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India
Inzwischen habe ich einige Veränderungen vorgenommen
India Charlton hasste dieses Haus.
Nicht nur das Haus, sie hasste dieses Land, ihren Namen und ihren Vater, dafür, dass er sie zu dieser Reise gezwungen und sie mit ihrem Vornamen gestraft hatte.
Aber am meisten hasste sie Shah Blackthorne.
Frustriert und schwitzend stand sie am Fenster ihres Zimmers und beobachtete ihren Vater, der in der prallen Mittagssonne mit Damien und Shah Blackthorne durch den Garten spazierte. Die Hitze in diesem barbarischen Land war unerträglich. Dass die Blackthornes nicht auf eine gewisse vornehme Blässe achteten, überraschte sie nicht, aber ausgerechnet ihr Vater! In ein paar Tagen wäre er wahrscheinlich nicht mehr von den Einheimischen zu unterscheiden, er war jetzt schon viel zu dunkel geworden.
Sie wich schnell zurück als sie bemerkte, dass Shah aufsah. Wahrscheinlich achtete er gar nicht auf ihr Fenster, aber die Gefahr, dass er sie trotzdem entdeckte war zu groß.
„Was ist Shah überhaupt für ein Name“, murmelte sie abfällig, während sie sich auf ihr Bett fallen ließ. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater ihr schon unzählige Male von Shahs Geburt und der Bedeutung seines Namens erzählt hatte, aber sie hatte nie zugehört. Das Thema langweilte sie.
Sie hatte sich auch nie für die Briefe oder Fotographien interessiert, die regelmäßig aus Amritsar gekommen waren. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte wenigstens ein einziges Mal hingesehen, dann hätte sie sich bei ihren ersten Blickkontakt mit Shah nicht so lächerlich gemacht. Damien Blackthorne hatte ihn geschickt, um sie und ihren Vater abzuholen und, bevor sie gewusst hatte, wer er war, war sie von seinem Anblick gefesselt gewesen.
Natürlich hatte diese alberne Schwärmerei sofort aufgehört als er sich vorgestellt hatte.
„Ich war einer der ersten, die Shah nach seiner Geburt gesehen hat“, hatte ihr Vater stolz bei der Überfahrt von England nach Indien erzählt, ohne zu bemerken, wie India gelangweilt aufs Meer gestarrt hatte. Sie hasste es, wenn er über seine gemeinsame Zeit mit Damien Blackthorne erzählte, wie oft war sie in der Schule aufgezogen worden, weil er sich öffentlich zu seiner jahrelangen Freundschaft zu Blackthorne, einem Mischling, bekannte. Sie hatte sogar einen Moment lang darüber nachgedacht, ins Wasser zu springen und zurückzuschwimmen. Das Schiff hatte doch gerade erst abgelegt, es konnte doch nicht so schwer sein, zurück nach Hausse zu kommen.
„Er war so ein niedliches Baby“, war ihr Vater fortgefahren. Ihrer Verzweiflung hatte er keinerlei Beachtung geschenkt. „Muss er von seiner Mutter gehabt haben. Ich war damals so verliebt in ihre tiefen, grünen Augen!“
India war übel geworden, und das hatte nicht am Seegang gelegen. Wie konnte ihr Vater nur in aller Öffentlichkeit zugeben, dass er in eine Eurasierin verliebt gewesen war? Dachte er denn überhaupt nicht an den Ruf der Familie?
Gott sei Dank war er damals nach London zurückgekehrt und hatte Indias Mutter geheiratet. Sie bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass sie selbst um ein Haar gemischtes Blut gehabt hätte.
Shahs Mutter war vielleicht eine wunderschöne Frau, aber dieser Satz war wirklich eine Zumutung gewesen.
Wenn sie ganz ehrlich zu sich sein sollte, und manchmal war sie das sogar, musste sie zugeben, dass Shah der attraktivste, aufregendste junge Mann war, den sie je gesehen hatte. Er hatte tatsächlich die Augen seiner Mutter geerbt.
Sie hasste ihn dafür, dass er ein Mischling war.
India musste unbedingt raus, sie sprang vom Bett, um aus dem Fenster zu sehen. Die Männer waren nirgendwo zu entdecken. Sie konnte ihr Glück gar nicht fassen, lief aus ihrem Zimmer und auf Zehenspitzen durchs Haus, um nicht entdeckt zu werden. Im Garten suchte sie sich einen schattigen Platz unter einem der Bäume. Sie war schon viel zu braun geworden, wenn ihre Freunde in London sie so sehen könnten, würden sie bestimmt kein Wort mit ihr wechseln. India atmete tief durch und schloss ihre Augen, sie vermisste England. Sie wollte unbedingt wieder nach Hause.
„Miss Charlton, haben Sie keine Angst, dass sie so schwarz werden, wie manche der Einheimischen?“
Sie brauchte sich nicht umzudrehen um das arrogante Lächeln in Shahs Gesicht zu sehen. Wie üblich war sein Ton ihr gegenüber kühl und abfällig. Manchmal versetzte ihr das einen kleinen Stich ins Herz.
„Müsstest du nicht in der Schule sein?“, erwiderte sie, ohne sich nach ihm umzudrehen.
„Nein, heute nicht.“
„Lass’ mich alleine!“
„Dieser Garten gehört zum Haus meiner Eltern. Wenn also jemand gehen muss, dann bist du das!“
„Ist das die Art, wie ihr Gäste behandelt?“, zischte sie wütend.
„Nicht, wenn sie willkommen sind!“
India bemühte sich, nach außen hin ruhig zu wirken.
„So wie dein Vater!“, fügte er grinsend hinzu.
„Ich... ich hasse dich!“, war alles, was ihr einfiel, Shah lachte nur über ihre Worte. „Wieso bist du bloß so arrogant?“
„Ich?“, fragte er überrascht.
„Ja, du!“
„Die Einzige, die hier arrogant ist, bist du! Du bist die ganze Zeit unzufrieden und respektlos meinen Eltern und deinem eigenem Vater gegenüber. Du bist oberflächlich und eine Nervensäge!“
Sie fuhr wütend herum, wollte etwas erwidern, aber bevor sie etwas sagen konnte, griff Shah nach ihrer Hand und betrachtete nachdenklich ihre Haut.
„Man sieht den Unterschied kaum“, bemerkte er, nachdem er sie mit seiner eigenen Hand verglichen hatte. „Es ist nur ein kleiner Farbton.“
India war fasziniert von seinen Augen und seiner sanften Berührung. Sie spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten und stützte sich an dem Baumstamm ab. Ihr Herz raste, ihr wurde schwindelig. Einen Augenblick lang konnte sie nichts denken, schwankte nur verträumt hin und her.
„Trotzdem ist mein Blut genauso rot wie deins!“, er ließ ihre Hand verächtlich fallen.
„Was?“, sie sah ihn fragend an, sie war noch zu benommen, um seine Worte richtig zu verstehen.
„Du denkst, nur weil du weiß bist, bist du besser als wir!“
Sie war zu erschöpft und verwirrt, um sich gegen diese Aussage zu wehren. Sie spürte noch immer die Nachwirkungen der wundervollen Gefühle, die so plötzlich über sie gekommen waren.
„Du bist so arrogant“, fuhr er zornig fort. „Und blind! Hast du wirklich noch nie in den Spiegel gesehen und dich gefragt, wem du ähnlich siehst? Deiner Mutter? Wo hast du dann die dunklen Haare und deine blauen Augen her?“
„Was...“
„Wem siehst du ähnlich, India? Joshua Charlton? Wohl kaum!“
„Du bist ein Lügner, du... du weißt doch nicht das Geringste über meine Mutter!“
„Ich weiß genug. Ich kenne alle Briefe, die dein Vater meinen Eltern geschickt hat. Du hast schon lange herausgefunden, dass Josh nicht dein richtiger Vater ist, nicht wahr? Aber du verdrängst es. Du willst dir nicht die Wahrheit über deine Mutter eingestehen! Er hätte deine Mutter verlassen können, aber er das hat er nicht getan. Stattdessen hat er dich behandelt wie sein eigenes Kind, er hat dir einen Namen gegeben und deiner Mutter die Schande erspart. Ich will gar nicht wissen, wie er sich manchmal fühlen muss, wenn er dich ansieht...“
„Hör endlich auf, Lügen zu erzählen!“
„Du weißt, dass das keine Lügen sind!“
Lautlos verschwand er ins Haus. India wurde wieder schwindelig, aber dieses Mal konnte nicht einmal der Baumstamm verhindern, dass sie zu Boden sank.
Das Erste, was sie sah, als sie die Augen öffnete, war Grace Blackthornes freundliches Lächeln. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie Grace nicht einen erwachsenen Sohn wie Shah zugetraut.
Langsam erinnerte India sich wieder. An das Gespräch im Garten, an ihren Schwindelanfall. Sie fühlte sich schwach, mit nur wenigen Sätzen hatte er es geschafft, die Schutzhülle zu zerstören, die sie über die Jahre hinweg um sich herum gebaut hatte. Eine zerbrechliche Schale aus Verdrängung und Öberflächlichtkeit.
„Wie fühlst du dich?“, drang Graces warme Stimme zu ihr durch.
„Wo ist Shah?“
Grace wich ihrem Blick aus und führte ein Glas an Indias Lippen. „Shah?“
Indias Mund war ausgetrocknet, dankbar trank sie das Wasser, das Grace ihr gab.
„Wir waren im Garten“, flüsterte India, „Er sagte...“
„Wir haben uns wirklich große Sorgen um dich gemacht, besonders dein Vater...“
„Er hat gesagt...“, India sprach den Satz nicht aus.
„Er ist nicht da“, erklärte Grace endlich, nachdem sie eingesehen hatte, dass India sich nicht ablenken ließ. „Es tut ihm leid, dass euer Gespräch solche Folgen hatte, aber...“
„Ich will ihn sehen“, India hätte am liebsten geweint.
Grace seufzte, ihr Gesicht war voller Sorge, die sie vor India hinter einem Lächeln zu verbergen versuchte. „Man hat die Schule zerstört.“
„Was? Wie?“
„Ein Brand, letzte Nacht. Shah ist da, um zu sehen, was noch zu retten ist.“
Jetzt kamen India wirklich die Tränen. Die Schule bedeutete Shah einfach alles, sie wusste, dass er hart gearbeitet und gekämpft hatte, um sie aufzubauen. Und sie erschrak, sie verstand endlich, warum sie so besessen von dem Gedanken war, ihn zu sehen. Shah war der Einzige, mit dem sie sprechen konnte, der Einzige, der sie verstand. Schließlich hatte er durch diesen Brand genauso viel verloren wie sie durch ihre Unterhaltung.
„Wie ist das passiert?“, flüsterte sie.
„Es gibt genug Leute in der Stadt, die etwas gegen die Schule hatten. Du weißt, wie sehr die Mischlinge sowohl von den Einheimischen, als auch von den Engländern gehasst werden.“
„Ein Anschlag?“
Grace nickte nur. „Mach’ dir keine Sorgen“, flüsterte sie. „Shah steht immer wieder auf... irgendwie.“
„Ich will zu ihm“, India wollte sich aufsetzen, aber Grace drückte sie zurück in ihr Kissen.
„Du brauchst Ruhe!“
„Aber...“
„Schlaf’ etwas“, sagte Grace und stand auf, um India alleine zu lassen, „Shah möchte im Moment niemanden sehen!“
India wartete, bis sie keine Schritte mehr hörte und stand auf, um sich anzuziehen. Sie war schwach und es fiel ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten, aber der Gedanke, Shah unbedingt sprechen zu müssen, half ihr, es unbemerkt bis aus dem Haus zu schaffen.
Als sie die Schule erreichte drang ihr der beißende Brandgeruch unangenehm in die Nase, ihr Magen begann zu rebellieren.
Das Holz des Gebäudes war verkohlt und war an mehreren Stellen eingestürzt. Der Innenhof lag in Schutt und Asche, alles, was von der Schule geblieben war, war ein Gerippe mit leeren Fensterhöhlen.
India blieb in der Tür stehen und sah sich entsetzt um. Wenn sie dieser Anblick schon so sehr erschrak, wie schlimm musste Shah sich erst fühlen? Sie sah sich um und entdeckte ihn schließlich in einer Ecke. Er durchsuchte so konzentriert den Boden, dass er sie nicht bemerkte. Sie beobachtete ihn eine Weile, sein Blick wanderte unruhig umher, seine Finger arbeiteten hektisch und über seine sonnengebräunten Wangen liefen Tränen.
„Shah?“
„Ich bin sicher, dass man vieles noch retten kann“, murmelte er. „Es kann nicht alles zerstört sein!“
India hockte sich zu ihm, um ihm beim Suchen zu helfen. Die Wut, die er noch vor ein paar Tagen auf sie gehabt hatte, schien vollkommen verflogen.
„Was wirst du jetzt machen?“, flüsterte sie.
„Was wohl?“, er hob kurz den Kopf und lächelte. „Die Schule wieder aufbauen!“
„Ich will dir dabei helfen!“
„Du?!“, er zog skeptisch seine Augenbrauen zusammen.
„Du hattest recht, ich habe mich unmöglich benommen! Und... und ich kannte auch die Wahrheit über meine Mutter, aber ich...“
„Ich glaube, jeder würde so eine Wahrheit verdrängen“, unterbrach er sie und hielt mit einem triumphierenden Lächeln ein Blatt in die Höhe. „Aus einem Geschichtsbuch! Der Rest muss hier noch irgendwo sein...“
„Ich hätte dich nicht einen Lügner nennen sollen, Shah. Ich war immer so beschäftigt damit, etwas sein zu wollen, das ich nicht bin...“
Er winkte ab. „Jedem Menschen ist die Fähigkeit angeboren, sich nicht so zu sehen, wie er ist, sondern wie er gerne sein würde.“
„Dir auch?“
„Ich sagte doch, jeder!“
„Aber, was ist mit dir?“
Er erstarrte. Einen Moment lang lag eine bedrückende Stille über ihnen.
„Ich?“, fragte er leise. „Ich weiß auch noch nicht, wer ich bin. Ich denke, das werde ich auch nie herausfinden. Ich bin zu britisch, um ein Inder zu sein und zu indisch, um ein Engländer zu sein...“
„Ich möchte dir dabei helfen, die Schule wieder aufzubauen“, wiederholte India bestimmt.
„Weißt du überhaupt, was du da sagst?“
Eigenartigerweise tat es India weh, Shah so verletzt zu sehen, so hilflos und erschöpft. Sie hatte nie gedacht, dass er irgendwann mal ein Opfer sein könnte. Sie hatte ihn immer nur als Täter gesehen. Als einen skrupellosen, zornigen Mann, der von seiner Verachtung den Engländern gegenüber getrieben wurde.
„Bitte“, flehte sie leise.
„Du willst dabei helfen, eine Schule für Eurasier aufzubauen?“
„Genau das will ich!“
Er war misstrauisch. „Warum? Ist das eine deiner Launen?“
„Mir ist egal, was du denkst!“
„Ich kann keine Versager gebrauchen“, er schüttelte den Kopf, seine Abfälligkeit machte India wütend.
„Ich kann arbeiten!“, rief sie trotzig aus.
Wieder schüttelte er den Kopf. „Das ist harte Arbeit, India, und du würdest dich nicht gerade sehr beliebt in deiner Gesellschaft machen. Du hältst das keine zwei Tage durch!“
„Das ist mir egal!“
„Was kannst du denn schon tun?“, fragte er lachend. „Du kannst doch nicht einmal kochen!“
„Nein, aber ich lerne schnell!“
„Was ist mit deinem Wunsch, endlich zurück nach Hause zu fahren? Zu deinen Freunden?“
India zuckte mit den Schultern. „Ich bin sicher, dass sie mich nicht vermissen werden.“
„Wie kommst du darauf?“, er runzelte nachdenklich die Stirn, setzte sich in den Schutt und kreuzte die Beine. Er betrachtete sie durchdringend, während er auf eine Antwort wartete.
„Der einzige Mensch, dem ich jemals wichtig war, ist mein Vater.“
Shah strich sich hilflos durch die Haare. „Gut, wenn du das unbedingt willst... aber ich verstehe nicht, warum du so besessen von diesem Gedanken bist!“
Sie ergriff seine Hand und strich mit ihren Fingerspitzen über die Innenfläche. Er hatte sich irgendwo verletzt, aus einem kleinem Kratzer lief etwas Blut.
„Dein Blut ist ja tatsächlich genauso rot wie meins“, sagte sie weich, bevor sie seine Hand wieder losließ.
Er erinnerte sich und lächelte.