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Kälte
Die Kälte
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Drh, ein gottgläubiger Mensch, wacht auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist sechs Uhr früh und es ist ungemütlich und er wohnt in einem großen Häusergebirge: New York.
Heute muss er nicht zur Arbeit. Er führt ein ruhiges, sicheres Leben. Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er über achtzig Jahre alt. Angehörige hat er keine. Es ist ein Tag wie er scheinbar auch gestern war.
Er geht zur Heizung, wenn es eine Heizung gibt in dem Zeitalter, in dem er sich befindet. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt.
Drh wundert sich und geht in die Küche. Kalt. Aber draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht das Fenster zu öffnen, aber es geht nicht auf. Nicht in diesem Zimmer, und auch nicht in einem anderen. Die Fenster sind wie festgeschweißt. Währenddessen wird es weiter kälter. Seine Finger werden steif. Er zieht sich warm an, geht zum Telefon und wählt eine Nummer. Irgend eine, denn er kennt niemand in dieser mit Lärm und Hundekacke verdreckten Millionenstadt. Es meldet sich auch niemand.
Dann geht er durch die offene Tür hinaus, und wundert sich, denn es ist viel zu still. Und zu kalt. Kein Auto fährt, und niemand sagt etwas zu ihm, weil niemand auf den Straßen ist. So ist Drh allein mit dem Beton, jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert. Er sieht auf seine Uhr: zehn nach sechs. Die Stadtuhr zeigt: Punkt sechs.
Sein Atem klirrt. Er läutet bei einem Nachbarn. Nichts. Die Stadtuhr steht wohl, auch um viertel nach sechs zeigt sie sechs Uhr an. Drh ruft jemand, doch niemand antwortet. Er bewegt sich, um Wärme zu erzeugen. Er ist angewiesen auf Wärme.
Er geht los um sechs Uhr zwanzig Uhr und erreicht den nächsten Stadtteil um sechs Uhr zweiundvierzig. Er sieht sich um, doch nichts bewegt sich, und es ist nichts zu hören. Und nichts heißt nicht wenig, oder fast nichts, sondern: nichts. Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei tiefgefrorene Stücke Eisbärenarsch.
Um sieben Uhr sieht er auf einer Parkbank Menschen sitzen. Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht. Ihre Armbanduhren stehen auf sechs Uhr. Für das Phänomen hat Drh keine Zeit. Niemand hilft ihm. Kein Fahrzeug bewegt sich - allerdings stehen einige auf den Straßen, einfach so. In den Fonds sitzen Tote.
Die Kälte wird so arg, er weiß nicht mehr, was er tun soll. Er geht in einen weiteren Park: kein Wind geht, die Bäume sind ruhig und schauen ihm zu (oder tun sie es nicht?). Seine Schritte werden kürzer. Er wird erfrieren. Gegen acht Uhr kapituliert er.
Plötzlich ist er wieder in der City. Ein Cop steht da, mit einer Miene, die besagt: "Tu es nicht!"
Fünf Meter vor ihm steht eine Frau, die einen Colt auf die eigene Schläfe richtet. Die Patrone, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp zwei Millimeter in die Haut gebohrt und ist da stecken geblieben.
Drh geht durch die Kälte zur Frau, zieht die Kugel heraus und lässt sie zu Boden fallen.
Er hat begonnen, zu erfrieren. Windet sich. Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Drh schlägt ihn weg und setzt sich, der Spatz liegt auf dem Boden. Wenn die Zeit ein Bewusstsein hätte, ist sein letzter Gedanke. Nach seinem Tod wird es tropisch heiß, und innerhalb von Monaten ist Drh verwest. Nach Jahren liegt der Spatz immer noch da, aber von Drh sind selbst die Knochen verschwunden.
Jetzt war ein Rauschen zu hören, die Luft war voller Geräusche, der Spatz flog auf, protestierte, wer hatte ihn von seinem Platz gefegt?
Ein Mieter des Hauses 345 blieb verschollen. Nichts erklärte sein Verschwinden, und doch blieb er verschwunden. War er abgereist? Dann hatte er jedenfalls nichts mitgenommen. Nach vier Tagen war er schon nicht mehr Gesprächsstoff Nummer eins.
Bei Colombines klingelte eines Morgens das Telefon, aber niemand war dran. Mrs. Whiteboe hörte jemanden ‘Hallo!’ rufen, wo garantiert niemand war. Und in den Schlagzeilen der lokalen Presse war von einem Wunder die Rede. Eine Selbstmörderin hatte versucht, sich durch einen Schuss in die Schläfe zu töten, aber die Kugel war von der Schläfe abgeprallt - und auf den Boden gefallen.