ihm ihre Gesichtsfarbe noch eine Spur blauer erschien als zuvor, überprüfte er das Manometer an der Sauerstoffflasche: Er zeigte zum Glück noch genügend hohen Druck. Es passierte nicht selten, dass fast oder ganz leere Flaschen an den Betten hingen, manchmal mit tragischen Folgen.
Er spürte eine leichte Berührung an der Schulter und vernahm gleichzeitig ein lautes: „Ah, hier bist du!“
Linda hat ihn wohl gesucht und nun auch gefunden.
„Matilde“, sagte Aldo, auf das Bett zeigend. „Meine Schwägerin.“
„Ma nooo!” rief Linda verwundert und klagend, um dann leiser hinzuzufügen: “Tut mir leid, dottore.“
„Ist Schicksal“, sagte Aldo, „Es ist auch Schicksal, dass hier alle Betten belegt sind.”
„No, no, das ist nicht Schicksal – das ist Politik.”
Vielleicht hatte Linda recht, vielleicht war das tatsächlich kein Schicksal, dass sie zu wenige Betten auf der Intensivstation hatten, sondern die jahrelange Vernachlässigung der Infrastrukturen durch den Staat. Selbst in der reichen Lombardei gab es nicht genug Betten mit entsprechenden Geräten. Matilde nach Lodi, ins Provinzkrankenhaus zu verlegen, würde nichts bringen, die waren schon gestern überbelegt. Und sie nach Deutschland zu verlegen, wo sie Platz hätten, dazu reichte die Zeit nicht mehr.
„Und jetzt?“, fragte Linda.
„Weiß nicht”, sagte Aldo, „Vielleicht wird einer von denen bald sterben.”
Beide schauten auf die zwei Bettenreihen. Schweigend schritten sie durch den Mittelgang und schauten sich die Patienten genauer an: Wer wird bald sterben oder wer könnte bereits aus der Intensivstation entlassen werden?
Linda blieb gerade vor einem Bett stehen, an dem ein massiger Mann auf dem Rücken lag. Er war so dick, dass sein Bauch den höchsten Punkt auf dem Bett bildete. Sein Gesicht war fast zur Gänze durch die Maske bedeckt, und sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, immer begleitet vom zischenden Geräusch des Beatmungsgeräts.
Linda schaute Aldo fragend an – und er verneinte die so gestellte Frage ebenfalls stumm. Sie gingen weiter, bis diesmal Aldo stehenblieb. Auf dem Bett vor ihm lag eine alte Frau, ebenfalls mit einer Maske auf dem Gesicht, anscheinend schlafend. Sie war von gleicher Statur wie Matilde, aber viel älter, wahrscheinlich eine aus der casa di riposo, dem örtlichen Altersheim. Warum liegt sie hier und nicht Matilde? Nur, weil sie eine halbe Stunde vorher an der Reihe war? Soll das über Leben und Tod entscheiden?
„Sie ist sediert.“
Linda und Aldo drehten sich um. Dr. Ansberg stand hinter ihnen, sie wussten nicht, wann er dazugekommen war. Keiner sagte mehr ein Wort, nur die pumpenden und zischenden Geräusche der Beatmungsgeräte waren zu hören. Dr. Ansberg hustete kurz und sagte: „Ich muss schnell zur Toilette.”
„Natürlich“, antwortete Aldo und trat zur Seite. Sobald die schwingende Tür sich wieder schloss, ergriff Aldo Lindas Hand und sagte: „Komm, schnell!“
Linda hob den Kopf der alten Frau ein wenig und entfernte die hinter ihrem Nacken festgezurrte Gesichtsmaske. In dem Moment schaltete Aldo die Geräte aus. Gemeinsam entfernten sie vom Körper der Frau die Sensoren, die ihre Vitalfunktionen überwachten und an Monitore übertrugen. Dann schoben sie das Bett auf den Flur und Matilde kam auf ihren Platz. Die Sensoren wurden an ihrem Körper befestigt, die Maske aufgesetzt. Aldo schaltete wieder die Geräte ein, die nach einem kurzen Moment der Irritation wieder ansprangen.
Matildes Brustkorb hob sich nun viel stärker als vorher, und es verging keine Minute, bis sie wieder ihre Augen öffnete. Sie sah Aldo und lächelte.
„Sei unbesorgt, Matilde, es wird alles gut“, sagte Aldo, nahm die Sauerstoffflaschen samt Schlauch und Maske, mit der sie vorher versorgt wurde, und ging mit Linda, die sich mit einem Wink von seiner Schwägerin verabschiedete, hinaus.