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Ist man wirklich tot wenn man stirbt?

Beitritt
30.04.2004
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58

Ist man wirklich tot wenn man stirbt?

Nur kurz spüre ich den Schmerz, spüre wie die Kugel sich in meine Brust bohrt. Einen kurzen zähen Augenblick scheint die Zeit stillzustehen. Ich höre Marcs entsetzten Aufschrei. Den harten Boden, auf dem ich zusammensacke, spüre ich kaum – aber Marcs Gesicht sehe ich noch deutlich vor mir: die wunderschönen grauen Augen, in denen sich kleine, glitzernde Tränen bilden, der weiche Mund, dessen zärtliche Lippen ich so oft auf meinen spüren durfte, die markanten Gesichtszüge – Zeugen seiner Herkunft. Nimmt er mich in den Arm? Mein Körper ist taub, meine Ohren wollen die Worte, die Marcs Lippen formen, nicht aufnehmen, mich nicht seine wunderschöne Stimme hören lassen.
Wider meines Willens beginnen die Seiten dieses Bildes zu verschwimmen, der Nebel zieht unaufhaltsam in die Mitte, zu seinem Gesicht, in das ich so oft blicken durfte. Ich möchte etwas sagen, meine Lippen formen Worte. „Ich liebe dich... wir werden uns wiedersehen!“ möchte ich sagen. Sage ich es?
Der Nebel zieht sich zusammen. Einen letzten Blick in seine Augen, bis der Nebel sich undurchdringbar zuzieht.
Ein Augenschlag und der Nebel verwandelt sich in Licht, das mich fast blendet. Aber seltsamerweise tut es das nicht ... es ist angenehm und die eiserne Kälte und Steife meines Körper beginnt sich zu lösen. Ich blinzle, will das Licht nicht sehen, will lieber Marc sehen. Und wirklich: vor meinen Augen entstehen wieder Farben und Formen, fügen sich zu Menschen, Häusern und Bäumen zusammen. Wieder stehe ich auf diesem Parkplatz, vor mir eine Gestalt, ein Mensch, der sich über einen anderen beugt. Ich brauche einen Augenblick bis ich bemerke, dass es Marc ist, der dort über ... über mir? ... kauert. Noch nie habe ich ihn so elend erlebt. Ich will zu ihm hingehen, ihn in den Arm nehmen, ihm meine Liebesbeweise ins Ohr flüstert. Ihm sagen, dass ich ihn liebe. Aber etwas hält mich zurück, eine Kraft die stärker als alles andere zu sein scheint. Ich wehre mich dagegen. Ich will hier bleiben, will Marc meine Liebe beweisen, ihm zurufen, wie viel er mir bedeutet. Aber meine Zunge scheint gelähmt, unfähig auch nur ein einziges Wort zu bilden. Die Kraft hinter mir wird stärker, ich spüre wie sie mich wegzieht, weg von meinem Liebsten, von meinem Leben, von allem was mir je etwas bedeutete. Aber ich bin unfähig mich dagegen zu wehren. Marcs Gestalt wird kleiner. Wäre es mir möglich zu weinen, ich würde es tun.
Ich wage es nur kurz den Blick von ihm abzuwenden und einen Blick nach hinten zu werfen, auf das, was mich fortzieht. Das einzige was ich sehe ist Licht, Licht das aus einem großen Tor strömt, mich mit sanftem, aber festem Griff festhält und unbarmherzig weiterzieht. Weiter fort von meinem Liebsten.
Nur noch ein kleiner Punkt ist er, ausharrend in der gekrümmten Position, umgeben von Weiß und Licht. Es tut mir weh ihn so zu sehen. Mit einem letzten verzweifeltem Schrei rufe ich stumm Marcs Namen, bevor das Licht mich durch das Tor zieht. Als die goldenen Pforten sich hinter mir schließen, dringt ein einziges Wort, ein Name an mein Ohr. Marcs Stimme ruft nach mir: „Samira!“

Das helle Licht, das mich durch das Tor begleitete, weicht nun schwarzer Dunkelheit. Unter meinen, seltsamerweise nackten, Füßen spüre ich kalten Stein. Vorsichtig strecke ich beide Hände aus, um mich in dieser Dunkelheit zurechtzufinden. Aber sie stoßen auf keinen Widerstand. Wo bin ich nur? Oder besser, bin ich noch? Schließlich bin ich gerade gestorben, zumindest glaube ich das. Sieht so das Leben nach dem Tod aus? Nackt in der Dunkelheit?
Ich wage es nicht, meine Füße auch nur ein Stück zu bewegen. Während ich so dastehe, auf dem kalten Stein, kommen mir wieder die letzten Bilder in den Sinn. Den trauernden Marc, über meinen Körper gebeugt und meine hilflosen Versuche mich gegen das Licht, diese unbekannte Kraft, zu wehren und bei Marc sein zu können.
Während ich mich immer verlorener und hilfloser fühle, dringen plötzlich Geräusche an mein Ohr. Schritte! Ein leises Knarren verrät eine Tür. Und kaum hat es nachgelassen, erscheint ein heller Lichtpunkt zu meiner Rechten. Eine kleine Flamme die sich mir näher schiebt und schließlich ein Gesicht erhellt. Von dem hellen Licht der Fackel geblendet, blinzle ich einige Male, was meinen Blick beginnt zu schärfen. Endlich erkenne ich das Gesicht als das von Falten gezeichnete Gesicht einer alten Frau, mit grauem Haar aber unerwartet klaren und strahlenden grünen Augen. Sie lächelt und bleibt einige Meter vor mir stehen. Einige Sekunden Blinzeln lassen mich das weiße Gewand erkennen, das sie träg. Während sie in der einen Hand die Fackel hält, liegen über ihrem anderen Arm graue Stoffe, in der Hand hält sie braune Stiefel, dessen Machart mich stark an das Mittelalter erinnert.
„Zieh das an, mein Kind.“ Ihre weiche Stimme ruft Erinnerungen an meine Großmutter wach. Ich schaue der alten Frau in die Augen und sie nickt: „Ja, deine Großmutter ist ein wunderbarer Mensch.“ Verdutzt starre ich sie an, doch bevor ich etwas sagen kann, gebietet sie mir mit einer Handbewegung schweigen und hält mir stattdessen wieder die Kleider auf ihrem Arm hin. Erst jetzt bemerke ich, dass nicht nur meine Füße nackt sind. Ich spüre wie die Hitze der Schamesröte in mir aufsteigt, aber die Alte lächelt nur. „Schäme dich nicht, mein Kind. Die Nacktheit ist das Natürlichste des Menschen.“ Trotzdem nehme ich eilig die Kleider von ihrem Arm. Die Alte hilft mir in das Gewand und hält mir dann die Stiefel entgegen. Froh dem kalten Boden entkommen zu können ziehe ich sie an. Während die Alte mich mustert setze ich zu einer Frage an, doch noch bevor das erste Wort meine Lippen verlässt, lächelt sie mich schon wieder an: „Ob du tot bist? Ja und nein. In deiner alten Welt bist du gestorben. Hier nun, in dieser Welt, der “Zweiten Welt“, bist du gerade geboren worden. „Dann bin ich nicht im Himmel oder so?“, frage ich verwundert. Die Alte lacht leise: „Nein. Dies hier ist erst dein zweites Leben von vielen anderen, die du noch vor dir hast.“ – „Also wie im Buddhismus?“. Wieder lacht sie: „So ähnlich, nur dass du nun in einer anderen Welt und immer noch als du selbst “wiedergeboren“ wurdest. Manche nennen es auch die “Zweite Chance“, was in meinen Augen völliger Unsinn ist, da dies hier eine ganz eigene Welt ist. Sie unterscheidet sich in vielen Dingen von der Welt, aus der du gerade kommst.“
Verdutzt starre ich diese Frau an. Die Frau die Gedanken liest und mir auf irgendeine Weise bekannt vorkommt. „Wer bist du eigentlich?“, frage ich schließlich. Warum habe ich diese Frage eigentlich nicht schon eher gestellt? „Wer ich bin? Ich bin Athene. Die Wahrerin der “Zweiten Welt“. Nenne mich einen Engel, einen Geist, eine Göttin... wie du magst. Ich wanderte lange Zeit in der “Ersten Welt“, bis die Menschen anfingen, sich vor dem Tod zu fürchten. Seitdem bewache ich dieses Tor, kümmere mich um die “Neugeborenen“ und sorge dafür, dass sie auch wirklich kommen. So, nun komm. Es ist Zeit für dich!“ Athene nickt mir zu und deutet auf eine zweite Tür, dessen Rahmen leicht beginnt zu leuchten. „Hindurchgehen musst du aber selbst, mein Kind“, lächelt sie mir zu.
Langsam gehe ich Richtung der mir gewiesenen Tür. Die Aufregung lässt mein Herz rasen und es scheint mir als liefen tausend Ameisen meinen Nacken und meine Hände entlang. Mit jedem Schritt, den ich auf die Tür zugehe, beginnt sie kräftiger zu leuchten. Als meine Hand die silberne Klinke berührt, spüre ich ihre Wärme. Wie von selbst schwingt sie nach innen und gibt den Blick auf weite grüne Hügel und Wälder frei. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf das Gras. Als ich mich noch einmal umblicke ist der Fackelschein verschwunden und hinter mir liegt wieder die Schwärze wie bei meiner Ankunft.

Die Sonne der anderen Seite wärmt mein Ohr und ich trete, bestärkt durch die Wärme der Sonne, entgültig aus der dunklen Halle in mein neues Leben. Als sich die Tür hinter mir schließt, scheint es mir, als höre ich Athenes Stimme in meinem Kopf: „Lebe wohl, Samira. Ich wünsche dir Glück. Lebe dein zweites Leben, genieße es!“. Irre ich mich, oder klang in ihrer Stimme Trauer mit?
Dann ist es still. Aber nur kurz. Meine Sinne scheinen erst jetzt ihre Funktion wieder richtig aufzunehmen und es dringen tausend Gerüche und Düfte auf mich ein. Vögel besingen in fremdartigen Stimmen den Morgen, der Wind rauscht durch die Blätter und die Frühlingsluft duftet nach Blumen und Heu. Während ich über Wiesen mit seltsamen Blumen auf ein Dorf am Fuße eines Hanges zugehe und die Sonne mir die Haut wärmt, denke ich an Marc: „Ja, ich habe dir meine Liebe bewiesen, mein Liebster. Ich habe mein Leben für deines geopfert, dich vor der Kugel beschützt. Ich liebe dich Marc und ich werde auf dich warten. Denn irgendwann wirst auch du diese dunkle Halle betreten müssen. Du wirst auf Athene treffen und dann durch diese Tür gehen. Dort werde ich dich empfangen, werde endlich wieder in deine Augen blicken, dich küssen und berühren können. Wir werden wieder zusammen sein und endlich das Leben führen, wie wir es uns wünschten.
Bis bald, Marc, bis bald.“

 

Anmerkungen

ich bin mir nicht so sicher ob das hier die richtige Rubrik ist,
allerdings stellt diese Geschichte ein wichtiges Thema in meinem Leben dar,
und meine Vorstellung, wie es nach dem Tod sein könnte.
Deswegen finde ich "Philosophisches" eigentlich ganz passend :)

 

Hey Basti,

Ich danke dir für deine Kritik, denn sie ist wirklich sehr interessant.

Zuerst einmal: Ja, der Logikfehler ist mir auch schon aufgefallen, allerdings bin ich noch am überlegen, wie ich das änder...

Vielleicht kann ich mich dadurch rechtfertigen, dass ich nicht die Absicht hatte, etwas völlig Neues zu schreiben (aber das wird vermutlich jedes Mal gesagt ;)).

Diese typischen Tod-Symbole wie die goldene Pforte oder das Licht mag kitschig sein, dazu meine Erklärung:
1. Das Tor: Für mich schien dieses Tor einfach passend, allerdings hatte ich da nicht das obligatorische Tor im Kopf, vor dem Petrus sitzt und in seinem Buch nachschaut - ich dachte da eher an den Ausgang aus der Ersten Welt, welches dich in die nächste Welt holt... Vielleicht kommt es etwas kitschig rüber, aber das Tor ist nicht golden ;) Ich finde, nur weil in einer Geschichte über den Tod ein Tor vorkommt, muss es nicht gleich das zum Himmelsreich sein oder? Besonders da es nicht direkt in die nächste Welt führt...
2. Das Licht: Es ist nunmal Tatsache, dass manche Menschen, die wiederbelebt wurden, von einem Licht berichten. Da dies eine meiner Todes-Theorien ist (also meine Geschichte), wüsste ich keinen Grund, das Licht rauszunehmen... ;)

Naja, vielleicht ist das einfach auch ein heikles Thema, da jeder so seine eigenen Vorstellungen hat. Schade, dass meine Geschichte dir nicht gefallen hat Basti, aber ich danke dir für deine ehrliche Kritik :)

LG Glori

 

Hallo Glorfindels Erbin,
leider finde ich deine KG für etwas zu sentimental, aber ich will dich von deiner Verstellung nicht abbringen. Dass nach dem Tod, alles besser und schöner wird. Dies glaubte ich auch, als ich in deinem Alter war. Ich denke, die Angst vor dem Tod, ist der Vater des Gedankens.
Liebe Grüße aus der Weltflucht

 

Hallo weltflucht,

Erstmal danke für's Lesen :), ich hab das Gefühl meine Geschichte wird entweder nicht gelesen oder keiner mag einen Kommentar abgeben, deswegen freu ich mich sehr, dass du sie gelesen hast :)

Ich bin mir aber nicht so sicher, dass die Angst vor dem Tod Grund für diese Vorstellung ist. Zumindest nicht direkt. Der Tod ist nunmal etwas Unbekanntes und keiner weiß, was danach oder dabei passiert. Dass ich mir da Gedanken drüber mache und solche Vorstellungen habe, hat doch nichts mit Angst zu tun.
Vielleicht ist es eher Optimismus, dass man in meiner Vorstellung nicht einfach weg ist oder irgendwo gebraten wird ;)

Übrigens habe ich nie gesagt, dass es nach dem Tod besser und schöner wird. Ich meinte eher ein neues, zweites Leben dass meine Protagonistin beginnt, ob das nun wirklich schön wird, kann keiner sagen. Vielleicht heiratet sie und alle Kinder sterben ihr weg? :(
Ich glaube die "Zweite Welt" wie ich sie hier beschrieben habe, wird mit dem Paradies verwechselt. Ich wollte nicht zeigen, dass meine Protagonistin ins Paradies kommt, ich wollte zeigen dass sie einfach in eine neue Welt kommt und dort nochmal eine Chance hat zu leben und sich selbst zu finden. Auf dieser Welt ist sie ebenfalls sterblich und wenn sie dort stirbt, wird sie wieder in die nächste Welt befördert... Das ganze mit einem unbekannten Ziel, vielleicht hört das auf, wenn man sich sozusagen "ausgelebt" hat - alles einmal ausprobiert oder wirklich lebensmüde ist...

Es wird also nicht zwingend alles schöner oder besser, es ist wohl eher wie wenn man in eine andere Stadt oder in ein anderes Land zieht, man fängt von vorne an, ohne die Dinge die einen vorher geprägt haben, zu verlieren... :)

LG Glori

 

Liebe Glorfinels Erbin,

kennst du die Geschichte von F.M. Dostojewskij " Der Traum eines lächerlichen Menschen" Kurzfasssung: Der Erzähler sieht keinen Sinn und beschließt dem ein Ende zu machen. Er Schläft ein. Wird im Traum durch das All getragen und landet auf einem Planeten, der eine völlige Kopie der Erde darstellt. Auch die Menschen sind gleich - kennen jedoch keinerlei negative Gefühle, wie Hass, Neid und ähnliches. Durch ihn lernen sie das Negative kennen. Er erkennt seine Schuld, und will die Entwicklung zurückdrehen, aber vergebens. Er erwacht. Er will leben und zieht durch die Welt, um zu predigen, dass man auf der Erde leben und dennoch glücklich sein kann. Erkenntnis: Nicht die Ratio entscheidet über den Sinn des Lebens, sondern das Herz.

Du siehst, man kann auch im Leben eine zweite Chance bekommen ohne wiedergeboren zu werden. Und ich meinte nicht, du hättest angst, ich meinte die Menschen im Allgemeinen.

Ich wünsche dir viele Leser und viele Kommentare, natürlich nur positive
Grüße aus der Weltflucht

 

Sicher kann man auch in diesem Leben eine zweite Chance kriegen, vielleicht auch eine vierte oder fünfte!
Allerdings könnte man in jeder Welt Erfahrungen machen, die auf den anderen Welten nicht machbar sind (ohne Technologie leben zum Beispiel) bzw. schwer zu machen sind...

Dass die Menschen im allgemeinen Angst vor dem Tod haben ist leider wahr, nicht umsonst gibt es Schönheitsoperationen oder werden Menschen im Koma z.T. jahrelang durch Maschinen am Leben erhalten, nur weil die Mitmenschen ihn nicht verlieren wollen...

Und danke für deine Wünsche, ich wünsch es mir auch :)

LG Glori

 

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