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Jumble Sale

Beitritt
28.11.2007
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Jumble Sale

Ich betrete den Raum, meine Füße gleiten fast unhörbar über die dunklen Dielen, die von der Sonne ganz verfärbt sind. Versucht, kein Geräusch zu verursachen, schleiche ich durch das Halbdunkel. Und doch bin ich in meinen Ohren so laut, dass ich mir auf die Lippen beiße. Eigentlich könnte ich über mich selbst lachen. Denn hier ist niemand, also kann mich auch niemand hören.

Was will ich eigentlich hier? Hier ist NICHTS.
Nichts außer Dunkelheit und meiner Angst, die verdammt nochmal gar nicht mehr da sein soll, sie soll endgültig verschwinden – wie er. Einfach weg, ein für allemal. Aber es ist wie nachts das Ticken der Uhr; im Grunde ganz leise und man bemerkt es kaum, sobald man aber darauf achtet und sich mehr und mehr daran stört, desto lauter wird es und will gar nicht mehr aufhören damit.

„Du hast es schließlich gewollt...“

Wie oft mag er das wohl gesagt haben, als wir zusammen hier oben waren? Wie oft lagen wir zusammen zwischen den staubigen Puppen und Teddybären, die anscheinend überall ihre Augen haben wollten, gehabt haben und immer noch haben wollen, nun aber enttäuscht werden müssen? Sie sind nicht echt – wie meine Angst. Nicht echt, nicht real. Wovor habe ich dann so verdammten Bammel? Davor, dass er wiederkommen würde? Dass er mich lockt, Dinge mit mir macht, von denen er lieber die Finger hätte gelassen?

Sonnenstrahlen blinzeln durch die sich lichtenden Wolken, irgendwo muss ein Regenbogen sein, denn die Straße glänzt noch vor Nässe. Doch als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nur die grässlich bunten Farben überall – einen leuchtend blauen Himmel, einen nahezu neongrünen Rasen, Blumen und Unkraut vermischt in den schillernsten Farben, die Sonne scheint mit den draußen spielenden Kindern um die Wette zu strahlen. Ich lasse meinen Blick auf meine Uhr sinken, die mir sagt, dass es schon wieder zu spät ist. Genau jetzt wird ein riesiger, roter Hummer um die Ecke gefahren kommen, mächtig und drohend für ein Mädchen von sieben Jahren wie mich. Kaum zu Ende gedacht und keine drei Schritte in Richtung Tür gelaufen, höre ich meinen Vater schon den Schlüssel im Schloss herumdrehen und ihn mit einem kranken Lächeln in seinem Gesicht die Tür öffnen.

Ich kann noch heute die Vorfreude in seinen Augen blitzen sehen.

„Aber Schatz, du hättest doch nicht extra hier unten auf mich warten müssen. Geh schon mal hoch, meine Kleine. Papi wäscht sich nur noch eben die Hände, ja?“
Ich renne die Treppe hinauf, versuche den Gedanken und meinem so genannten Erzeuger davon zulaufen – es funktioniert nicht.

War das das Schicksal, was jedem von uns zugeteilt ist? Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich jemals in meinem ganzen Leben, das nun auch schon ganze 19 Jahre ausfüllt, so sehr gesündigt haben soll, dass ich so etwas verdient gehabt hätte. Nicht im Entferntesten.

Oben angekommen setze ich mich in die am gemütlichsten aussehendste Ecke, wobei es eigentlich egal ist wie gemütlich sie aussieht, ich weiß schließlich was dort passieren wird, und warte. Die Tür, die ich behutsam geschlossen hatte, in der Hoffnung, sie würde sich wie durch Gotteshand nie wieder öffnen, schwingt sanft gegen die vergilbte, schallgedämpfte Wand. Er kommt immer näher, öffnet im Laufen seine Hose, löst seinen Gürtel, kniet sich vor mich. Am liebsten würde ich jetzt kotzen, doch das Einzige, was aus mir heraus kommt, sind die Tränen. Tränen, die kullern, während mein ganzer zittriger Körper zusammenzukrampfen beginnt und ich meine kleinen Hände unsanft in meine Oberschenkel kralle. Mein starrer Blick soll sich unterstehen ihm noch mehr über meinen Gefühlszustand zu verraten. Dann, vorsichtig, fast zärtlich, streicht er mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht und peinlich berührt schließe ich die Augen. Er kann meinen Körper haben, aber nicht mehr. Niemals.
„Hör auf zu weinen, du willst es schließlich auch“, schneidet seine freundlich verzerrte Stimme in die Stille.
Und schon fängt er wieder an, beginnt mit großen Schritten zum hundertsten Mal meine Welt zu zerschmettern, sie einfach in den Abgrund zu stoßen, ohne auch nur einen Funken lang darüber nachgedacht zu haben, was er da kaputtmacht.

Damals war es das letzte Mal für ihn gewesen, doch auch nach zehn Jahren kann man mehr als vier Jahre Gewaltherrschaft nicht ohne Weiteres vergessen. Es ist mehr als Hass, den ich seit dem ersten Mal für ihn empfinde, als er mich missbrauchte, obwohl schon das Wort „empfinden“ zu menschlich für ihn ist. Bei seiner Beerdigung haben sich alle die Augen aus dem Kopf geheult, ohne recht zu wissen, was für einen Dreckskerl sie da eigentlich beweinten. Ich habe auf sein Grab versucht einzutreten, es angeschrien, ja, sogar angespuckt habe ich es und die Leute wollten es einfach nicht begreifen. Ich stünde einfach unter dem Schock seines plötzlichen Todes, hatten sie gesagt. Aber hätte ich ihnen vielleicht doch ohne Wenn und Aber den Grund nennen sollen, aus dem er sich umgebracht hatte? Was hätten sie dann getan, die netten Leute, die doch immer für einen da sein wollten? Ich sehe außerdem auch bis heute keinen Sinn darin, von Menschen, die von NICHTS wissen, gezwungen zu werden auf eine Beerdigung von jemandem zu gehen, der ALLES zerstört hat. Und vor allem WEN.

Und trotzdem, trotz allem, wird er es nie mehr können. Noch dazu bin ich so kaputt, so irreparabel und nicht einmal der Gedanke an seinen doch so verdienten qualvollen Tod kann heute noch ein Lächeln auf meine ausdruckslosen Lippen zaubern – so kaputt hat er mich gemacht. Dennoch bin ich wieder hier, will im Grunde nur Kram für den Flohmarkt zusammensuchen. Reingehen – Holen – Raus gehen. Dieser Plan war von Anfang an sinnlos, ich hätte wissen müssen wie es endet.

„Die Sonne scheint heute aber besonders hell“, huscht dem kleinen Mädchen tonlos über die Lippen, als er mit ihr fertig ist und zieht die schmutzigen Gardinen vor.

 

Hallo DieTaschenVollWasser und zunächst willkommen auf kg.de. :)

Deine Kurzgeschichte hinterlässt bei mir einen bitteren Nachgeschmack. Über das ernste Thema wurde hier schon oft geschrieben, die Geschichte sticht sich also nicht sonderlich von den anderen hervor, dennoch finde ich sie nicht schlecht, eher wachrüttelnd. Vielleicht etwas zu vorhersehbar. Aber die Gedanken deiner Protagonistin konnte ich nachempfinden, ich konnte mit ihr fühlen. Gut gefällt mir der Schlusssatz. Man kann nur hoffen, von einem solchen Schicksal verschont zu bleiben und dass im Falle eines Falls die Schuldigen gefunden und verurteilt werden.

Sprachlich und orthografisch ist die Geschichte in Ordnung.

Eine Frage ist für mich noch offen: Der Titel. Da fehlt mir ein wenig der Zusammenhang zum Inhalt. Vielleicht kannst du mir auf die Sprünge helfen?

Viele Grüße,
Michael

 

Hallo und Dankeschön für die produktive Kritik!

Auf deine Frage mit dem Titel... Ich wusste ehrlich gesagt auch keinen passenden. Ich finde, die Auswahl eines Titels ist fast das schwerste an einer Geschichte. Jumble sale bedeutet so viel wie Flohmarkt und passt nur auf den vorletzten Absatz, ich wollte also mit dem Titel nur ein wenig Verwirrung schaffen, sodass man vielleicht neugierig wird.

VLG

 

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