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Koffer
„Legen Sie bitte das Gepäck auf die Waage“, höre ich die Frau hinter dem Schalter sagen. Aus meiner Perspektive sieht sie ganz nett aus mit ihrer Frisur und der tadellos sitzenden Uniform.
Ganz anders als meine Trägerin.
Warum stellt sie mich nicht auf die blöde Waage? Das hat sie doch früher auch immer gemacht, obwohl da ihr Mann dabei war. Und warum hat sie so komische Sachen in mich hineingelegt? Früher wurde ich immer vollgestopft mit Kleidern, dem Kuschelkissen für die Kleine und dem Videospiel für den Großen und ihrem ganzen Schminkzeug und seinen Autozeitschriften. Und einer Büchse Leberwurst, ohne die er nicht leben konnte. In die Welt hinaus fahren, aber das Zuhause im Gepäck!
Diesmal ist irgendwas anders, nicht nur, weil er nicht dabei ist. Die Kinder kommen eh seit Jahren nicht mehr mit, die gehen eigene Wege, sagt sie immer.
Sie hat sogar die Bilder von den Kindern eingepackt, der Rahmen sticht mir in die Seite und hinterlässt eine Beule in meinem Kunstleder. Und das alte Lieblingskleid, obwohl sie es nicht mehr trägt, seit sie weiß, dass seine Freundin das gleiche hat. Und dann diese olle Kaffeekanne! Muss wohl noch aus ihrer Kindheit stammen, denn unten drauf steht: Volkseigener Betrieb Porzellanwerke Kahla-Thüringen.
Irgendwas stimmt hier nicht und ich wehre mich ein bisschen, mich auf die Waage stellen zu lassen. Die Leute hinter uns drängeln und sie kramt in ihrer Tasche nach dem Pass. Den guckt sie erst mal eine Weile nachdenklich an, das macht sie immer, seit sie den hat und mit mir überall hinreisen kann.
Schließlich hievt sie mich doch auf das Band. Ich ächze ein bisschen, als sie mich mit einem Plumps fallen lässt und die nette Frau hinter dem Schalter sagt mit rosa Lipgloss-Mund: „Tut mir leid, sie haben Übergepäck, das ist kostenpflichtig“.
Sie schüttelt den Kopf und versucht die Dame zu überzeugen, dass sie leider im Moment nicht viel Geld dabei habe.
Nicht dabei haben ist gut! Der Kontoauszug in meiner Seitentasche weist eindeutig ein kräftiges Minus aus!
Sie nestelt an mir herum. Was will sie jetzt von mir? Nein! Sie wird doch nicht, doch nicht hier vor allen Leuten? Doch, sie tut es, nimmt aber nur das Bild der Kinder heraus und steckt es in ihre Handtasche. Als sie meinen Reißverschluss mit zitternder Hand wieder schließt, bleibt sie mit dem Ring hängen. Etwas unwillig zieht sie ihn ab, steckt ihn ohne Zögern in meine Seitentasche und zieht entschlossen bis zum Ende zu. Dann begleicht sie die Rechnung, ihre letzten Euro. Ich habe ein ungutes Gefühl. Aber das legt sich, als ich im Dunkel des Frachtraums zur Ruhe komme.
Wieder werde ich auf ein Band geworfen. Es ist heiß hier und die Luft ist voller Staub.
Da steht sie und ich mache mich bereit, vom Band genommen zu werden. Sie tut es nicht. Warum nicht? Sie lässt mich einfach vorbeilaufen. Ich bewege mich ein wenig und lasse einen Zipfel des Lieblingskleides herausschauen, aber das scheint keine Wirkung zu haben. Auch der Versuch, die Kaffeekanne noch mehr herauszubeulen schlägt fehl.
Sie starrt mich an, als ob sie mich nicht kennen würde, obwohl ich sehen kann, dass sie sich ertappt fühlt.
Das gibt’s doch nicht! Sie geht weg! Sie geht! Aber sie kommt bestimmt wieder und holt mich ab, ganz bestimmt tut sie das!