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Klabauter Sieben
Jetzt konnte er drei Sätze am Stück sprechen, ohne sich zu verhaspeln. Dafür hatte er lange geübt. Alleine, in seiner Wohnung. Hatte die Wörter wie Memorykarten vor sich und in sich drinnen ausgebreitet, alle Wörter, die er kannte, und neu geordnet, bis sie einen Sinn ergaben. Jetzt konnte er sagen: Guten Tag, mein Name ist Niko, ich wohne in der Klabauter Sieben.
Die Klabautergasse war der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlte. Hier konnte er Musik hören, Lieder, die er aus seiner Kindheit kannte. Viele der CDs waren zerkratzt und manche der Lieder spielten nicht bis zum Ende ab, und dann konnte es vorkommen, dass Niko den Rest des Tages dasaß und versuchte sich an den Text zu erinnern. Und wenn dann abends seine Mutter anrief und er nur einsilbig auf ihre Fragen antwortete, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie ihm neue CDs mit Kinderliedern kaufen musste.
Einmal hatte Niko versucht, einen Job zu bekommen. Zusammen mit seinem Onkel saß er vor dem Computer und sein Onkel bewegte die Maus so schnell hin und her, dass Niko schwindlig wurde. Der Onkel klickte hier und klickte dort und hämmerte immer wieder auf die Tasten ein und am liebsten hätte Niko etwas gesagt. Nicht so schnell oder: Ich will das nicht, aber die Worte steckten irgendwo fest, irgendetwas in seinem Kopf war zu eng geraten, wie zugeschnürt, und dahinter staute sich alles an, wie ein Gartenschlauch im Sommer, auf dem jemand mit schweren Stiefeln draufstand.
Niko weinte, aber sagen konnte er immer noch nichts. Er saß da und weinte, ohne ein Geräusch zu machen, und starrte auf die schwarzen Buchstaben, die wie Mückenschwärme auf dem leuchtenden Untergrund tanzten und auf das Bild von ihm mit der Krawatte und in das haarige, gerötete Ohr des Onkels und dann wischte er den Laptop vom Tisch auf den Boden.
„Ja, das hätte ich mir denken können. Tut mir leid, Niko“, sagte der Onkel und legte Niko die Hand auf die Schulter und ging wieder nach Hause. Und wie gerne hätte Niko etwas gesagt, etwas wie: Mein Name ist Niko, und es tut mir leid, dass ich so bin.
Niko verstand, wo sein Geld herkam. Aus dem Geldautomaten. Und der Geldautomat war auf irgendeine Weise mit den Geldbeuteln all der Leute verbunden, die für ihr Geld arbeiten gingen, und wenn Niko im Morgengrauen am Automaten stand und die Zahlen eintippte und auf den grünen Haken drückte und der Automat die Scheine ausspuckte, dann steckte er sie so schnell er nur konnte in seine Hosentasche und verließ die Bank, bevor irgendjemand wütend auf ihn werden konnte, weil er Geld klaute. Einmal beeilte er sich so sehr, dass die Glastür noch nicht fertig aufgeschoben war, es gab ein lautes Klirren, das Glas zersplitterte und lag in tausenden Teilen vor ihm zerstreut auf dem Boden. Niko überlegte, wie er die Scherben wieder zusammensetzen konnte. Er überlegte und überlegte und in seinem Kopf schwirrten die glitzernden, scharfen Splitter umher und wollten sich nicht zusammenfügen lassen, und dabei bemerkte Niko den Bankangestellten nicht, der jetzt neben ihm stand und fragte, ob alles in Ordnung sei, ob er sich verletzt habe. Niko überlegte. Die Bank wurde voller und auch sein Kopf wurde voller und als dort kein Platz mehr war, ging er nach Hause und legte sich schlafen.
Aber jetzt war es anders. Jetzt ging Niko zum Bäcker und statt nur auf die Brötchen zu zeigen und stumm sein Geld hinzulegen sagte er: Zwei Brötchen. Erst als die Frau fragte, welche Brötchen genau er wollte, musste er kurz überlegen und dann doch mit dem Finger zeigen. Aber als er das Restgeld von dem Teller wieder eingesammelt und schnell in die Hosentasche gesteckt hatte, sagte er noch: Tschüss. Und: Danke. Und als die Mutter abends vorbeikam, um ihm die CD von der Sesamstraße zu bringen, erkannte sie ihren Sohn kaum wieder. Niko antwortete, obwohl sie keine Fragen gestellt hatte, sie sagte: Nichts und Niko antwortete: Mama, ich bin froh.
Jetzt war es anders, jetzt ging es bergauf, jetzt konnte Niko sagen: Zwei Laugenbrötchen, bitte, und danke und tschüss, und als er ein Mal aus Versehen sagte: zwei Augenbrötchen, da lachte die Frau und sagte: Ja, hier sind deine Augenbrötchen, lass sie dir schmecken. Und am nächsten Tag sagte Niko wieder: zwei Augenbrötchen, obwohl er wusste, dass es falsch war, aber er wollte die Frau noch mal lachen hören, weil es so schön geklungen hatte, noch schöner als Ernie, wenn er in der Badewanne saß und von seinem Quietscheentchen sang.
Ja, jetzt ging es bergauf. Jetzt kam auch der Onkel wieder vorbei und fragte: Was kannst du gut und Niko sagte: Eigentlich nichts und der Onkel lachte und schrieb: Kenntnisse: und überlegte kurz und ließ die Buchstaben dann wieder verschwinden und schrieb stattdessen: In meiner Freizeit höre ich gerne Musik und unternehme etwas mit Freunden.
„Und was unternehmen Sie mit Ihren Freunden?“, wollte der Mann wissen, der ihn streng über den Brillenrand hinweg ansah und dem die Bäckerei gehörte und der ein bisschen aussah wie Bert.
Niko überlegte.
„Wir singen.“
„Das ist gut“, sagte der Mann und lächelte, „und können Sie backen?“
„Nein, aber singen“, sagte Niko und der Mann lachte und nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
„Ich würde Sie sehr gerne einstellen. Aber wir nehmen eigentlich nur gelernte Bäcker … Die Zeiten sind … Ich weiß gar nicht, wie lange wir … Und warum ich Sie überhaupt …“
Der Mann sah traurig aus, fand Niko, und das machte ihn selber traurig, aber trotzdem lächelte er und dachte an das, was seine Mutter gesagt hatte: Und immer lächeln. Wenn du lächelst, können Sie gar nicht nein sagen.
„Wenn Sie eine abgeschlossene Lehre hätten, würde ich Sie sehr gerne nehmen. Tut mir leid.“
Jetzt ging Niko nur noch manchmal Brötchen kaufen, hauptsächlich, um die Frau lachen zu hören. Seine Brötchen machte er jetzt selbst, denn Niko war jetzt in der Lehre, zuhause, in der Klabauter Sieben. Er vermischte jetzt Wasser und Mehl und Zucker und Salz und knetete alles zusammen und schob es in den Ofen, genau so, wie es ihm die Mutter gezeigt hatte, und er wurde jeden Tag besser. Am Anfang vergaß er manchmal, die Brötchen wieder aus dem Ofen zu holen, dann saß er in seinem Sessel und zählte Spinnen mit Graf Zahl, bis irgendwann dichter Rauch in der Küche stand, aber nach und nach lernte er dazu. Zuerst backte er nur für sich selbst, doch mit Zahlen kannte er sich aus, und so nahm er manchmal die Zahlen aus dem Rezept mal zwei, sodass er der Mutter und dem Onkel auch etwas abgegeben konnte. Und eines Tages klopfte er wieder an die Tür von dem Mann, der wie Bert aussah, und hielt eine Tüte selbstgemachter Brötchen in der Hand.
Guten Tag, ich kann jetzt backen, würde er sagen. Bitte stellen Sie mich ein, damit meine Mutter und mein Onkel stolz sind, damit ich mein eigenes Geld verdienen und damit ich die Frau mit dem schönen Lachen heiraten kann.
Er klopfte noch einmal, aber die Tür blieb verschlossen, er dachte an Oscar aus der Tonne. Er dachte an Ernie in der Badewanne und wie schön es jetzt zuhause wäre, in der Klabauter Sieben. Er dachte an Samson und an Tiffy und an Grobi und sein Kopf lief fast über, aber trotzdem klopfte er wieder und wieder an. Doch die Tür blieb verschlossen.
Daheim setzte er sich mit der Tüte im Schoß in den Sessel und als am Abend das Telefon klingelte, saß er dort noch immer und nahm nicht ab. Er wusste jetzt, dass er ein Dummkopf war. Er hatte ja gesehen, wie der Onkel die Kenntnisse verschwinden ließ und er selbst wusste nicht mal, wie man Kenntnisse schreibt und was genau das eigentlich war. Vielleicht konnte er jetzt Brötchen backen, aber wenn jemand in seinen Laden käme und Kuchen wollte, müsste er sagen: Nein, Kuchen haben wir nicht, nur Brötchen. Er wusste auch, dass die Frau mit dem Lachen ihn niemals heiraten würde, ihr Lachen war auch nicht schön gewesen, sondern gemein, sie hatte ihn ausgelacht, weil er nicht sprechen konnte, weil er war wie ein Kind, er hörte Musik für Kinder. Am liebsten würde er sich selbst in den Backofen legen, bis er nur noch Rauch war.
Aber stattdessen schlief er ein und im Traum trug er eine große, weiße Mütze und alles war voller Mehl. Er backte Brötchen und Kekse und sogar Kuchen, und der Mann, der wie Bert aussah, stand neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: Gott sei Dank hast du so oft an meine Tür geklopft. Und als er am nächsten Morgen aufwachte, drehte er den Backofen an und knetete den Teig und sang alle seine Lieblingslieder.