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Keine Neonlichter mehr, keine Zuckerwatte.
Maria sitzt am Fenster ihres Zimmers und raucht. Ihre Mutter hat immer irgendwo eine angebrochene Packung herumliegen. Natürlich wird sie merken, dass welche fehlen, aber das ist Maria egal. Sie ascht aus dem Fenster, sieht der Asche hinterher, die vom Wind davongetragen wird und sich irgendwo auf dem Weg nach unten verliert. Auf der Straße geht ein Mann mit seinem Hund spazieren. Die beiden bewegen sich langsam den Weg zwischen den Laternen entlang. Zwei Roller fahren vorbei und das Geräusch der Motoren dröhnt zwischen den Wohnblocks zu ihr herauf. Sie fahren zu schnell und rufen sich etwas zu. Der Mann bleibt stehen. Er sieht den beiden hinterher. Nach einem kurzen Moment geht er weiter. Seinen Hund muss er mitziehen und Maria fragt sich, ob der ihn dafür hasst, dass er ihn an einer Leine herumzerrt - oder ob es ihm egal ist.
Der Mann wohnt im selben Haus wie sie. Wenn sie ihm begegnet, auf der Treppe oder unten bei den Mülltonnen, sieht er sie mit an, als wolle er ihr gleich eine scheuern. Als wolle er allen hier, den Leuten im Haus, den Bulgaren an der Ecke, den Rollerfahrern am liebsten eine drücken. Er murmelt irgendein Zeug vor sich hin, wenn man an ihm vorbeigeht und er versucht, einschüchternd zu gucken, aber wirklich was gemacht, hat er noch nie und die Jungs aus dem Haus machen sich über ihn lustig, wenn sie ihn sehen. Maria nimmt einen letzten Zug, zieht, bis es ihr an den Fingern brennt, dann schnippt sie die Zigarette aus dem Fenster nach unten. Wenn der Hund den Filter frisst, stirbt er vielleicht daran, überlegt sie und macht das Fenster zu.
Sie kommt, da ist die dritte Stunde beinahe vorbei. Der Lehrer trägt sie in das Klassenbuch ein und Maria setzt sich auf ihren Platz. Es ist laut in der Klasse und der Lehrer legt ihr ein Arbeitsblatt hin. Er lächelt, aber Maria verzieht keine Miene. Sie nimmt einen Stift und fängt an, die Ecken des Blatts anzumalen. Leonardo geht an ihrem Tisch vorbei.
„Heute schon Loch gegeben?“, sagt er im Vorbeigehen.
„Halts Maul, du Bastardjunge, was willst du?“, ruft sie und springt auf. Leonardo bleibt stehen. Er streckt seine Zunge zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch und macht leckende Bewegungen damit.
„Du Ekliger!“, sagt Maria und jetzt fängt der Lehrer an zu schreien. „Leonardo, setz dich hin!“, ruft er. „Du auch Maria! Und der Rest ist still!“ Aber niemand ist still. Die Klasse johlt und schreit auch noch, als es schon zur Pause geklingelt hat.
Karo steht vor ihr. So nahe, dass Maria die vielen Mitesser auf ihrer Nase erkennen kann.
„„Was unterstellst du für Scheiße, hm?“, sagt sie und kommt noch ein wenig näher. Sie trägt ein bauchfreies Top. Wenn sie spricht, sieht man die Brackets ihrer Zahnspange und sie ist groß. Maria versucht den Kopf so zu halten, dass sie nicht zu ihr aufschauen muss. Sie riecht Parfum und Schweiß.
„Heulst rum, dass ich irgendwas rumerzählen würd über dich. Du bist mir völlig egal, Hässliche. Außerdem weiß doch sowieso jeder, dass du Tom einen gelutscht hast.“
Karo gibt ihr einen Stoß.
„Fass mich nicht an, man!“, schreit Maria. Sie versucht sich gerade zu machen, so breit dazustehen, wie sie kann. Aber ihre Lippe bebt und die Hände, die sie zu Fäusten geballt hat, zittern. Sie kann nichts dagegen tun. Karo grinst.
„Sonst was, hm? Denkst, du bist krass?“
Sie gibt Maria noch einen Stoß, stärker dieses Mal und Maria geht einen Schritt zurück. Die Leute um sie herum, vielleicht sind es zehn, vielleicht mehr, lachen. Ein paar johlen und klatschen in die Hände.
„Oder machst einen auf Opfer und heulst wieder rum?“, sagt Karo. Sie wird lauter. Schreit die letzten Worte und Maria, die versucht hat, ihrem Blick standzuhalten, kann nicht anders und schaut zur Seite.
Wegen der Herbstmesse ist es im Zug voller als sonst. Maria sieht aus dem Fenster. Mit den Fingern knibbelt sie an den Nägeln herum und zieht dünne Hautfäden so weit ab, dass es beginnt zu bluten. Als sie aufschaut, sieht sie eine ältere Frau, die ihr freundlich zulächelt. Maria weiß nicht, was die von ihr will. Schnell schaut sie weg, steht auf, setzt sich woanders hin, sieht aus dem Fenster und stellt sich vor, sie wäre alleine.
Die roten, blauen, grünen und gelben Neonlichter der Fahrgeschäfte vermischen sich im Nieselregen zu einem bunten Schleier. Sie ist mit ihrer Cousine unterwegs. Natalia ist älter, schon vierzehn. Sie hat Kaugummi im Mund und wenn sie lacht, lacht auch Maria. Die Männer sehen ihr hinterher, die Schminke macht sie erwachsen und sie nimmt zwei Zigaretten gleichzeitig zwischen die roten Lippen, zündet sie an und gibt Maria eine davon. Der Filter schmeckt nach Erdbeerkaugummi, findet Maria und neben Natalia ist sie doppelt so groß.
„Du musst diese Piç ficken“, sagt sie, als Maria von Karo erzählt. „Musst sie richtig fertigmachen, sonst lässt die dich nicht!“
Zusammen laufen sie über die Messe, paffen ihre Zigaretten, machen Duckface-Selfies vor dem Riesenrad und Tiktoks vor dem Breakdance und wenn irgendein Typ zu lange glotzt und sie mit Chayas anspricht, zwinkert Natalia ihm zu und fragt, ob er denn ein echter Talahon ist. Dann lachen sie, machen Kussmund und gehen händchenhaltend weiter. Maria mag die laute Musik, die Geräusche der Fahrgeschäfte und das Kreischen derjenigen, die darin sitzen. Sie mag die verzerrten Ansagen aus den Kabinen, in denen man Plastikchips kaufen kann, den Geruch nach gebrannten Mandeln, nach Zuckerwatte und nach künstlichem Rauch, der ja gar kein Rauch ist, sondern nur Wasserdampf und vor allem mag sie Natalia. Sie denkt, dass solche Momente wie heute Abend am besten niemals enden sollten. Und ein klein wenig hofft sie, dass sie Karo heute noch treffen.
Keine Neonlichter mehr, keine Zuckerwatte. Natalia antwortet nicht, als Maria ihr schreibt, dass sie den Abend hammer fand. Alle zwei Minuten aktualisiert sie den Chatverlauf und je näher der Montag rückt, desto mehr zieht es ihr alles zusammen.
Am Nachmittag muss die Mutter zur Schicht und der Vater ist bis nächsten Freitagabend auf Montage. Maria geht in die Küche und gießt sich ein Glas Wasser ein. Im Bad nimmt sie den dunkelroten Lippenstift ihrer Mutter von der Ablage. Sie schminkt sich die Lippen und posiert vor dem Spiegel. Wenn sie den Mund spitzt, sieht sie ein klein wenig aus wie Natalia, findet sie. Sie drückt die Brust heraus und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Nach ein paar Minuten wischt sie die Schminke wieder ab. Einen Moment steht sie vor dem Spiegel und denkt nach. Dann geht sie ins Wohnzimmer zu der hellblauen Kommode herüber, die an der Wand steht. Schwarze Rahmen aus Plastik sind darauf. Maria ist auf einem Bild und sieht in die Kamera. Ihre Mutter sagt, dass sie viel zu dünn aussieht. Auf einem anderen Foto ist der Vater, wie er im Unterhemd in der Küche steht. Man erkennt seine starken Arme, sieht, wie er grinst, obwohl er selten grinst, weil er nach der Arbeit zu müde dazu ist.
Maria öffnet die oberste Schublade. Briefe und Papier liegen darin. Ein Feuerzeug, ein Kartenspiel von der Sparkasse. Sie schiebt das Zeug zur Seite. Darunter sieht sie das grüne Taschenmesser, das sie gesucht hat. Sie zögert kurz, dann nimmt sie es heraus, schließt die Schublade und steckt es ein. Einen Moment steht sie im Wohnzimmer und fühlt das Gewicht des Messers in der Hosentasche ihrer dünnen Stoffhose. Sie lauscht, aber es ist ganz still. Sie geht in ihr Zimmer, schließt die Tür hinter sich, geht zu ihrem Schulranzen herüber, der unter dem Schreibtisch steht und zieht den Reißverschluss auf. Im hintersten Fach des Rucksacks versteckt sie das Messer. Das Ziehen in ihrem Bauch ist jetzt so stark, dass es beinahe kitzelt und sie schluckt und muss Luft holen und sie weiß nicht, ob sie lachen oder heulen oder beides gleichzeitig soll.