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Ins Dunkel
Ich kannte Ulas Vater nur als den Mann hinter der Tür. Den Mann, der schlief. Der Grund, weshalb wir leise sein mussten, wenn wir nach der Schule vor dem Fernseher saßen und MTV schauten. Ulas Vater war Schichtarbeiter in der Klopapierfabrik. Er war dafür zuständig, dass die Maschinen funktionierten. Dass die Zahnräder ineinandergriffen. Die Schaltkreise weiterkreisten. Nein, ich hatte keine Ahnung, was ihr Vater in der Klopapierfabrik machte, ich kannte ihn nur als den Mann hinter der Tür und manchmal als den Mann, der nach der Spätschicht in der Küche stand und mir zulächelte, während das Fleisch in der Pfanne briet und die Fenster beschlugen. Der Mann, der keine Fragen stellte, nicht wissen wollte, warum ich mich in einem knielangen Backstreet Boys-Shirt an seinem Kühlschrank bediente.
Es fühlte sich komisch an, als er starb. Komisch, weil ich ihn nie richtig kennengelernt hatte und es jetzt keine Möglichkeit mehr dazu geben sollte. Und für Ula musste es sich noch viel komischer angefühlt haben. Weil es ihr Vater war. Weil sie zu ihrer Tante ziehen musste, die sie kaum kannte, weil sie die Schule wechseln musste, weil sie nicht mehr in der Wohnung leben durfte, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
Ulas Tante wohnte im Nordteil der Stadt, in Brann. In der guten Gegend. Da, wo die Rutschen auf den Spielplätzen nicht mit Graffiti beschmiert waren, wo man sich nicht fragen musste, wer das Mädchen war, das den Wagen schob: Die große Schwester oder schon die Mutter.
Ulas Tante war reich. Deshalb wartete Ula manchmal, bis die Tante den Müll runterbrachte und nahm sich dann Geld aus ihrem handtaschengroßen Portemonnaie.
»Die ist so reich, dass sie gar nicht bemerkt, wenn etwas fehlt«, erzählte Ula, als ich sie zum ersten Mal in Brann besuchen kam. »Und ich kenne jetzt einen, der Gras besorgen kann«, sagte sie noch.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Obwohl ich mir in der Straßenbahn so viel vorgenommen hatte. So viele Wörter zurechtgelegt hatte. Ob sie ihren Vater sehr vermisst. Wie sich das anfühlt für sie. Ob sie es begreifen kann, ob sie sein Gesicht noch vor sich sieht und ob sie manchmal mit ihm spricht, obwohl er nicht mehr da ist.
»Er heißt Veit.«
»Warum willst du, dass Veit dir Gras besorgt?«
»Will ich ja nicht. Aber trotzdem.«
Veit hatte einen Oberlippenbart und wohnte alleine. Er bekam Waisenrente. Mit dem Dealen verdiente er sich etwas dazu, sagte er. Als ob Waise-sein ein Beruf wäre.
Veit saß auf der Couch, als würde er immer dort sitzen, als wäre er mit ihr verwachsen. Seine Augen waren kaum zu erkennen: Das Licht war gedämmt, die Haare hingen in sein Gesicht, aus der Anlage kam Metal, ganz leise. Was komisch war. So, wie wenn jemand in ein Megaphon flüstert.
»Haze«, sagte er, als er Ula den Joint reichte.
»Merkt man«, sagte Ula, als sie den Rauch einzog.
»Sabina will nicht«, sagte sie als nächstes, und sie hatte recht, aber ich wollte selbst entscheiden und deshalb nahm ich ihr den Joint aus der Hand und zog dran. Unterdrückte den Hustenreiz, ignorierte Veits und Ulas Grinsen, und war froh, als ich wieder in der warmen Straßenbahn nach Hause saß. Aber vor allem war ich sauer. Sauer auf Ula. Sauer auf Veit, und vor allem darauf, dass jetzt plötzlich alles anders war.
Wir telefonierten jeden Tag. Wir sprachen über Videospiele, über Zelda und über Kirby, wir diskutierten, wer besser aussah, Justin oder Nick, und wem wir lieber einen blasen würden. Wir sprachen über Detektiv Conan und Monkey D. Ruffy, aber niemals über ihren Vater. Und auch nicht über Veit. Manchmal hörte ich ihn. Hörte ihn im Hintergrund murmeln, irgendwie metallisch, so, als würde er in einer Blechdose sitzen, und dann sagte Ula nicht mehr viel. Sagte nur, sie müsse dann auflegen.
Dann wurden die Anrufe unregelmäßiger. Und auch die Fahrten nach Brann wurden seltener, der Winter kam, die Oberleitungen der Straßenbahn vereisten, Funken sprühten, wenn sie auf dem Weg zur Schule an mir vorbeifuhr, und ich dachte wieder an Ulas Vater. Sah ihn vor mir, überlegte, ob er manchmal eine dieser Boba-Fett-Masken tragen musste, ob er Nähte geschweißt, selbst Funken versprüht hatte, damit die Maschinen weiterliefen. Und ich dachte darüber nach, wie unfair es war, dass die Maschinen immer noch liefen und weiter Klopapier produzierten, während er seit fast einem Jahr unter der Erde lag, ich dachte immer wieder an das Fett, das in der Pfanne brutzelte und wie er jedes Mal kurz den Kopf durch die Tür steckte, bevor er ins Bett ging, kaum erkennbar, weil wir vom blauen Fernseherlicht geblendet waren: Nur ein Schatten, ein Geist, und wie er dann gute Nacht sagte und wir froh waren, wieder allein zu sein, wieder zu zweit zu sein.
Als ich heimkam, hielt meine Mutter mir das Telefon hin. Ulas Tante, sagte sie nur, und ich stand mit Mütze und Jacke in der warmen Wohnung und hörte Ulas Tante sagen, sie mache sich Sorgen. Und ob ich wüsste, wo Ula wäre.
»Jetzt steht es schon in der Zeitung.«
Papa tippte mit dem Finger auf die Überschrift im Tagesblatt: Mädchen aus Brann vermisst.
Das Mädchen war Ula. Ula Henriksson. Meine Ula. Die Ula, die mal meine Ula war, und später klopfte es an der Tür und zwei Polizisten wollten mich sprechen. Sie hatten Schnee an den Schuhen, aber ich wusste ja nichts, und als sie wieder gingen, ließen sie kleine Pfützen zurück.
An dem Tag schwänzte ich die Schule. Fuhr nach Brann. Ich atmete tiefer und gleichzeitig flacher als sonst, die Scheiben beschlugen, und als die Funken herabregneten, konnte ich nicht mehr. Ich stieg zwei Haltestellen früher aus, als ich musste, und stapfte durch den Schnee, bis ich vor Veits Tür stand.
»Was willst du? Ich weiß nicht, wo sie ist. Hab ich auch der Polizei schon gesagt.«
»Wegen dir hat sie Gras geraucht!«
»Komm mal runter! Glaubst du, ich find das cool, dass sie weg ist?«
»Ist mir scheißegal, was du denkst!«, schrie ich ihn an und stürmte davon.
Ich irrte durch Brann. Ständig glaubte ich, Ula zu sehen, ich rief ihren Namen und schämte mich, wenn sich stattdessen ein Mädchen umdrehte, das ihr ähnlich sah, das mich ansah, als wäre ich verrückt. Ich sammelte einen Haufen vereiste Hundescheiße auf, ich riss ihn vom Boden und steckte ihn in meine Jackentasche, ich rannte zurück zu Veits Wohnung, so schnell, dass mir die Luft in der Lunge brannte und steckte den Scheißhaufen in seinen Briefkasten und drückte auf die Klingel, bis er wütend ins Treppenhaus brüllte: Verpiss dich, und ich schrie zurück: Hurensohn und Bastard.
Ich rannte weiter, rannte über die Brücke, wo mir der Wind ins Gesicht peitschte, rannte an der Schule vorbei, ohne daran zu denken, dass ich schwänzte und dass mich die Lehrer sehen konnten, und als ich im Dunkeln daheim ankam, schüttelte mich meine Mutter, dass mir der Schnee von den Haaren fiel, schrie mich an und fragte, wo ich gewesen wäre und was in meinem dummen Kopf vorginge und dann drückte sie mich an sich und entschuldigte sich und wir weinten und lagen auf dem Sofa, bis Papa nach Hause kam und mich ins Bett trug.
»Wenn man die Wurzel aus x zieht, was kommt dann raus? Sabina?«
Frau Sander. Ich hatte nicht zugehört. Ich hatte seit drei Wochen nicht mehr zugehört. Ich fand es scheiße, dass der Unterricht einfach so weiterging. Dass die Erde sich einfach weiterdrehte, als wäre nichts passiert. Als wäre es das Normalste überhaupt, dass ein Mensch verschwindet.
»Sabina?«
Wie gerne würde ich ihr ins Gesicht spucken. Wie gerne würde ich jedem, der mich jetzt anglotzt, meinen Stuhl an den Kopf werfen, wie gerne würde ich kotzen, bis der ganze Raum voller Kotze ist und jeder mitkotzen muss. Wie gerne würde ich woanders sein. Alleine sein. Hauptsache alleine sein.
»Alles okay?«
Beim Abendessen redete nur der Fernseher. Ein Kerl hatte seine Freundin betrogen und jetzt wollte er sie wieder zurück. Er spielte schlecht. Es fiel ihm schwer, nicht in die Kamera zu gucken. Sie wollte ihn nicht mehr.
»Ist alles okay?«
Mama. Nicht Frau Sander. Ihr Glück.
»Nur nachgedacht.«
»Ula, stimmt’s?«
Ula. Ihren Namen zu denken, war die eine Sache. Ihn zu hören, in der echten Welt, kaum aushaltbar.
»Hör mal, wenn du magst, gehen wir morgen Abend Schlittschuh laufen. Den Kopf frei bekommen.«
Den Kopf frei bekommen. Klang gut. Und unmöglich.
»Ich geh nicht mehr in die Schule.«
»Warum?«
»Wegen der Sander. Ich hab ihr gesagt, dass sie sich ihre Wurzel in den Arsch stecken soll.«
»Dann wird sie es verdient haben.«
Mamas Verständnis machte mich wütend. Als ob sie wüsste, wie ich mich fühlte. Nicht mal ich selbst wusste das. Aber gleichzeitig war Mama die Einzige, die ich jetzt ertrug, und deshalb sage ich: Schlittschuh klingt gut.
Und am nächsten Abend drehte ich meine Kreise. Sah Bewegungen und Lichter. Sah Menschen in Mänteln mit Kapuzen auf und stellte mir vor, zwischen diesen Menschen Ula zu sehen, zusammen mit ihrem Vater, und wie sie Hand in Hand über das Eis fuhren und sich dabei ansahen. Stumm, weil es eh nichts zu sagen gab, weil sie eh schon alles wussten, und schloss mich ihnen an. Weg von den Lichtern. Rein in das Dunkel.