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Keine böse Absicht
Martin lehnte lässig an der gelbfleckigen Wand des zugigen Flures, als Silvia aus dem Studierzimmer trat.
"Hallo!", flüsterte sie, lächelte ihn kurz an und streifte den Ärmel seines Sweatshirts. Es sollte wie ein Zufall aussehen.
"Hallo, meine Süße!", Martin strich ihr über die rechte Pobacke. Ein seliger Schauer lief ihr heiß den Rücken hinunter.
"Lass das!", zischte sie.
"Wieso? Sieht doch keiner!", erwiderte er und grinste. Jede Gelegenheit nutzte er aus, um Regeln so weit zu dehnen, dass sie seinen Bedürfnissen entsprachen. Dafür beneidete sie ihn oft. Sogar hier konnte kaum jemand seinem Charme widerstehen. Sie selbst natürlich am allerwenigsten.
"Hast du die Heizung jetzt endgültig repariert?", fragte sie, während sie die Treppe hinunter gingen.
"Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht frieren musst, mein Schatz."
"Schade, dass du wegen des maroden Dings dauernd aus deinen Studien rausgerissen wirst."
"Och, die Arbeit macht mir eigentlich mehr Spaß."
Silvia seufzte. Sie waren inzwischen im Erdgeschoss angekommen und packten sich in warme Winterjacken, Mützen und Handschuhe ein.
"Aber Martin, wann wirst du endlich verstehen, dass es hier nicht darum geht Spaß zu haben! Ich habe gerade gelernt, dass Regeln nicht dazu da sind, um Leute zu bestrafen, sondern damit man entspannter zusammen leben kann. Nur dann geht es allen Menschen insgesamt besser."
"Klar doch, und deshalb darf ich dich in der Öffentlichkeit nicht küssen, ja?"
Sie stapften an den schäbigen Unterkünften vorbei durch den knöcheltiefen Schnee.
"Der Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit kann bei alleinstehenden Personen negative Gefühle wie Neid hervorrufen. Das schadet der Gemeinschaft und dadurch wieder dir selbst."
Wie immer, wenn sie ihm ein Stück dieser für sie so einleuchtenden Ethik erklärte, verdrehte er nur die Augen.
"Ach Martin, gib doch zu: Wie oft haben dir knutschende Paare die Laune verdorben, wenn du selbst gerade auf dem Trockenen gesessen hast?"
"Ich sitze doch seit einer Woche auf dem Trocknen! Na ja, morgen werden wir endlich zum Standesamt gehen und danach bekommen wir von diesen Moralaposteln endlich ein gemeinsames Zimmer!"
Er warf ihr einen sehnsuchtsvollen Blick zu.
"Oh Mann, wie ich mich darauf freue, endlich aus diesem vollgestopften Achtbettzimmer mit diesen mürrischen Weibern raus zu kommen!"
"Ach, wenn es dir hier nicht gefällt, dann lass uns doch verschwinden!"
Silvia holte tief Luft. Sie spürte, wie ein paar Eiskristalle in ihrer Lunge brannten.
"Es wird alles besser, wenn wir die Grundausbildung geschafft haben. Und wie oft soll ich dir noch erklären, dass es das wert ist! Das Rhetoriktraining ist spitze und –"
"Ich weiß! Damit du dich endlich gegen deinen übermächtigen Alten durchsetzen kannst! Na ja, ein FDP-Politiker als Vater ist wirklich heftig!"
"Fang bloß nicht wieder damit an! Ich will mit meinem Vater nie wieder etwas zu tun haben!"
Wütend funkelte sie ihn an.
"Entschuldige bitte. Also, solange du hier bleiben willst, mache ich auch bei Scientology weiter."
Er griff nach ihrer Hand.
"Ist schon gut." Sie schüttelte ihn ab.
Offenbar war er doch nur ihretwegen hier. Hatte er gar keinen eigenen Willen? Sah er denn immer noch nicht ein, dass ihnen hier die optimalen Methoden geboten wurden, um gleichzeitig sich selbst und unserer desolaten Welt zu helfen? Vor zehn Tagen hatte sie ihn angerufen und ihn gefragt, ob er nicht auch in das europäische Ausbildungslager von Scientology kommen wolle - und ob er sie heiraten wolle. Er hatte zweimal Ja gesagt und sie wäre vor Freude fast geplatzt. Es hatte sie völlig fertig gemacht, monatelang zwischen Martin und ihrem Vater zu stehen. Dieser hatte getobt, als er hörte, dass seine einzige Tochter sich heimlich mit einem einfachen Klempner traf. Angeblich wollte er nur das Beste für sie. In Wirklichkeit suchte er einen Schwiegersohn, der den alteingesessenen Familienbetrieb endlich übernehmen konnte, damit er sich voll auf seine politische Karriere konzentrieren konnte. Zeit hatte er noch nie für sie gehabt. Endlich war sie volljährig und durch eine Freundin hierher gekommen. Bernd Grotel, der eigentlich nur für die Gebäudeverwaltung verantwortlich war, hörte ihr stundenlang zu. Dabei ging er nicht auf ihr Gejammer ein, sondern stellte Fragen wie etwa: "Hast du schon einmal zwischen zwei Menschen gestanden?" Natürlich, das war's! Als Zwölfjährige hatten ihre Eltern sich scheiden lassen. "Was genau wäre damals das Beste für dich und andere gewesen? Was genau möchtest du jetzt?" Nach drei Tagen war nicht nur ihr Scheidungstrauma überwunden, für kurze Zeit wusste sie auch, was sie wirklich wollte: Scientology und Martin. Und jetzt hatte sie beides – und war immer noch voller Zweifel. Sollte sie zu so einem Softie morgen Ja sagen? Klar, er konnte ihr einen Orgasmus bescheren, Wahnsinn! Aber sollten sie ausgerechnet deswegen zu Spießern werden? Wo sie endlich von zu Hause weg war! Außerdem war er mit seinen Pockennarben und den mageren Wangenknochen wirklich keine Schönheit. Nun ja, ihre widerspenstigen Locken und ihr dicker Hintern prädestinierten sie auch nicht gerade für eine Modezeitschrift. Und dann war da noch eine leise Stimme, die fragte, ob er mit seiner Kritik an Scientology nicht doch ein wenig Recht hatte. Der Kopf schwirrte ihr vor lauter Fragen.
Inzwischen waren sie vor dem Essraum angekommen. Francesco, ein kleiner, italienischer Küchenhelfer, schleppte einen riesigen, dampfenden Kochtopf aus der Küche. Er tat mal wieder so, als wäre er der oberste Küchenchef:
"He Silvia, beeil dich!", rief er. "Du bist mit Service dran!"
"Ja doch!", sagte sie und schälte sich aus ihrer dicken Kleidung.
"Stell dir gleich einen Teller zurück", schlug Martin vor. "Nicht, dass am Schluss wieder alles weg ist!"
"Gute Idee, tschüß!" Sie eilte zur Theke.
"Mach's gut!" Martin schaute ihr besorgt hinterher.
Inzwischen kamen die etwa dreißig Scientology-Lehrlinge aller Altersgruppen herein und drängelten auf die klapprigen Sitzbänke zu. Silvia schaufelte sich schnell ein paar Kartoffeln und hartgekochte Eier mit einer wässrigen, grünlichen Soße auf einen Teller und brachte ihn hinter die Theke auf einem Stuhl in Sicherheit.
'Das ist ja mal wieder ein großartiges Essen!', dachte sie. 'Müssen wir unseren Körper dermaßen kasteien, um unsere Seele und die Welt zu retten?'
In den nächsten fünf Minuten hatte sie glücklicherweise keine Zeit mehr irgendetwas zu denken. Zusammen mit zwei anderen Kollegen quetschte sie sich durch die engen, vom Schneematsch glitschigen Gänge und verteilte Essen und Getränke auf den einfachen Holztischen. Das Geklapper des Geschirrs hallte durch den niedrigen Raum und mischte sich mit etwa fünf verschiedenen Sprachen der Teilnehmer aus ganz Europa. Die Essensdüfte erinnerten Silvia schmerzlich an ihren knurrenden Magen.
Endlich waren sie fertig. Francesco trug die leeren Töpfe wieder zurück. Es blieben ihr noch zehn Minuten für ihre eigene Mahlzeit. Danach war der tägliche Gruppenbericht dran, in dem jeder von seinen derzeitigen Fortschritte berichten musste. Und bis in den Abend hinein putzten sie dann alle das Hotel, in dem gut verdienende Scientologen wohnten, während sie an den sündhaft teuren, fortgeschrittenen Kursen teilnahmen. Silvia war jetzt schon müde, mehr als sechs Stunden Schlafen waren kaum drin. Sie ging zu dem Stuhl, auf dem sie vorhin ihr Essen in Sicherheit gebracht hatte. Aber da saß jetzt Pedro, ein großer, schlaksiger Spanier. Und aß in aller Ruhe. Ein weiterer, gefüllter Teller war nirgends zu sehen. Also musste dieser Dreckskerl ihr Essen geklaut haben. Dann ging alles blitzschnell. Sie stürzte sich auf ihn und schrie auf englisch:
"Das ist mein Teller, ich habe ihn mir vorhin hier hingestellt. Her damit!"
Pedro riss seine Glupschaugen auf und stammelte in gebrochenem Englisch:
"Nein, das mein Teller!"
Sie versuchte dem unverschämten Lügner den Teller aus der Hand zu reißen. Der stand er auf, drehte sich zur Seite zu und wehrte Silvia mit einer Hand ab. Plötzlich tauchte Martin auf, verpasste ihm einen Kinnhaken und schrie:
"Wie kannst du es wagen, meine Freundin zu schlagen!"
Pedro stolperte rückwärts, kam auf dem matschigen Boden ins Rutschen, versuchte mit den Armen das Gleichgewicht zu halten, wäre fast gegen die Wand geknallt, fing sich aber noch gerade so eben. Der heiß umkämpfte Teller flog quer durch den Essraum, die grüne Soße spritzte auf mehrere Pullover und Hosen. Ein ohrenbetäubendes Gekreische hob an, alle sprangen auf, Bänke kippten um. Silvia hielt Martin mit aller Kraft fest und rief:
"Halt Martin. Er hat mich nicht geschlagen. Er hat nur meinen Teller geklaut und den wollte ich wiederhaben."
Martin starrte sie kurz an, dann ließ er seine Arme sinken.
"Ich wusste ja, wie Hunger auf dich wirkte. Aber dass es so schlimm werden könnte - !"
Silvia wäre am liebsten im Boden versunken. Wie hatte sie sich dazu hinreißen lassen können? Und der sonst immer so sanfte Martin entpuppte sich plötzlich als Schläger! Der arme, mit Soße bekleckerte Spanier hielt eine Hand auf sein Kinn und starrte beide sprachlos an. Offenbar verstand er überhaupt nicht, was passiert war.
Da übertönte eine kräftige Stimme das gesamte Chaos:
"Was ist denn hier los?"
Bernd Grotel stand in der Tür, die Arme in die Seiten gestützt. Trotz seiner schmächtigen Gestalt waren alle sofort mucksmäuschenstill. Mit Sicherheit konnte jeder Francesco viel zu gut hören, wie er eifrig Bericht erstattete:
"Silvia wollte Pedro seinen Teller wegnehmen, der hat sich gewehrt und Martin hat ihn zusammengeschlagen."
War es möglich noch weiter in den Erdboden zu sinken? Silvia schoss ihr gesamtes Blut in den Kopf.
"Ihr drei kommt sofort mit in mein Büro!"
'Oje, welche Strafe kommt jetzt auf uns zu?', dachte Silvia auf dem Weg zum Verhör. Sie hatte einmal einen flüchtigen Blick in die Unterkünfte der sogenannten Rehabilitierungsmaßnamen geworfen. Gegen die fensterlosen, muffigen Kellerräumen war ihr Achtbettzimmer geradezu ein Paradies. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Was würde jetzt geschehen?
Bernd setzte sich auf seinen quietschenden Drehstuhl und legte die gefalteten Hände auf den alten Schreibtisch. Auch in diesem engen Raum blätterte die Farbe von den Wänden und es roch muffelig.
"Jetzt erzählt erst einmal der Reihe nach, was eigentlich passiert ist", forderte er sie in ruhigem Ton auf englisch auf.
Martin trat sofort einen Schritt vorwärts und streckte seinen langen Körper.
"Also, Silvia hatte gerade Service. Und beim letzten Mal ist auch schon fast nichts mehr für sie selbst übrig geblieben."
Er trat von einem Bein auf das andere, redete dann aber immer schneller und lauter.
"Es ist ja auch eine Unverschämtheit, dass wir noch nicht einmal genug zu essen bekommen! Und der Quatsch mit dem Service, innerhalb von einer viertel Stunde –"
"Bitte bleib beim Thema, Martin!", unterbracht Bernd ihn mit unbewegtem Gesicht. Er erinnerte Silvia an irgendeinen Kommissar im Fernsehen, der die Verdächtigen in aller Ruhe sich selbst in Widersprüche verwickeln lässt, um sie später ins Gefängnis zu werfen. Wie konnte es Martin nur wagen, solche Vorwürfe offen aus zu sprechen! Zumal er sich gerade so daneben benommen hatte! Er macht doch alles noch schlimmer! Aber sie sah keine Möglichkeit, ihn zu stoppen. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt und beobachtete das unglaubliche Spektakel aus den Augenwinkeln heraus. Hunger hatte sie überhaupt nicht mehr. Pedro stand mit seinem geschwollenen Kinn am anderen Ende des Schreibtisches und starrte abwechselnd auf Bernd und Martin. Martin räusperte sich.
"Äh - na gut. Also Silvia hat sich heute gleich zu Anfang etwas zurück gestellt. Und hinterher war ihr Teller weg und sie dachte, Pedro hätte ihn weg genommen. Und wenn sie richtigen Hunger hat, wird sie unaus- , äh, nun ja, gereizt, sagen wir mal."
Wie konnte er diese persönlichen Peinlichkeiten nur Preis geben! Oh Gott, wann war es endlich vorbei?
"Sie wollte ihren Teller wieder haben, Pedro hat sich nur gewehrt. Das habe ich leider nicht mitbekommen. Für mich sah es so aus, als ob er sie schlägt. Also, ich denke mal, ich bin im Grunde ein sehr friedlicher Mensch. Aber wenn jemand meine Frau angreift – also, dann –"
Bernd schnitt ihm erneut mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. Silvia hielt die Luft an. 'Jetzt kommt's!', dachte sie.
"Schon gut, Martin. Ich weiß ja, dass du normalerweise keiner Fliege etwas zu Leide tun kannst. Wenn jemand meine Frau angegriffen hätte, würde ich wahrscheinlich genauso reagieren. Das ist wirklich eine Ausnahmesituation und ich hoffe, dass es nie mehr vorkommt."
'Wie bitte, was hat er da gesagt?', Silvia hob ruckartig den Kopf. Martin strahlte zufrieden und seine Schultern entspannten sich wieder. Groß und stark war er ja, also doch kein reiner Softie? Vielleicht könnte sie doch ein wenig stolz auf ihn sein. Und war es nicht ein tolles Gefühl, beschützt zu werden?
"Ich muss dich allerdings darauf hinweisen, Martin, dass Ihr hier ganz am Anfang Eurer Ausbildung steht! Der Zeitplan ist so eng, damit Ihr lernt, effektiver zu werden. Unser Weg ist nicht der bequemste, aber er ist einfach der beste! Mensch, Ihr könnt hier so fantastische Fähigkeiten erwerben, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Und wenn Ihr Euch bewährt habt, wird alles einfacher."
Er seufzte und warf dann einen kurzen Blick auf den verdatterten Spanier.
"Pedro ist wohl das Opfer einer Verwechselung geworden. Geh in die Krankenstation und lass dir eine Salbe auf dein dickes Kinn schmieren!"
Das ließ Pedro sich nicht zweimal sagen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, beugte sich Bernd nach vorne und fuhr auf Deutsch fort:
"Aber jetzt muss ich mit dir ein Hühnchen rupfen, Silvia!"
Ihre Knie fühlten sich an wie Pudding, aber sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und kam seinen strafenden Worten zuvor:
"Ja natürlich, ich hätte nicht so emotional reagieren dürfen, ich weiß auch nicht -"
"Das meine ich überhaupt nicht. Warum hast du letztens nicht schon in der Küche Bescheid gesagt, dass sie nicht genug gekocht haben? Du hättest doch was bekommen! Ihr sollt hier schließlich nicht hungern! Wo sind wir denn?"
"Ich hatte es damals Francesco gesagt, aber der meinte, wir sollen sofort zum Gruppenbericht kommen."
"Ach, an einen Küchenhelfer wendest du dich, statt zu mir zu kommen, welch ein Vertrauen!", Bernd raufte sich seine spärlichen Haare, erhob sich aus seinem Sessel und lief wie ein Tiger im Käfig hin und her.
"Und kennst du überhaupt Francesco? Du hättest ihn mal vor drei Monaten sehen sollen! Er kam mit einer dunklen Sonnenbrille hier an, im Herbst! Irgendjemand hat ihn in der Gosse aufgegabelt, hing total an der Nadel. In unserem sogenannten Sozialstaat wäre er fast verreckt, im Knast gelandet oder irgendwann auf dem Bahnhofsklo gefunden worden! Da kümmert sich doch kein Arsch um so jemanden! Wir haben ihn hier so weit aufgepäppelt, dass er wieder lebensfähig ist und für kleine Aufgaben Verantwortung übernehmen kann, Kochtöpfe rumschleppen und so. Wir haben Methoden, um solche arme Schweine zu resozialisieren, statt sie auszugrenzen. Aber von dir Silvia –", er blieb genau vor ihr stehen und wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger herum. Silvia stand wie angewurzelt da.
"- von dir hätte ich ein bisschen mehr Intelligenz und Eigeninitiative erwartet. Vor allem habe ich dir schon tausendmal gesagt, du sollst nicht auf das hören, was andere dir erzählen, sondern lesen, was L. Ron Hubbard geschrieben hat. Das ist Scientology. Verwechsle nicht das Verhalten eines kleinen Mitglieds mit den genialen Ideen unseres Gründers!"
Er setzte sich wieder in seinen Sessel und ließ die Hände in seinen Schoß sinken.
"Aber wem erzähle ich das alles? Hört mir überhaupt jemand zu?"
Seine Stimme wurde wieder leiser und leicht brüchig.
"Die Welt wird nur dann besser, wenn jeder Einzelne an sich arbeitet, die eigenen Probleme überwindet und vernünftig handelt. Regeln sind dazu da den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt, verdammt noch mal! Also, Silvia, wenn du weißt, dass du im hungrigen Zustand eine Gefahr für deine Mitmenschen bist, dann sorge in Zukunft gefälligst dafür, dass du immer genug zu essen bekommst! Übernimm wenigstens für dein Leben die Verantwortung! Wir wollen die Welt verbessern, da kann man doch nicht aufeinander los gehen! So, verschwindet jetzt und nehmt Euch den Nachmittag frei um wieder zur Besinnung zu kommen."
"Vielen Dank, Bernd", sagte Martin. "Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen wie dich!"
Silvia wankte wie im Halbschlaf zur Tür. Ausgerechnet ein Scientologe riet ihr eindringlich, auf ihr eigenes Gefühl zu hören und auch mal zu widersprechen! Gab es denn keine Regel, an der man sich klar orientieren konnte?
"Arbeite an dir und hilf deinen Mitmenschen, dann geht dein Wunsch in Erfüllung", hörte sie Bernd noch sagen.
Nach ein paar Metern hatte sich ihr Atem und ihr Herz etwas beruhigt und sie konnte wieder halbwegs normal denken.
"Siehst du, Scientology ist doch besser, als du dachtest, nicht wahr?", fragte sie mit zitternder Stimme.
"Also, Bernd ist schon ein prima Kerl, aber alle anderen hier sind doch Fanatiker, die sich in blindem Gehorsam für ein paar großartige Versprechungen ausnutzen lassen! Für Junkies scheinen die strengen Regeln hier notwendig zu sein. Nur wenn ich mir den maroden Laden hier anschaue, frage ich mich, wo denn die Wunderkräfte sind, von denen immer wieder geredet wird! Danach müsste das hier doch ein blühender Garten Eden sein!"
Er war stehen geblieben, nahm ihre Hände in die seinen und schaute ihr in die Augen.
"Und außerdem ist mir gerade klar geworden, dass das für dich hier überhaupt nichts ist. Du nimmst den Quatsch hier viel zu ernst."
Bei seinem unwiderstehlichen Lächeln wurde ihr wieder ganz weich in den Knien. Diesmal allerdings aus einem anderen Grund.
"Morgen haben wir ja schon was vor, aber übermorgen fahren wir nach Hause. Und wenn ich dich auf meinen Schultern schleppen muss! Und kein Wort zu irgendjemandem, sonst belabern sie dich wieder mit ihrer geschickten Rhetorik! So leicht lassen sie keinen weg. Wir stehen einfach um fünf auf und marschieren Richtung Bahnhof. Ist das klar?"
'Was für ein Mann!', dachte sie und brachte nur noch ein Wort heraus:
"JA!"
Die Geschichte ist mir vor Jahren sehr glaubhaft so geschildert worden, ich habe lediglich mehrere Ereignisse auf KG-Länge zusammen gerafft – und natürlich die Namen geändert. Die beiden sind trotz Telefonterror heil raus gekommen, haben sich mit den Eltern versöhnt – und sind trotz einiger Beziehungskrisen angeblich immer noch glücklich verheiratet!
Folgende Wörter sollten in der Geschichte vorkommen: Luft, Orgasmus, FDP, Scientology, Kommissar