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Kälte

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26.08.2002
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Kälte

Die Kälte

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Drh, ein gottgläubiger Mensch, wacht auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist sechs Uhr früh und es ist ungemütlich und er wohnt in einem großen Häusergebirge: New York.
Heute muss er nicht zur Arbeit. Er führt ein ruhiges, sicheres Leben. Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er über achtzig Jahre alt. Angehörige hat er keine. Es ist ein Tag wie er scheinbar auch gestern war.

Er geht zur Heizung, wenn es eine Heizung gibt in dem Zeitalter, in dem er sich befindet. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt.
Drh wundert sich und geht in die Küche. Kalt. Aber draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht das Fenster zu öffnen, aber es geht nicht auf. Nicht in diesem Zimmer, und auch nicht in einem anderen. Die Fenster sind wie festgeschweißt. Währenddessen wird es weiter kälter. Seine Finger werden steif. Er zieht sich warm an, geht zum Telefon und wählt eine Nummer. Irgend eine, denn er kennt niemand in dieser mit Lärm und Hundekacke verdreckten Millionenstadt. Es meldet sich auch niemand.
Dann geht er durch die offene Tür hinaus, und wundert sich, denn es ist viel zu still. Und zu kalt. Kein Auto fährt, und niemand sagt etwas zu ihm, weil niemand auf den Straßen ist. So ist Drh allein mit dem Beton, jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert. Er sieht auf seine Uhr: zehn nach sechs. Die Stadtuhr zeigt: Punkt sechs.
Sein Atem klirrt. Er läutet bei einem Nachbarn. Nichts. Die Stadtuhr steht wohl, auch um viertel nach sechs zeigt sie sechs Uhr an. Drh ruft jemand, doch niemand antwortet. Er bewegt sich, um Wärme zu erzeugen. Er ist angewiesen auf Wärme.
Er geht los um sechs Uhr zwanzig Uhr und erreicht den nächsten Stadtteil um sechs Uhr zweiundvierzig. Er sieht sich um, doch nichts bewegt sich, und es ist nichts zu hören. Und nichts heißt nicht wenig, oder fast nichts, sondern: nichts. Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei tiefgefrorene Stücke Eisbärenarsch.

Um sieben Uhr sieht er auf einer Parkbank Menschen sitzen. Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht. Ihre Armbanduhren stehen auf sechs Uhr. Für das Phänomen hat Drh keine Zeit. Niemand hilft ihm. Kein Fahrzeug bewegt sich - allerdings stehen einige auf den Straßen, einfach so. In den Fonds sitzen Tote.
Die Kälte wird so arg, er weiß nicht mehr, was er tun soll. Er geht in einen weiteren Park: kein Wind geht, die Bäume sind ruhig und schauen ihm zu (oder tun sie es nicht?). Seine Schritte werden kürzer. Er wird erfrieren. Gegen acht Uhr kapituliert er.

Plötzlich ist er wieder in der City. Ein Cop steht da, mit einer Miene, die besagt: "Tu es nicht!"
Fünf Meter vor ihm steht eine Frau, die einen Colt auf die eigene Schläfe richtet. Die Patrone, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp zwei Millimeter in die Haut gebohrt und ist da stecken geblieben.
Drh geht durch die Kälte zur Frau, zieht die Kugel heraus und lässt sie zu Boden fallen.
Er hat begonnen, zu erfrieren. Windet sich. Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Drh schlägt ihn weg und setzt sich, der Spatz liegt auf dem Boden. Wenn die Zeit ein Bewusstsein hätte, ist sein letzter Gedanke. Nach seinem Tod wird es tropisch heiß, und innerhalb von Monaten ist Drh verwest. Nach Jahren liegt der Spatz immer noch da, aber von Drh sind selbst die Knochen verschwunden.

Jetzt war ein Rauschen zu hören, die Luft war voller Geräusche, der Spatz flog auf, protestierte, wer hatte ihn von seinem Platz gefegt?
Ein Mieter des Hauses 345 blieb verschollen. Nichts erklärte sein Verschwinden, und doch blieb er verschwunden. War er abgereist? Dann hatte er jedenfalls nichts mitgenommen. Nach vier Tagen war er schon nicht mehr Gesprächsstoff Nummer eins.
Bei Colombines klingelte eines Morgens das Telefon, aber niemand war dran. Mrs. Whiteboe hörte jemanden ‘Hallo!’ rufen, wo garantiert niemand war. Und in den Schlagzeilen der lokalen Presse war von einem Wunder die Rede. Eine Selbstmörderin hatte versucht, sich durch einen Schuss in die Schläfe zu töten, aber die Kugel war von der Schläfe abgeprallt - und auf den Boden gefallen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Flic, ich bin fast sprachlos( nur fast , ganz sprachlos werde ich wohl nie sein) denn diese Geschichte hat mir ohne jegliche Vorbehalte richtig gut gefallen.
Du beschreibst mit einem wunderbar sterilen aber dennoch auf eine ironische Weise lebendigen Stil die Annonymität des Einzelnen in der Masse. Die Tatsache , dass die Nachbarn Monate nach dem Vorfall anfangen sich Gedanken zu machen, und dann tratschen beschreibt unsere Klatsch und Tratsch aber nie Tatgesellschaft sehr treffend.
Glückwunsch, du hast es geschaft das Thema Surrealismus mit beißender Gesellschaftskritik zu verbinden, was doppelt gut ist, denn nichts anderes sollte der Surrealismus ja sein.

 

Die Geschichte ist richtig gut. Hat mir sehr gefallen. Ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn Drh am 11. September gestorben wäre...

Mario

 

hey flicflac,
gute, surreale geschichte für mein empfinden. schon die atmosphäre, die situation, die du schilderst wirkt trotz ihrer "normalität" surreal. eine momentaufnahme der gesellschaft, eingefroren.
wie max weigl frage ich mich: inwiefern ist es wichtig, dass drh ein christ ist? hat es eine bedeutung oder soll es eine verstärkung des surrealen effektes sein? gut finde ich max´s auslegung von drh "die rettende hand".

gruß bigmica

 

Hallo FlicFlac,

Drh, ein Christ, wacht auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist.

... fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.

Ich fand die Geschichte echt gut. Die Idee und die Umsetzung, dass jemand den Zweck hat eine Person zu retten ... und für diesen Zweck die Welt stillsteht.

Mir persönlich hätte es noch besser gefallen, wenn die Welt gar nichts von Drh mitbekommen hätte, sondern nur er selbst in der Position ist, sich zu wundern, das die Welt stillsteht. Finde ich wirkungsvoller.

Ansonsten - Kompliment, auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen, der Inhalt macht hier vieles wett.

Gruß,
Bella

 

<fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.>

Ich galube zu verstehen, was du meinst.


<auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen>

Welche fehlen dir am meisten?

Grüße, FlicFlac

 

Ich mag die Geschichte. Auch, wenn ich sie nicht dem Surrealismus, sondern eher der Fiction zuordnen würde - aber ich bin mir nicht sicher, ob man sowas überhaupt fein trennen kann.
So eine aehnliche Story hab ich schonmal in Outer-Limits gesehen. *Fan-sei* :o)

Gruesse
dko

 

"Sind Sie bereit? Bereit für das Unbekannte? Für eine neue Erfahrung, die..."

S.g. FlicFlac

Deine Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Die Idee allein ist grandios, und auch wenn diese ursprünglich von OuterLimits motiviert wurde, fand ich die Umsetzung gut.

Doch kann ich leider gar kein surreales Element sehen. Auch wenn viele hier meinen, sie sei surreal, so finde ich, dass sie eher in die Rubrik "Seltsames" bzw. "Gesellschaft" passen würde. Den Surrealismus vermisse ich hier eindeutig.
Bin aber lehrwillig und sollte einer, der obrigen Kritiker einen kurzen Augenblick Zeit haben, so kann er mir gerne erklären, was genau surreal ist.

Liebe Grüße aus Wien, P.H.

 

Hallo!

:waaas:
Nachdem jetzt zweimal von OuterLimits die Rede war, frage ich mich nach dem Grad der Ähnlichkeit. Kann mir jemand die Geschichte kurz abreissen?

Wenigstens bewusst kenne die Folge nicht - obwohl ichs damals gesehen habe (vielleicht habe ich also unbewusst plagiiert). Bin neugierig!

Flic

 

Hallo FlicFlac!

Sehr gut gefällt mir Deine Geschichte - die hat was! :thumbsup:
Einerseits scheint alles klar beschrieben und ergibt eine Handlung, andererseits läßt sie sich sehr gut surreal interpretieren.
Die Version mit dem Schutzengel sehe ich dabei als die realere. So, wie Marot sie interpretiert hat, ist es auch meine surreale Version, sie zu lesen. Und da läßt sich noch so manches andere auch herauslesen.

Ein paar Anmerkungen habe ich noch:

"Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert." - Ich sehe hier keinen Widerspruch, der ein "doch" begründen würde - es klingt wie "Es ist kalt, doch Drh friert"...

"Er sieht auf seine Uhr: zehn nach sechs. Doch die Stadtuhr zeigt: Punkt sechs." - Auch hier würde ich das "Doch" weglassen. Der Widerspruch offenbart sich dem Leser auch so, aber vor allem kommt es wenige Zeilen danach noch einmal vor.

"6.00 Uhr" - bitte die Uhrzeiten ausschreiben, "sechs Uhr" oder auch "sechs Uhr zwanzig" usw. ist bestimmt nicht zu lang. ;)

"kein Wind geht" - weht wäre schöner...

Alles liebe
Susi :)

 

Hi FlicFlac,

da singe ich gern mit, bei den Lobeshymnen.
Im Verständnis der Geschichte schließe ich mich jedoch nicht vollständig den anderen an. Die beiläufig klingende Erwähnung des Christseins deines Protagonisten gibt in meinen Augen einen ganz wichtigen Ansatz zu einer ganz anderen Interpretation. Der Christ selbst erstarrt nicht in der allgemeinen Kälte zwischenmenschlicher Beziehungen. Niemand redet mit ihm, obwohl er hilfebedürftig ist; trotzdem hilft er, der Christ, der Selbstmörderin. Bezieht klar Stellung gegen Selbstmord. Das Sterben des Protagonisten deutet auf die aussichtslose(?) Perspektive warmer zwischenmenschlicher Beziehungen in der heutigen Zeit, ist gleichzietig negative Erkenntnis des Autors.
Vielleicht liege ich ja völlig daneben, aber nur so macht für mich der "Christ" einen Sinn.

Im Gegensatz zu Peter Hrubi (Freud läßt grüßen: "Bin aber lehrwillig..." statt lernwillig :D ) sehe ich die gesamt Geschichte als surreal, empfinde die skurrile Situation sehr traumähnlich.

Gut geschrieben!
Gruß vom querkopp

 
Zuletzt bearbeitet:

@Susi - Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert. Dein Einwand ist mir verständlich und ich habe damals darüber nachgedacht (ob ich das ändere), dann aber: das Zusammenzeihen der Haut hat das Ziel, die Wärme gleichsam monadisch im Körper zu halten.

Deshalb ließ ich das. Ohne Selbst-Transzendenz, ohne das Darüber-hinaus bleibt die Kälte, jeder Versuch scheitert.

Die weiteren Einwände sind Fingerfehler meinerseits und ich werde sie verwenden, danke!

@querkopp

Danke für deine Kritik! Vor allem fiel mir auf, dass 'ein Christ' zu spezifisch war; ich habe 'ein gottgläubiger Mensch' daraus gemacht.

Flic

 

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