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Jorska

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14.08.2012
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Jorska

Natürlich gibt es in meiner Heimatstadt dieses Kaffeehaus nicht, zumindest nicht an dieser Hausecke, zumindest nicht in diesem Viertel. Und natürlich biegt auch keine Straßenbahn um diese Ecke. Denkbar wäre es, doch allein die Topografie, dieser zum Meer hin abfallende Hügel, lässt mich an andere Städte denken, an Städte, die sich an küstennahe Berge ducken, aneinander gedrängte Häuserreihen, ein Häusermeer gewissermaßen, als wäre die Brandung das Steilufer hoch gefegt und zu Stein erstarrt. An Lissabon fühle ich mich erinnert und an Chañaral und an Macondo … als würde das irgendeinen Unterschied machen, so groß wie unsere Welt ist, diese so wunderbare und so grausame Welt mit ihren vielen Städten und ihren vielen Menschen. Aber immer wieder träume ich von diesem Kaffeehaus in dieser Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich nie wieder aussprechen werde.
Jedenfalls spielten wir Billard in diesem Café, Jorska und ich, in einem seltsam ockerfarbenen Licht, einem goldenen … fast möchte ich sagen, in einem güldenen Licht, das aus kristallenen Lustern fiel. Die Fenster staubig, die Wände vergilbt und rauchig, sienabraun, in den Ecken fast dunkelbraun, fast pompejanischrot, so rot wie die Plüschbänke, und unter all dem ein in Jahrzehnten gealterter, getretener, pechschwarzer Parkettboden, ölig glänzend und unter meinen Chucks knarrend, als wollte er Geschichten von früher erzählen, von irgendwann. Alles, wirklich alles hier, wirkte alt und schäbig, selbst der Kellner mit seinen eisgrauen Haaren.
Wir spielten Karambol mit einer weißen und zwei roten Kugeln. Jorska, ganz Kavalier, ließ mich beginnen, doch schon den dritten Stoß vermasselte ich und rechtfertigte das mit einer Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen sei, nein, mit dem Zigarettenrauch, der sich in meine Augen gekräuselt hatte. Jorska nahm mich in die Arme und küsste mich. - Du solltest mal wieder zum Friseur, mein Schatz, meinte er, und außerdem rauchst du zu viel.
Aber dann war’s vorbei mit Kavaliersein. Von seinem ersten Stoß an kam ich kaum noch an den Tisch, nahezu fehlerlos spielte Jorska und zauberte ein imaginäres Liniengewirr auf den Filz. Währenddessen sprach er wieder von seinen beiden Töchtern, die er so lange nicht mehr gesehen hatte und die er so sehr vermisste, mit seiner wunderbar tiefen Stimme sprach er, in diesem Singsang, in diesem Idiom, das ich so mochte, das ich liebte, seit ich als Kind einen Sommer bei meiner Patentante in Chișinău verbracht hatte, dieser von mir vergötterten Grande Dame, dieser vollkommen meschuggenen Alten, der verrückten Modeschöpferin mit ihrem betörenden Frauenduft, einem Duft, der mir schon als achtjährigem Mädchen eine Ahnung vermittelt hatte von meiner Zukunft in dieser großartigen Welt.
Jorskas Töchter, Anyana und Carmen, sechs und neun Jahre alt, lebten bei der Oma in Tiraspol, das wusste ich. Sie seien ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, zum Glück, sagte er, und soweit er das überhaupt noch beurteilen könne aus tausend Kilometern Entfernung. Jedesmal, wenn Jorska sich über den Tisch beugte und die Kugeln längs des Queues anvisierte, wurde seine Stimme leiser und seine Stirn legte sich in Falten und wenn sich der Hemdärmel über das linke Handgelenk schob, zeigte sich sein bescheuerter Glücksbringer, dieses Bändchen aus geflochtenem Elefantenhaar. Ob es denn in Moldawien überhaupt Elefanten gäbe, hatte ich ihn nicht erst einmal gefragt. Soviel ich weiß, schon in unserer ersten gemeinsamen Nacht, damals, als ich ihn als klitschnasses, frierendes Bündel Mensch in dem Park, dessen Namen ich nie mehr nennen werde, aufgelesen hatte, in diesem gottverfluchten Park, wo er unter einer Platane gekauert war, leise singend und mit einem Taschenbuch von Neil Stevenson über dem Kopf, Snow Crash in der Originalfassung. Er könne es ohnehin beinahe auswendig, sagte er, so oft habe er es auf seiner Odyssee gelesen, und als er mich dabei spitzbübisch angrinste und seine dunklen Zigeuneraugen Blitze schleuderten, spürte ich zum ersten Mal dieses Ziehen im Schoß und meine Beine zitterten. In jener Sommernacht vor eineinhalb Jahren, die so regnerisch und stürmisch war, dass Jorska lachend meinte, er sei wohl in Patagonien gestrandet und nicht in … in dieser elendigen Stadt, deren Namen ich nicht mehr weiß. In dieser Stadt, in der ich siebenundzwanzig Jahre glücklich lebte, und deren Namen ich nicht mehr weiß, deren Namen ich nie wieder aussprechen werde.
Als Jorska ein letzter Zweibander zum Sieg fehlte und er sich konzentriert über den Tisch beugte, trat ich hinter ihn und ließ mich mit dem Oberkörper auf seinen sinken, ganz behutsam, ganz leicht nur. Ich rieb meine Brüste an seinem Rücken und ich spürte, dass er das spürte. Dann glitt ich mit den Händen unter sein Hemd, fuhr ihm mit den Fingerspitzen über Bauch und Brust, küsste ihn hinters Ohr und schließlich einigten wir uns auf ein Remis.
Mein Gott, wie ich ihn liebte.
Als wir das Café verließen, war es stockdunkle Nacht, soweit man eine Nacht in der Stadt überhaupt als stockdunkel bezeichnen kann und wenn überdies der Vollmond am Himmel steht. Wir schlenderten Hand in Hand durch den Park, blieben hin und wieder stehen, um uns zu küssen, um uns in die Augen zu blicken und uns anzulächeln, und über das Singen und Grölen, das undeutlich zu hören war, zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf. Wir steckten in einem Kokon reinsten Glücks.
Und auch der Schlag zerbrach meinen Kopf nicht, nein, er ließ mich nicht einmal ohnmächtig werden. Sie rissen mich von Jorska weg und warfen mich zu Boden, schimpften mich Hure und Drecksfotze, stopften mir meinen Seidenschal in den Rachen und fesselten mich an eine Parkbank. Sie waren zu siebt und einer von ihnen hielt meinen Kopf fest und zwang mich, zuzusehen. Zuerst verschlossen sie Jorskas Mund mit Klebeband, wickelten es mehrmals um seinen Kopf und sprühten ihm aus einer Lackdose Farbe in die Augen. Dann brachen sie ihm die Finger, alle zehn, einen nach dem anderen, und noch heute meine ich, Jorskas verzweifeltes, rasendes Knurren zu hören, und dann ... oh Gott, dann stachen sie ihm mit einer Glasscherbe ein Auge aus und ich, ich konnte meine Blicke nicht von Jorska lassen, weil ich wusste, dass ich ihn jetzt zum letzten Mal lebendig sehe. Ich konnte nicht einmal wegschauen, als sie ihn kopfüber an den Stamm einer Linde hängten, als sie Gerüstnägel durch seine Fußgelenke trieben … ja, sie nagelten ihn an, als wäre er ein lebloses Stück Holz, und ja … da lebte mein Jorska noch.
Oh Gott, da lebte mein Jorska noch ...
Mehrere Stunden noch habe er gelebt, hieß es später. Doch ich war irgendwann ohnmächtig geworden. Oder gestorben, ich weiß es nicht, aber wo ist da der Unterschied? Denn Jorskas stummes Schreien hätte mich noch auf der anderen Seite der Erdkugel erreicht, selbst auf einem fernen Planeten, nicht einmal vom Lachen dieser Männer wurde sein stummes Schreien übertönt, sein ersticktes Wimmern, sein Stöhnen, das mir das Herz in Stücke riss … ich hörte sein lautloses Flehen, ihm zu helfen, ich hörte jedes einzelne Wort. Oh Gott, Lucie, hilf mir, hilf mir doch … nein, lauf weg, Lucie, lauf um Himmels Willen weg … oh Gott …
Oh Gott, was haben sie mit dir getan, Jorska? Wo bist du, mein Jorska? Wo sind deine zärtlichen Hände, deine Augen? Wo ist dein Lächeln jetzt?
Verrückte Drogensüchtige seien das gewesen, stand in den nächsten Tagen in den Zeitungen, und dass Jorskas Brust und Rücken und Gesicht mit hineingekratzten, hineingeritzten, hineingeschnittenen, hineingebrannten Schimpfwörtern und Hakenkreuzen übersät gewesen seien, und dass die Spurensicherung und die Gerichtsmediziner, schrieben sie, mehrere Stunden am Tatort verbracht und sich immer wieder abgelöst hatten, weil selbst diese hartgesottenen Typen von der Abscheulichkeit der Tat bisweilen die Augen abwenden mussten. Während Beamte des Sonderkommandos den Park abriegelten, ringsum die neugierigen Gaffer mit ihren Handykameras herumfuchtelten, während ein milder Frühlingsmorgen in einen ebenso milden Vormittag überging, während sich die Weltkugel also langsam weiterdrehte, lag meine Welt in Trümmern.
Warum wir den Weg durch den dunklen Park genommen hätten, fragten sie mich bei der ersten Einvernahme im Krankenhaus. Behutsam, liebevoll, beinahe zärtlich gingen sie mit mir um, wie mit einem verwundeten Rehkitz.
„Wegen des Vollmonds ... und weil es der kürzeste Weg war … und weil wir uns so liebten.“
Und dann begann ich zu weinen und ich weine bis heute. Und nur manchmal träume ich von einer Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich vergessen habe.

 

Hallo Ernst Offshore,
nach einer derartigen Geschichte gibt es für mich nur eines: geniessen und schweigen! Manchmal ist für mich jede Art von Kritik fehl am Platz (um Missverständnissen vorzubeugen: ich spreche ausdrücklich nur von mir) und deshalb schicke ich ein grosses Lob und ein Dankeschön für eine Geschichte, die mich bis zum Ende gefesselt hat.
Liebe Grüsse mej

 

Ich habe das Gefühl, mej, dass du in dieser Geschichte möglicherweise auch das gelesen hast, was ich - über die reine Handlung hinaus - damit erzählen wollte.
Vielen Dank für dein Lob.

offshore

 

Hallo ernst-offshore,

was für eine Geschichte. Man wird erst eingelullt, um dann mächtig eins über den Schädel gezogen zu bekommen. Ich find sie sehr gut. Diese sehr überladene Sprache voller Adjektive ist normalerweise nicht mein Fall, hier passt sie. Ein paar Wörter musste ich googlen. Und ein Absatz ist mir besonders aufgefallen:

Jedenfalls spielten wir Billard in diesem Café, Jimmy und ich, in einem seltsam ockerfarbenen Licht, einem goldenen … fast möchte ich sagen, in einem güldenen Regen aus Licht, der aus kristallenen Lustern herabfiel. Die Fenster verstaubt, die Wände vergilbt und rauchig, sienabraun, in den Ecken fast dunkelbraun, fast pompejanischrot, so rot wie die Plüschbänke, und unter all dem ein in Jahrzehnten gealterter, getretener, geteerter, pechschwarzer Parkettboden, ölig glänzend und unter meinen Chucks knarrend,
Die Sprache, die Wortwahl, alles hat in mir ein Bild aus den 50ern entstehen lassen. Zigarettenrauch, Whiskey, schwere dunkle Einrichtung, Anzüge für die Herren und feminine elegante Kleidchen für die Damen. Und dann trägt sie Chucks?! Was für ein Bruch!

Aber ich fühlte mich beim Lesen tatsächlich mehrmals aufs Kreuz gelegt. So war mir auch erst nach dem dritten Absatz klar, das die ErzählerIN tatsächlich eine solche ist. Und natürlich überrascht deine Wendung sehr. Ich habe mich gefragt, ob dieses Maß an Brutalität tatsächlich nötig ist für deinen Text. Ich bin geneigt, zu verneinen. Aber vielleicht geht es dir ja genau darum: Das Kranke, das Unverständliche, das Abscheuliche in dieser Welt zu zeigen ...

Liebe Grüße
Zantje

 
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Zantje schrieb:
Diese sehr überladene Sprache voller Adjektive ist normalerweise nicht mein Fall,
(Meiner auch nicht, im Vertrauen gesagt. :D)

Ich habe mich gefragt, ob dieses Maß an Brutalität tatsächlich nötig ist für deinen Text. Ich bin geneigt, zu verneinen. Aber vielleicht geht es dir ja genau darum: Das Kranke, das Unverständliche, das Abscheuliche in dieser Welt zu zeigen ...
Tatsächlich war das meine Intention, Zantje, auch wenn ich diesen Text weniger bewusst, als vielmehr eher intuitiv geschrieben habe.
Novak hat in einem ihrer Kommentare für mein Gefühl sehr schön auf den Punkt gebracht, worum es mir in der Geschichte geht:

Novak schrieb:
… [die Geschichte] legt den Schwerpunkt auf das Glück der beiden und auf den Moment des Glücks und seine Brüchigkeit. Und darauf, dass die Brüchigkeit nicht durch einen puren blinden Zufall erreicht wird, sondern durch andere Menschen, die doch eigentlich Teil dieser schönen und grausamen Welt sind. Du legst den Fokus eben genau auf den Moment des Glücks und seine Brüchigkeit.
Und was mir noch dazu einfällt, ist, dass deine Sprache eigentlich genau das wiederspiegelt, das Furchtbare und das Schöne. Du schaffst es nämlich mit einer ausnehmend gewählten und liebevollen Sprache wirklich sehr Grausames zu zeigen.

Ich wollte mit dieser Geschichte darstellen, wie gefährlich nahe sich diese beiden Pole in Wahrheit sind, auf der einen Seite das nahezu vollkommene Glück zweier Menschen und dem gegenüber dessen willentliche Zerstörung durch andere Menschen.
Oder nenne es meinetwegen eine Art Gleichnis für das Mensch-Sein an sich: Wir sind im selben Maße zu den schönsten Gefühlen wie zu den abscheulichsten Grausamkeiten fähig.
Ob auch nur irgendein Mensch dafür verantwortlich ist, ob er nun zu den Guten oder zu den Bösen gehört? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, und wenn ich hundertmal an so was wie freien Willen glauben möchte. (Auch wenn der vermutlich nur eine Chimäre ist.)
Nach wie vor macht mir die Geschichte Gänsehaut beim Lesen, trotzdem bin ich froh, sie geschrieben zu haben.

Vielen Dank für deine Gedanken dazu, Zantje.

offshore

 

Titeländerung

Ich habe lang hin und her überlegt und es nun doch getan. Nämlich den Titel geändert.
Den bisherigen (Jimmy) hab ich zwar nicht von ungefähr gewählt, aber mittlerweile erscheint es mir passender, dem Protagonisten einen Namen zu geben, der seiner Herkunft entspricht. Und Jorska ist definitiv ein Roma-Männername.

 

Hey offshore!

Bevor ich Flieges Copywrite kommentiere, wollte ich auch die Ursprungsschichte lesen und kommentieren, also sorry für dieses späte Statement.

Natürlich gibt es in meiner Heimatstadt dieses Kaffeehaus nicht, zumindest nicht an dieser Hausecke, zumindest nicht in diesem Viertel. Und natürlich biegt auch keine Straßenbahn um diese Ecke. Denkbar wäre es, doch allein die Topografie, dieser zum Meer hin abfallende Hügel, lässt mich an andere Städte denken, an Städte, die sich an küstennahe Berge ducken, aneinander gedrängte Häuserreihen, ein Häusermeer gewissermaßen, als wäre die Brandung das Steilufer hoch gefegt und zu Stein erstarrt. An Lissabon fühle ich mich erinnert und an Chañaral und an Macondo … als würde das irgendeinen Unterschied machen, so groß wie unsere Welt ist, diese so wunderbare und so grausame Welt mit ihren vielen Städten und ihren vielen Menschen. Aber immer wieder träume ich von diesem Kaffeehaus in dieser Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich nie mehr wieder aussprechen werde.
Ich kapier´s einfach nicht, ich hab mir darüber den Kopf zerbrochen, was du eigentlich mit diesen Eingangssätzen meinst. Worauf bezieht sich "diese"? Auf den Ort, wo sie sich gerade aufhält? Auf ihre Heimatstadt? Warum kommt die Straßenbahn ins Spiel? Sind mit "Heimatstadt" und "meine Stadt" am Ende des Absatzes zwei verschiedene Städte gemeint? Warum muss sie ihre Heimatstadt mit anderen Städten vergleichen, eine Heimatstadt ist doch der Ursprungsort sozusagen, der keinen Vergleich braucht. Ich steig da echt nicht durch, vielleicht hab ich ja einen riesigen Balken vor Augen.

Also die Geschichte ist ein Paradebeispiel für: Wie kann ich auf ästhetische Weise über schreckliche Dinge schreiben? Denn die Klage, die die Frau hier über ihre verlorene Liebe anstimmt, ist artifiziell, diese verschleiernde und verunklärende Leugnung und Auslöschung der Stadt, in der das Schreckliche passiert ist, die Schilderung der Tat, diese Anrufung des toten Geliebten, das alles geschieht aus einer ruhigen Haltung heraus, die das Ganze überblickt, sie ist nicht mehr geschockt bzw. involviert. Sie ist fertig mit ihrer Stadt und dem Verbrechen, das darin geschah, sie sieht es aus der Distanz und daher kann sie darüber sprechen.
Du bist ja auch ein Meister des Effektes (mir wurde das auch oftmals vorgeworfen, ich kenn mich da also aus ;)) und welcher Effekt könnte größer sein als eine überaus romantische Liebesgeschichte, die in ein äußerst grausames Verbrechen umschlägt. In den klaren und schönen Formulierungen der Frau wird für mich aber keine Verstörung spürbar (außer du wolltest das mit dem verwirrenden Eingangsabsatz erreichen ...) und da müsste eine sein bei jemandem, der so etwas erlebt. Wie kann man so etwas denn ertragen? Wie psychisch überleben? Davon ist zu wenig da. Und so hat die Geschichte für mich etwas Unechtes, Konstruiertes, das eben um diesen Effekt herumgebaut ist und ihn ins Zentrum stellt.

Gruß
Andrea

PS: Ich hab gerade noch bisschen in den Kommentaren gestöbert und da hast du geschrieben:

Alles dürft ihr mir zu diesem Text vorwerfen, nur nicht, dass er aus Kalkül entstanden ist.
Doch, ich glaube, du hattest vor allem das Kalkül, das Gute dem Bösen gegenüberzustellen, um das Böse zu entlarven vielleicht, also eine löbliche Intention ... und hast darüber aber ein bisschen auf die eigentliche Geschichte vergessen, die du erzählst, und dich zu wenig darauf eingelassen.

 
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Ja, Andrea, diese verdammte Jorska-Geschichte ...

Unmittelbar nachdem sie fertig war, habe ich mir gedacht, entweder lass ich das Schreiben jetzt ganz bleiben, weil was Ehrlicheres, Wahrhaftigeres krieg ich sowieso nicht mehr hin, oder aber ich betrachte den Text als eine Art Initialzündung. Als Ansporn für noch hemmungsloseres Schreiben, für noch mehr sprachlichen Aberwitz, für endgültiges Ignorieren sämtlicher Lehrbuchmeinungen, wie verdammt noch mal eine Kurzgeschichte auszusehen hat, was guter Stil ist. Scheiß auf den Mainstream. Fast ein bisschen größenwahnsinnig bin ich mir vorgekommen.
Und wie dann ausgerechnet du mir beim Copywrite zugelost worden bist, war ich im ersten Moment richtig euphorisiert. Ich werde doch nicht mit dem Schreiben aufhören, hab ich mir gedacht, ich werde deine Geschichten und deinen Stil, den ich wirklich liebe und bewundere, quasi als die Herausforderung schlechthin annehmen und offshores Opus Magnum erschaffen, ein Konglomerat aus deinen besten Geschichten …
Ja, verdammte Hybris, Größenwahn. Weil dann hab ich binnen eines Tages "Heimfahren" hingemurkst, eine Geschichte, die ich zwar nicht schlecht finde, die aber doch erbärmlich weit unter meinen ursprünglichen Ansprüchen geblieben ist und nicht zu Unrecht z.B. von Fliege als „white trash“ bezeichnet wird.
Keine Ahnung, was ich momentan von mir als Autor halten soll, ob ich überhaupt einer bin, ob ich überhaupt einer sein will …

Na ja und wie ich dann das lese:

Andrea H. schrieb:
Also die Geschichte ist ein Paradebeispiel für: Wie kann ich auf ästhetische Weise über schreckliche Dinge schreiben? […] Du bist ja auch ein Meister des Effektes […] Und so hat die Geschichte für mich etwas Unechtes, Konstruiertes, das eben um diesen Effekt herumgebaut ist und ihn ins Zentrum stellt.

… ist mir wieder eingefallen, was ich dir schon vor zwei Jahren unter der Pepe-Geschichte geschrieben habe (und was nach wie vor Gültigkeit hat):

mir schrieb:
… dass ich nach wie vor viel zu selbstgefällig schreibe, zu effektheischend, zu sehr auf den Stil bedacht und zu wenig auf die inhaltliche Aussage. In Wahrheit, und das soll jetzt nicht kokett klingen, halte ich mich, was das Schreiben betrifft, ja eigentlich für einen Scharlatan […] Also Scharlatan in dem Sinn, dass ich so tue als ob. Als ob ich mir Gedanken machen würde beim Schreiben, als ob ich eine Absicht und Intention hätte, als ob ich wüsste, was ich da eigentlich tue. Wo ja in Wahrheit die wahren Regisseure meiner Geschichten der Zufall und der Unernst sind.
Hm.
Vielleicht ist es einfach wieder einmal an der Zeit, dass ich mir eine neue Herausforderung suche. In Wahrheit gibt es eh schon viel zu viele dilettierende Hobbyautoren.

Vielen Dank für deine Gedanken, Andrea.

offshore

 

Du spinnst ja, du schreibst schön weiter! *augenroll* Sei nicht so eine Drama-Queen, nur weil eine fade Germanistin, die selbst nix auf die Reihe kriegt, dich ein bisschen kritisiert!

Ich glaub, dein Problem ist der Überschwang und der Enthusiasmus, es reißt dich einfach immer mit, was ich sehr sympathisch finde, aber was dir manchmal ein bisschen das kritische Auge trübt, auch bei deinen eigenen Texten. Nur ist die Schreiberei eine langsame und bedächtige Angelegenheit, Überschwang schadet da oft. Beim Schreiben kann und muss man immer wieder überprüfen. Das ist ganz essentiell.

Du hast schon viel: Du hast was zu sagen, du hast Phantasie, du hast einen eigenständigen Stil, ein bisschen mehr überlegen, was und warum man eigentlich etwas macht - und einem Opus Magnum steht aber absolut nix im Weg!

Was die Effekte betrifft: Ich glaub, das gehört zum Handwerkszeug, dass man damit arbeitet, das is ja nix Schlechtes.

 

Hallo ernst,
deine Geschichte geht unter die Haut. Die offensichtliche Leugnung des rechtsextremen Hintergrundes des Verbrechens hast du ohne erhobenen Zeigefinger angeprangert. Blinde Justizia...

ein Häusermeer gewissermaßen, als wäre die Brandung das Steilufer hoch gefegt und zu Stein erstarrt.
dieser von mir vergötterten Grande Dame, dieser vollkommen meschuggenen Alten, der verrückten Modeschöpferin mit ihrem betörenden Frauenduft, einem Duft, der mir schon als achtjährigem Mädchen eine Ahnung vermittelt hatte von meiner Zukunft in dieser großartigen Welt.
er sei wohl in Patagonien gestrandet und nicht in … in dieser elendigen Stadt, deren Namen ich nicht mehr weiß. In dieser Stadt, in der ich siebenundzwanzig Jahre glücklich lebte, und deren Namen ich nicht mehr weiß, deren Namen ich nie wieder aussprechen werde.
wunderbar

war es stockdunkle Nacht, soweit man eine Nacht in der Stadt überhaupt als stockdunkel bezeichnen kann und wenn überdies der Vollmond am Himmel steht. Wir schlenderten Hand in Hand durch den Park, blieben hin und wieder stehen, um uns zu küssen, um uns in die Augen zu blicken und uns anzulächeln und über das Singen und Grölen, das undeutlich zu hören war, zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf. Wir steckten in einem Kokon reinsten Glücks.
Und auch der Schlag zerbrach meinen Kopf nicht, nein, er ließ mich nicht einmal ohnmächtig werden.
sehr gute Überleitung

Mehrere Stunden noch habe er gelebt, hieß es später. Doch ich war irgendwann ohnmächtig geworden. Oder gestorben, ich weiß es nicht, aber wo ist da der Unterschied? Denn Jorskas stummes Schreien hätte mich noch auf der anderen Seite der Erdkugel erreicht, selbst auf einem fernen Planeten, nicht einmal vom Lachen dieser Männer wurde sein stummes Schreien übertönt, sein ersticktes Wimmern, sein Stöhnen, das mir das Herz in Fetzen riss … ich hörte sein lautloses Flehen, ihm zu helfen, ich hörte jedes einzelne Wort.
"aber wo ist da der Unterschied?" würde ich weglassen. Weniger ist hier mehr, finde ich.
Das Lachen der Männer ist mir zu positiv ausgedrückt, Gelächter / Gejohle finde ich passender.

Oh Gott, Lucie, hilf mir, hilf mir doch … nein, lauf weg, Lucie, lauf um Himmels Willen weg … oh Gott …Oh Gott, was haben sie mit dir getan, Jorska? Wo bist du, mein Jorska? Wo sind deine zärtlichen Hände, deine Augen? Wo ist unsere Liebe jetzt?
Ist mir zu pathetisch, kürzer / nüchterner würde es mich noch mehr erwischen.

während sich die Weltkugel also langsam weiterdrehte, lagen mein Leben und meine Welt in Trümmern.
Würde ich "mein Leben" streichen, zertrümmerte Welt drückt alles aus.

„Wegen des Vollmonds ... und weil es der kürzeste Weg war … und weil wir uns so liebten.“
Und dann begann ich zu weinen und ich weine bis heute. Und nur manchmal träume ich von einer Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich vergessen habe.
Sehr gelungenes Ende.

Traurige, wunderbar geschriebene Geschichte. Ich hoffe, sie ist nicht real.
Lieben Gruß Damaris

 
Zuletzt bearbeitet:

Damaris schrieb:
Traurige, wunderbar geschriebene Geschichte. Ich hoffe, sie ist nicht real.
Keine Bange, Damaris, die Geschichte ist zur Gänze meiner kranken Phantasie entsprungen. :dozey:
Was deine Änderungsvorschläge betrifft: Nach gut einem halben Jahr könnte ich vielleicht wirklich noch einmal mit dem Rotstift drübergehen. Mal sehen.

Vielen Dank für dein Lob, Damaris.

offshore

 

Hallo Offshore,

ich habe die Geschichte schon gelesen, als du sie gepostet hast. Nun, ein Jahr später, bekommst du auch einen Kommentar dazu. Beim Durchstöbern der Top16 ist mit aufgefallen, dass ich das noch nicht gemacht habe.
Ich weiß noch, dass mich die Geschichte arg mitgenommen hat. Konstruiert hin oder her, mich hat die Sprache abgeholt, wunderbar weich eingebettet, von Wolke zu Wolke geleitet, nur um mich schockiert abstürzen zu lassen. Das tat weh. Und obwohl ich den Text kannte, ist es mir auch jetzt, ein Jahr später, noch einmal so ergangen. Da setzte sich etwas Ekliges in meiner Magengrube fest, etwas, dass schmerzt und einen unangenehmen Geschmack hinterlässt. Traum hin oder her, das frisst sich böse in die Realität.
Maximale Wirkung. Kompliment.

grüßlichst
weltenläufer

 

weltenläufer schrieb:
Ich weiß noch, dass mich die Geschichte arg mitgenommen hat.
Glaub mir, weltenläufer, mich auch. :eek:

Im Zuge der Nominierung hab ich sie mir in den letzten Tagen ja wieder ein paar Mal und sehr bewusst durchgelesen, auch im Hinblick darauf, ob ich nach mehr als einem Jahr und mit dementsprechender Distanz nicht die eine oder andere Stelle noch etwas verbessern könnte. Hab's dann allerdings dabei belassen, insgesamt nur zwei oder drei Wörter geringfügig umzustellen. Zum einen, weil es mir irgendwie unkorrekt erschienen wäre, während der laufenden Abstimmung noch groß herumzudoktern am Text, zum anderen, weil ich durch nachträgliche (besonnene?) Änderungen möglicherweise die Seele(?) der Geschichte beschädigt hätte.
Entstanden ist der Text damals ja tatsächlich binnen zweier Stunden, als Ergebnis vollkommen intuitiven Schreibens, mit Bleistift in ein Schreibheft reingefetzt, und sicherlich mehr als 95% dieser Urfassung hab ich beim Abtippen unverändert übernommen. Natürlich hätte ich beim neuerlichen Lesen jetzt noch einige Ideen gehabt, wie ich da dramaturgisch noch ein bisschen mehr rausholen könnte, wie ich die Figuren noch etwas differenzierter gestalten könnte, selbst zu einer Ausweitung der Handlung wäre mir was eingefallen.
Aber irgendwie, ich weiß nicht, mir wäre das beinahe wie Dokumentenfälschung erschienen, ja, weil in gewisser Weise diese Geschichte so was wie ein Zeitdokument für mich ist, ein Zeugnis dafür, was mich im Winter letzten Jahres umgetrieben und beschäftigt hat ...

Wie auch immer, schön jedenfalls, weltenläufer, dass du noch einmal vorbeigeschaut hast.
Vielen Dank.

offshore

 
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Hallo ernst,

gleich vorweg: Ich habe die Geschichte gelesen, da sie im Top16er Wettbewerb, worin ich nicht mitgestimmt hatte, gewonnen hat. Keine Ahnung, ob ich sie ohne dies ebenfalls gelesen hätte, wär ich auf sie gestoßen, allerdings bin ich nur noch ganz selten hierzuboard aktiv. Den Titel fand ich – noch vor dem Autornamen – schon mal nicht so ansprechend, wie die wenigsten Einworttitel. Der Grund ist vielfach, dass ich mit alleinstehenden Wörtern und Namen weniger wahrscheinlich etwas verbinde.

Meine Kritik soll nicht vernichtend sein, im Gegenteil: Die Sprache finde ich super, speziell der Umgang mit komplexeren Konstrukten. Handwerklich finde ich die Geschichte 1A.

Inhaltlich lässt mich die Geschichte leider eher unbefriedigt zurück. Es sind eigentlich zwei Geschichten ohne Zusammenhang. Genau das hat mich so gestört. Genauso »gut« hätte Jorska vor eine Trambahn geraten oder von einem herabstürzenden Konzertflügel erschlagen werden können. Was mit Jorska geschieht, hat nichts mit ihm zu tun, das ist Schicksal, es könnte jeden treffen. Nein, ob man Ausländer ist oder nicht, das heißt ob daraus irgendwelche blöden Konsequenzen oder Gefahren erwachsen, das hat nichts mit irgendjemandem persönlich zu tun, das ist für mich schon Nazidenke (naja, »-denke« trifft es ja nicht wirklich, gell).

Ich hätte einen Änderungsvorschlag. Er ist nur theoretisch. Selbstverständlich ist es deine Sache, ob du ihn praktisch irgendwie umsetzt. An deiner Stelle würde ich die Geschichte tatsächlich lassen wie sie ist. Also eigentlich richte ich mich eher an Dritte, die von dieser Geschichte und ihren Kommentaren lernen möchten.

In der ersten Hälfte der Geschichte könntest du zwischen romantischen Parts etwas einschieben, dass er mit gewissen (anderen) Leuten ein Problem hat. Wichtig ist dann, dass dies so gelöst wird, dass die Aufknüpfung nicht wie eine Rechtfertigung rüberkommt, also das Problem sollte nicht unbedingt in der Vergangenheit gewaltsam gelöst worden sein. Dies könntest du sinnvoll verknüpfen mit der Frage, warum Lucie ihn dereinst im Park aufgelesen hat. Wenn du das schon so in die Zeilen gelegt hast, ist mir dies vollkommen entgangen.

Soweit von mir. Tut mir leid, wenn ich Vorkritiker wiederholt haben sollte, ich habe nur die ersten gelesen.


Viele Grüße
-- floritiv

 

floritiv schrieb:
Die Sprache finde ich super, speziell der Umgang mit komplexeren Konstrukten. Handwerklich finde ich die Geschichte 1A.

Das freut mich, floritiv.
Und eigentlich könnte ich es jetzt dabei belassen und mich entspannt zurücklehnen, weil es mir beim Schreiben (und beim Lesen) beinahe ausschließlich um Stil und Sprache geht. (So spannend kann ein Buch gar nicht sein, dass ich's nach der ersten Seite nicht unters Sofa pfeffern würde, wenn es miserabel geschrieben ist.)

Inhaltlich lässt mich die Geschichte leider eher unbefriedigt zurück.
… aber gerade bei dieser Geschichte möchte ich eine Kritik am Inhalt nicht einfach so auf die leichte Schulter nehmen.

Es sind eigentlich zwei Geschichten ohne Zusammenhang. Genau das hat mich so gestört. Genauso »gut« hätte Jorska vor eine Trambahn geraten oder von einem herabstürzenden Konzertflügel erschlagen werden können. Was mit Jorska geschieht, hat nichts mit ihm zu tun, das ist Schicksal, es könnte jeden treffen. Nein, ob man Ausländer ist oder nicht, das heißt ob daraus irgendwelche blöden Konsequenzen oder Gefahren erwachsen, das hat nichts mit irgendjemandem persönlich zu tun, [...]

In der ersten Hälfte der Geschichte könntest du zwischen romantischen Parts etwas einschieben, dass er mit gewissen (anderen) Leuten ein Problem hat. Wichtig ist dann, dass dies so gelöst wird, dass die Aufknüpfung nicht wie eine Rechtfertigung rüberkommt, also das Problem sollte nicht unbedingt in der Vergangenheit gewaltsam gelöst worden sein. Dies könntest du sinnvoll verknüpfen mit der Frage, warum Lucie ihn dereinst im Park aufgelesen hat.


Wenn ich deine Kritik richtig verstehe, floritiv, fehlt dir so was wie ein persönlicher Bezug zwischen Opfer und Tätern, ein nachvollziehbarer Zusammenhang, eine Erklärung der Motive, irgendwas halt, das die Tat nicht als reinen Willkürakt erscheinen lässt.
Aber, hm, wie soll ich sagen … möglicherweise hatte Jorska tatsächlich irgendwelche Probleme mit irgendwelchen Leuten - ja, eigentlich bin ich mir dessen sogar sicher, andernfalls er wohl kaum seine Heimat und seine Töchter hätte verlassen müssen - nur, also falls, dann betrifft das höchstens sein früheres Leben, das hat mit dem Geschehen in der Geschichte nichts zu tun. Die Leute, die ihn letztlich zu Tode quälen, kennen weder ihn noch kennt er sie. Zwischen ihm und seinen Mördern gibt es keine persönliche Beziehung.
Und warum ihn Lucie im Park aufgelesen hat? Nur deshalb:

… und als er mich dabei spitzbübisch angrinste und seine dunklen Zigeuneraugen Blitze schleuderten, spürte ich zum ersten Mal dieses Ziehen im Schoß und meine Beine zitterten.
Auch Lucie wollte ich keine weiteren Motive, die über dieses (sowieso unerklärlbare) Frau-Mann-Dings hinausgehen, zugestehen.
Über Liebe, abgrundtiefen Hass und die Brüchigkeit des Glücks
das könnte der Untertitel der Geschichte sein, weil es in ihr im Grunde um nichts anderes geht: auf der einen Seite das nahezu vollkommene Glück zweier Menschen und dem gegenüber dessen willkürliche Zerstörung durch andere Menschen.
So gesehen ist das hier natürlich keine Plotgeschichte, allerhöchstens eine Art Gleichnis für das Mensch-Sein an sich, dafür, wie wir Menschen im selben Maße zu den schönsten Gefühlen wie zu den abscheulichsten Grausamkeiten fähig sind.


Vielen Dank, floritiv, für deinen Besuch und deine Gedanken zum Text.

offshore

 

Danke für deine Reaktion. Mit deiner Haltung liegst du ganz richtig. Das ändert nichts an meiner Meinung, das mir hier etwas fehlt, ohne das mich die Geschichte halt nicht begeistert, das ist auch richtig so. Wahrscheinlich geht es mir so ein bisschen wie Lucie, der wohl sehr viel stärker, die die ständige Frage des Warums verdrängt hat. Mein Problem mit der Geschichte ist vielleicht nicht so sehr ein Problem mit dem Werk im S. v. das was du hier abgeliefert hast, du verstehst?, eher damit, was auf der Bühne in meinem Leserkopf passiert. Der Autor kann diese Art von Problemen, die seine Leser haben können, verstehen als Kritik à la "Was mir nicht gelungen ist / besser machen könnte", von müssen ist keine Rede. Also eine andere Kategorie als handwerklicher Kram wie Logikfehler, Stilfehler, orthografische Schwächen.

 

Hi ernst offshore,

jetzt bin ich lange genug um deine Geschichte herumgeschlichen.
Habe sie eben noch einmal gelesen.

Zieht mich echt runter, muss ich sagen.
Die Schönheit deiner Sprache. Die Grausamkeit dessen, was geschah.

Es ist eigentlich schon alles gesagt worden in den Kommentaren zuvor.
Nur zwei Kleinigkeiten:

Wir spielten Karambol mit einer weißen und zwei roten Kugeln. Jorska, ganz Kavalier, ließ mich beginnen, doch schon den dritten Stoß vermasselte ich und rechtfertigte das mit einer Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen sei, nein, mit dem Zigarettenrauch, der sich in meine Augen gekräuselt hatte. Jorska nahm mich in die Arme und küsste mich. - Du solltest mal wieder zum Friseur, mein Schatz, meinte er, und außerdem rauchst du zu viel.
Aber dann war’s vorbei mit Kavaliersein.
Von seinem ersten Stoß an kam ich kaum noch an den Tisch, nahezu fehlerlos spielte Jorska und zauberte ein imaginäres Liniengewirr auf den Filz.

Das Unterstrichene ist für mich ein Widerspruch. Wer mir sagt, ich sollte zum Friseur und weniger rauchen, der ist kein Kavalier. :lol:

Soviel ich weiß, schon in unserer ersten gemeinsamen Nacht, damals, als ich ihn als klitschnasses, frierendes Bündel Mensch in dem Park, dessen Namen ich nie mehr nennen werde, aufgelesen hatte, in diesem gottverfluchten Park, wo er unter einer Platane gekauert war, leise singend und mit einem Taschenbuch von Neil Stevenson über dem Kopf, Snow Crash in der Originalfassung.

Sagt man das so bei Euch in Wien? Ich hätte gesagt "gekauert hatte".
So, und jetzt werde ich unsicher ...

Dir wünsche ich in Zukunft bessere Träume. Schreiben kannst du ja auch so.

LG, Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Anne49 schrieb:
Zieht mich echt runter, muss ich sagen.
Die Schönheit deiner Sprache. Die Grausamkeit dessen, was geschah.
Dein Leiden an meiner Geschichte war hoffentlich nur ein … äh, nennen wir’s mal ein fiktives Leiden, Anne, oder?
Und was meine Sprache betrifft: Solange man das Leiden an der Welt in Poesie transformieren kann, ist noch nicht alles verloren, sag ich mir immer.


Anne49 schrieb:
Nur zwei Kleinigkeiten:

Wir spielten Karambol mit einer weißen und zwei roten Kugeln. Jorska, ganz Kavalier, ließ mich beginnen, doch schon den dritten Stoß vermasselte ich und rechtfertigte das mit einer Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen sei, nein, mit dem Zigarettenrauch, der sich in meine Augen gekräuselt hatte. Jorska nahm mich in die Arme und küsste mich. - Du solltest mal wieder zum Friseur, mein Schatz, meinte er, und außerdem rauchst du zu viel.
Aber dann war’s vorbei mit Kavaliersein. Von seinem ersten Stoß an kam ich kaum noch an den Tisch, nahezu fehlerlos spielte Jorska und zauberte ein imaginäres Liniengewirr auf den Filz.

Das Unterstrichene ist für mich ein Widerspruch. Wer mir sagt, ich sollte zum Friseur und weniger rauchen, der ist kein Kavalier. :lol:
Dieser scheinbare Widerspruch ließe sich recht leicht auflösen, Anne. Du kannst die Formulierung „dann war’s vorbei mit Kavaliersein“ entweder darauf beziehen, dass Jorska Lucie das Spiel hat beginnen lassen, oder aber, wenn du sie schon auf Lucies Frisur beziehen willst, sie einfach als leise Ironie verstehen.


Anne49 schrieb:
… in diesem gottverfluchten Park, wo er unter einer Platane gekauert war, …
Sagt man das so bei Euch in Wien? Ich hätte gesagt "gekauert hatte".
So, und jetzt werde ich unsicher ...
Mit Recht, Anne. Tatsächlich sind nämlich beide Varianten richtig. Aber welche man nun als richtiger empfindet, hängt einzig davon ab, wo man sprechen gelernt hat.

Ich zitiere jetzt einfach mal den Duden:

Duden schrieb:
Perfektbildung mit „haben“ oder „sein“
Die meisten Verben bilden das Perfekt mit haben, nur eine abgrenzbare Gruppe von intransitiven Verben bildet das Perfekt mit sein. Das haben-Perfekt ist also der Normalfall.
Intransitive Verben, die den Übergang in einen neuen Zustand bezeichnen, bilden das Perfekt mit sein: Der Dieb ist spurlos verschwunden. Die Rosen sind wundervoll aufgeblüht.
Viele Bewegungsverben können das Perfekt sowohl mit haben als auch mit sein bilden, also z. B. ich habe geschwommen – ich bin geschwommen, sie hat gejoggt – sie ist gejoggt. Werden diese Verben allerdings mit einer Richtungs- oder Ortsangabe verbunden, ist nur die Perfektbildung mit sein möglich: Sie ist gestern nach Mannheim gefahren. Wir sind ein bisschen durch die Innenstadt gebummelt.
Generell nimmt bei den Bewegungsverben die Perfektbildung mit sein zu, also eher Wir sind den ganzen Tag geklettert oder Sie ist schon viele Bahnen geschwommen.
Ausschließlich mit sein gebildet werden inzwischen die Verben gehen und reisen.
Übrigens gibt es bei bestimmten Verben interessante regionale Unterschiede. Während man im Norden z. B.: Ich habe gelegen/gestanden/gesessen sagt, heißt es in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz: Ich bin gelegen/gestanden/gesessen.

Vielen Dank für deinen Besuch, Anne, und, mit angemessener Verspätung: Willkommen bei uns.

offshore

 

Hallo ernst offshore,

Deinen Text habe ich schon vor längerer Zeit gelesen und immer wieder über einen Punkt nachgedacht, der gleich kommt.

Aber zuerst das Lob: sprachlich/stilistisch finde ich den Text toll.

Jetzt der Punkt, der mich umtreibt (vielleicht kam er auch schon bei einem anderen Kommentator - ich habe nicht alle Kommentare gelesen):

Effekthascherei.

Das klingt hart und natürlich enthält jeder Text eine gewisse Form von "Effekthascherei". Aber Dein Text lebt sehr stark von dieser Effekthascherei, Jorska unvermittelt brutal zu töten, und das ist etwas, was ich einfach nicht mag, nicht beim Theater, nicht beim Film, nicht in der Malerei und auch nicht in der Literatur. Natürlich gibt es tausend Argumente für eine solche Art Effekthascherei, vielleicht ist sie sogar manchmal notwendig. Ja, die Welt ist grausam, nicht nachvollziehbar, ungerecht und voller bösartiger Zufälle und ein solcher Effekt, dessen Du Dich bedienst, führt uns das eindrücklich vor Augen.

Aber ich mag es trotzdem nicht, denn es kommt mir "billig" vor, den Leser einzulullen und dann eins mit der Axt überzubraten und ratlos zurückzulassen.

Außerdem mag ich das deterministische Weltbild nicht, weil dann unser Ringen um Entscheidungen und Handlungen bedeutungslos wird.

Aber trotzdem ist der Text gut geschrieben.

Gruß
Geschichtenwerker

 
Zuletzt bearbeitet:

Geschichtenwerker schrieb:
Jetzt der Punkt, der mich umtreibt (vielleicht kam er auch schon bei einem anderen Kommentator - ich habe nicht alle Kommentare gelesen):

Effekthascherei.

Das klingt hart und natürlich enthält jeder Text eine gewisse Form von "Effekthascherei". Aber Dein Text lebt sehr stark von dieser Effekthascherei, Jorska unvermittelt brutal zu töten, und das ist etwas, was ich einfach nicht mag, nicht beim Theater, nicht beim Film, nicht in der Malerei und auch nicht in der Literatur. Natürlich gibt es tausend Argumente für eine solche Art Effekthascherei, vielleicht ist sie sogar manchmal notwendig. Ja, die Welt ist grausam, nicht nachvollziehbar, ungerecht und voller bösartiger Zufälle und ein solcher Effekt, dessen Du Dich bedienst, führt uns das eindrücklich vor Augen.


Effekthascherei … hm (= am Kopf kratz)
Klar, Geschichtenwerker, Lucie hätte ihren Geliebten auf unzählige andere - bei Gott unspektakulärere - Arten verlieren können. Durch eine unheilbare Krankheit zum Beispiel, oder Jorska hätte sie auch schlicht wegen einer anderen Frau verlassen können, usw. Fragt sich halt nur, ob so ein alltägliches Drama, wie es überall und jederzeit im wirklichen Leben vieltausendfach tatsächlich geschieht, erzählenswert gewesen wäre.
Warum schreiben wir Geschichten? Wollen wir lediglich den Alltag beschreiben oder uns nicht doch eher das Niegehörte für die Leser ausdenken? Insofern finde ich den Vorwurf der Effekthascherei - auch wenn er dir hart erscheint - gar nicht mal so abwertend, weil … hm, seien wir uns doch ehrlich, geht‘s uns nicht allen in erster Linie darum, mit unseren Texten beim Leser einen Effekt zu erzielen? (Im Sinne der Duden-Definition, die den Begriff Effekt als „bezweckte oder auch nicht bezweckte [überraschende, beeindruckende] Wirkung“ beschreibt.)

Aber ich mag es trotzdem nicht, denn es kommt mir "billig" vor, den Leser einzulullen und dann eins mit der Axt überzubraten und ratlos zurückzulassen.

Und den zugegeben radikalen Twist, diesen überraschenden, anscheinend vollkommen grundlosen Einbruch des Grauens, des Bösen, des unfassbar Schrecklichen in den Alltag als „billig“ zu bezeichnen … nun ja, so gesehen könnte man das Leben schlechthin als billig empfinden. Ob nun ein Kind auf dem Schutzweg von einem betrunkenen Autoraser niedergemäht wird oder ein irrer Amokschütze wahllos Passanten abknallt, ob nun ein Flugzeug abstürzt und dutzenden Familien ins Unglück stürzt oder einem die Propangasflasche des Campingkochers um die Ohren fliegt usw. - das alles sind in aller Regel unangekündigte Ereignisse, die nichts weniger tun, als einer plausiblen, nachvollziehbaren Dramaturgie zu folgen. Die gehorchen nicht der Logik eines ausgeklügelten Geschichtenplots, sondern die geschehen einfach.

Außerdem mag ich das deterministische Weltbild nicht, weil dann unser Ringen um Entscheidungen und Handlungen bedeutungslos wird.

Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, Geschichtenwerker, was in dem Text dich an ein deterministisches Weltbild (im Sinne einer vorherbestimmten Wirklichkeit?) denken lässt - wobei man jetzt natürlich noch darüber debattieren könnte, welche Art von Determinismus du überhaupt meinst.
Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge“, sagt der Protagonist in einer anderen Geschichte von mir und das entspricht auch ungefähr meiner Weltsicht, die - radikal verkürzt – in etwa so lautet:
Dinge geschehen.
Und das hat nun nichts mit Fatalismus zu tun, sondern ist nichts anderes als ein Akzeptieren der Tatsache, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ein in Wahrheit nahezu undurchschaubares Kuddelmuddel aus Kausalität, Folgerichtigkeiten, Unabwägbarkeiten und last but not least eben Zufällen ist. So gesehen ist diese Geschichte, zumindest in meinen Augen, trotz des gewalttätigen Schlusses eigentlich vollkommen alltäglich.

Wie auch immer, Geschichtenwerker, auf jeden Fall hab ich mich sehr gefreut, dass dir der Text sprachlich so gut gefallen hat. Und verzeih bitte meine verspätete Antwort. Aber momentan ist mein Leben ein in Wahrheit nahezu undurchschaubares Kuddelmuddel aus Kausalität, Folgerichtigkeiten, Unabwägbarkeiten, diversem anderen Zeugs, usw. … :D


offshore

 

Lieber ernst offshore,

zunächst einmal möchte ich Danke sagen, dass Du überhaut trotz der Widrigkeiten des Lebens reagiert hast und wegen mir musst Du Dich nicht entschulden, dass die Antwort Zeit benötigt hat. Wir haben alle ein Leben außerhalb des Forums und ich habe keinen Anspruch auf eine Antwort und schon gar nicht auf eine schnelle. Insofern freue ich mich über jede Reaktion und wenn sie dann noch gehaltvoll ist, umso mehr.

Ich glaube, man kann das Thema der "Effekthascherei" sehr lange und kontrovers diskutieren. Natürlich lebt jede (gute?) Geschichte von Effekten. Aber es gibt meistens eine zweite Ebene unterhalb des Effekts. Als schnelles Beispiel fällt mir Peeperkorns "Komm runter" Geschichte hier im Forum ein. Auch dort gibt es eine Provokation ("Komm runter"), die aber aus der Gefühlswelt des Protagonisten heraus erklärt wird.

Dein Effekt hat diese zweite Ebene nicht. Das meine ich mit Effekthascherei. Deine Figuren sind austauschbar und auch Dein Plot. Man könnte auch eine Mutter-Kind Beziehung beschreiben und dann zwei Soldaten reinkommen lassen, welche die stillende Mutter vergewaltigen, die Brüste abschneiden und dann sie zusehen lassen, wie das Kind verdurstet (siehe Krieg im Kongo, das Szenario ist nicht meiner Phantasie entsprungen). Einen solchen Plot kann man sogar damit rechtfertigen, dass man auf diese Gräueltaten aufmerksam machen möchte. In diesem Sinne finde ich es auch "billig", weil der Effekt, den Leser zu schocken, einfach zu haben ist. Ich mache eine Figur sympathisch, zeige Emotionen und dann wird sie getötet, gefoltert, was auch immer. Schock garantiert.

Wie gesagt, ich mag es einfach nicht. Und ich schreibe ganz bewusst "mögen", weil das aus meiner Sicht etwas Individuelles ist. Anderen gefällt ein solcher Effekt.

Das bringt mich zum Determinismus. Ich neige hier oftmals (aus Zeitgründen) dazu, Sachverhalte sehr zu verknappen. ich meinte damit in etwa Folgendes. In Geschichten benehmen sich Figuren, als ob sie frei handeln könnten und ihr Handeln hat Konsequenzen. Auf das Handeln von Jorska kommt es aber in Deiner Geschichte nicht an. Er kann machen was er möchte, er wird sozusagen immer sterben. Du kannst jeden beliebigen Handlungsablauf für Jorska nehmen, das Ende wird immer gleich sein. In diesem Sinne liegt der Geschichte ein deterministisches Weltbild zugrunde - "der für dich vorbestimmte bösartige Twist tritt ein, egal was Du machst". Auch das mag ich bei Geschichten nicht (und auch nicht als Philosophie, weil man sich damit vor seiner eigenen Verantwortung drücken kann bzw. unmoralische Taten rechtfertigen kann).

Bei Deinem Weltbild

das entspricht auch ungefähr meiner Weltsicht, die - radikal verkürzt – in etwa so lautet:
Dinge geschehen.

musste ich unmittelbar an Forrest Gump denken: "Shit happens".

Mir hat das schon als Kind nicht als Erklärung gereicht - "das ist eben so, Dinge passieren eben, etc.". Wahrscheinlich mag ich deshalb diese Art von Effekthascherei nicht. Vielleicht erwarte ich einfach mehr als Erklärung im wahren Leben und auch in Geschichten als nur ein Schulterzucken und ein "shit happens".

Für meine Erwartungshaltung kann aber Deine Geschichte nichts.

Lieber Gruß

Geschichtenwerker

 

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