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Kontaktloser Blick

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16.06.2025
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Anmerkungen zum Text

Content note: Blut, Aufkratzen von Haut, Beschreibung eines Zustandes, der an eine Psychose erinnert

Kontaktloser Blick

Jemand sah sie an. Ihr Blick wanderte über die Sitzreihen der U-Bahn, nach einem starrenden Augenpaar suchend. Links von ihr saßen sich zwei Personen gegenüber, deren Knie sich berührten und einen Tisch für ihre abgestützten Ellenbogen boten. Sie hatten sich so weit nach vorne gebeugt, dass sich ihre Stirne trafen und gegenseitig hielten. Die beiden wirkten in ihrer innigen Pose wie eine interessante Statue, die man einerseits ansehen wollte und andererseits nicht lange ansehen konnte, ohne sich aufdringlich zu fühlen. Hinter den beiden saß eine ältere Frau, die sich scheinbar keineswegs aufdringlich fühlte, während sie die beiden unverblümt bestarrte. In den entfernteren Reihen saßen mehrere Menschengruppen zusammen, alle schienen von Gesprächen eingenommen oder in ihrem Smartphone verloren.

Woher kam nur der Blick, den sie so deutlich spürte? Sie wandte ihren Kopf zur rechten Seite und betrachtete eine Weile die vorbeiziehenden Häuser hinter dem Fenster. Sie und ihr leerer Magen konnten es kaum erwarten, endlich ihre Zielhaltestelle zu erreichen. Sie hatte sich mit zwei Freundinnen aus ihrem Studium verabredet, die sie mit einem warmen Gefühl erwartete. Da verfing sich ihre Aufmerksamkeit in der Spiegelung der Scheibe, in der Person, die sich darin abzeichnete. Diese Person saß ihr direkt gegenüber und trotzdem hatte sie sie eben völlig übersehen.

Sie sah nach vorne und ihr Blick fand eine Verbindung. Kleine Augen in einem schmalen Gesicht. Sie zuckte kaum merklich zusammen, zu nah fühlte sich dieser unerwartete Kontakt an. Und gleichzeitig konnte sie ihn nicht abbrechen. Die Augen ihres Gegenübers empfingen sie mit einem so offenen Ausdruck, dass sie keinen Grund fand, sie zu verlassen. Es zeigte sich kein Lächeln, kein Unbehagen, keine Veränderung in dem jungen Gesicht mit den kleinen, grünen Augen. Die U-Bahn kam zum Stehen und sie nahm die ein und aussteigenden Menschen kaum wahr. Nicht einmal die Person, die sich neben sie setzte, störte den Blickkontakt. Nie hatte sie länger in ein fremdes, zurückblickendes Gesicht gesehen. Sie merkte ein aufkommendes Kribbeln in ihrem unteren Hals. Das Kribbeln wuchs zu einem schwachen Druckgefühl und schwoll schließlich zu einem beklemmenden Kloß an. Die Augen ihres Gegenübers lächelten, der Rest des Gesichts blieb unverändert stumm. Sie erkannte feine rote Äderchen, die sich wie ein Spinnennetz um die grüne Iris woben. Die Iris selbst war von einem einheitlich blassen Grünton und die Pupillen schienen mehr gräulich als Schwarz. Etwas an diesen Augen wirkte weit entfernt, kaum greifbar.

Plötzlich schnitt das Geräusch von lautem Vogelgezwitscher durch die Luft, ein auffallend unpassender Ton inmitten der U-Bahn. Das Geräusch war so laut, dass sich die Statue auf ihrer linken Seite abrupt auflöste und zu ihnen herübersah, zur vermeintlichen Quelle. Tatsächlich klang das Gezwitscher so, als käme es aus der Tasche ihres Gegenübers. Vermutlich ein Wecker, der vergessen wurde auszuschalten. Erstmal nichts Ungewöhnliches. Das war ihr selbst schon öfters passiert und jedes Mal war sie tiefrot angelaufen und hatte hektisch versucht das Geräusch zu ersticken. Verwundernd war nicht der Wecker, sondern die Reaktion ihres Besitzers. Beziehungsweise dessen ausbleibende Reaktion. Ihr Gegenüber blicke sie weiterhin an, vollständig ungerührt vom immer lauter werdenden Vogelkonzert. Es war keine Schamesröte erkennbar. Auch kein Blinzeln. Der Kloß in ihrem Hals begann zu brennen und Unruhe breitete sich ich ihrem gesamten Körper aus. Wieso konnte sie ihren Blick nicht von diesen seltsamen Augen lösen? Nicht einmal der unvermittelte Weckerton hatte sie aus der Verbindung befreit. Mittlerweile waren sämtliche Gespräche im Abteil verstummt, das Vogelgezwitscher erklang nun laut und klar und sie konnte nur erahnen, dass sämtliche Blicke auf sie beide gerichtet waren.

„Machen Sie bitte ihren Wecker aus? Das nervt langsam.“ Keine Reaktion. Kein Blinzeln. Nur regloses, leeres Starren. Sie spürte, wie sich ein unangenehmes Flimmern in ihrem linken Bein ausbreitete, dessen Ursache vermutlich ihre überschlagenen Beine waren. Sie sollte sie lösen, doch sie konnte es nicht. Ihr Gedanke brachte keinen Bewegungsimpuls zustande. Ihr Körper schien erstarrt in diesem grünen Blick. Zumindest so lange, bis sich ihr Arm zu einer juckenden Stelle an ihrem Hinterkopf hob. Die Bewegung fühlte sich wie ferngesteuert an, als hätte sie jemand anders befohlen. Sie kratzte in ihrem Haar, bis der Juckreiz befriedigt war. Die Augen ihres Gegenübers lächelten nicht länger, sie wirkten fast… überrascht. Oder entsetzt. Etwas in dem Blick ließ ihre Unruhe weiter anwachsen. Vielleicht war es ihr eigenes Entsetzten, das sich in den glasigen Pupillen spiegelte. Vage nahm sie wahr, dass sie sich immer noch am Kopf kratzte. Langsam begann die Stelle zu brennen. Auch das spürte sie kaum, denn es lag außerhalb der blassgrünen Augen.

Stimmen wurden lauter, sie spürte eine Berührung an ihrer Schulter. Das Wort „bluten“ drang an ihr Ohr, ein besorgter Unterton schwang in ihm mit. Etwas umfasste ihr Handgelenk, arbeitete gegen ihre kratzende Bewegung. Das hielt sie nicht ab, weiter über die mittlerweile feuchtwarme Oberfläche zu gleiten.

Es waren kleine Augen, umrahmt von hellen Wimpern. Sie saßen nicht tief in dem glatten Gesicht und wurden von schmalen Brauen überdacht. Kein Merkmal schob sich merklich aus dem ebenen Gesichtsbild nach vorne. Da war nichts, woran ihr Blick hätte hängenbleiben können als die endlos starrenden Augen. Ihre Gedanken flossen in die grauen Pupillen hinein, füllten ihren Gegenüber vollständig aus. Sie starrte mittlerweile in Augen, die Grauen spiegelten. Eine warme Flüssigkeit lief über ihre Wangen. Die kratzenden Finger an ihrem Hinterkopf waren nicht verschwunden. Sie folgten dem Rhythmus des Vogelgezwitschers. Mehrere Hände legten sich um ihren Körper. Sie wurde geschüttelt, fast von ihrem Sitz gezogen, doch das Starren und Kratzen blieb bestehen.

Ein dunkler Klumpen wanderte in ihr Blickfeld. Es waren Finger, eine Hand. Die Hand hielt Haare, die wie ihre eigenen aussahen, ein ganzes Bündel davon. Sie begann zu schreien. So laut und markerschütternd, dass die Menschenmenge um sie herum nach hinten wich. Sie schrie nicht wegen der Haare, nicht wegen der Schmerzen an ihrem Hinterkopf. Auch nicht wegen des Blutes in ihren immer noch kratzenden Fingern. Sie schrie, weil die fremde Hand ihren Blickkontakt gewaltvoll zertrümmerte. Der Spiegel lag in Scherben vor ihr und jeder Splitter schnitt sie von innen.

Niemand sah sie an. Sie war niemand.

 
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Hallo @Adiantum,

grundsätzlich ist der Descent into Madness zwar schon ein Horror-Topos, aber du hast ja hier glaube ich eher den Anspruch, seelische Probleme einigermaßen realitätsnah darzustellen (Die Frage, ob das gelingt, ist eine andere). Ich würde nicht Horror taggen. Tags, und damit hier in den meisten Fällen Genrezuweisungen, wecken bestimmte Erwartungen. Weil es voran gehen muss, ist erstmal nichts dagegen einzuwenden, mit denen zu spielen. Aber wenn du zum Italiener gehst und der hat nur Brötchen auf der Karte, fühlst du dich hinters Licht geführt. Deswegen sind Brötchen nichts Schlechtes. Gesellschaft und Alltag würden hier glaube ich am besten passen.

Eigentlich ist auch eher eine Szene als eine Geschichte, die du mit viel Nippes aufbläst. Mal der erste Absatz:

Jemand sah sie an. Ihr Blick wanderte über die Sitzreihen der U-Bahn, nach einem starrenden Augenpaar suchend. Links von ihr saßen sich zwei Personen gegenüber, deren Knie sich berührten und einen Tisch für ihre abgestützten Ellenbogen boten. Sie hatten sich so weit nach vorne gebeugt, dass sich ihre Stirne trafen und gegenseitig hielten. Die beiden wirkten in ihrer innigen Pose wie eine interessante Statue, die man einerseits ansehen wollte und andererseits nicht lange ansehen konnte, ohne sich aufdringlich zu fühlen. Hinter den beiden saß eine ältere Frau, die sich scheinbar keineswegs aufdringlich fühlte, während sie die beiden unverblümt bestarrte. In den entfernteren Reihen saßen mehrere Menschengruppen zusammen, alle schienen von Gesprächen eingenommen oder in ihrem Smartphone verloren.

Daraus könnte man ohne Info-Verlust machen:

„Jemand sah sie an. Links von ihr saßen sich zwei Fahrgäste gegenüber. Ihre Knie berührten unter dem Tisch, auf den sie die Ellenbogen stützten. Sie saßen nach vorne gebeugt, Stirn an Stirn. Wie eine Skulptur. Hinter den beiden saß eine ältere Frau, die sie anstarrte. Im Rest des U-Bahn-Abteils blickten alle auf ihr Telefon.“

Gerade, wenn es nicht so viel zu erzählen gibt, sondern man nur die Atmosphäre oder die Umstände beschreibt, unter denen die (hoffentlich) folgende Handlung passiert, sollte man die Geduld des Lesers nicht strapazieren. Beim Zusammenfassen ist mir übrigens aufgefallen, dass ich mir die Sitzanordnung nicht richtig vorstellen kann. Neben ihr sitzt das Paar. Dazwischen ein Tisch. Hinter dem Paar sitzt die Frau. Wie starrt die das Paar an?

Vermeide das behördlich klingende „Person“. Mann, Frau, alt, jung, Rocker, Kind, Geschäftsmann/-frau, Polizist noch in Uniform aber wohl im Feierabend, es gibt so viele Möglichkeiten.

Jetzt muss ich erstmal ins Bett, bin im Urlaub und hatte einen harten Tag. Bei Interesse melde ich mich nochmal. Kann nur gerade nicht genau sagen, wann.

EDIT: So, ich nochmal. Ganz viel kann ich eigentlich auch nicht mehr sagen. Mal so grundsätzlich:

Das hier

„Machen Sie bitte ihren Wecker aus? Das nervt langsam.“ Keine Reaktion.
ist besser als das:
Ihre Gedanken flossen in die grauen Pupillen hinein, füllten ihren Gegenüber vollständig aus.

Beim Ersten hast du Handlung, da passiert etwas. Eine Szene spielt sich ab im Kopf des Lesenden, das weckt Interesse. Das Zweite ist halt so typisch, es passiert nichts, aber ich versuche mit aller Gewalt, das wahnsinnig literarisch klingen zu lassen, dann fällt’s nicht auf. Oft sind solche Stil-Ungetüme dann auch, ich meine, lies den Satz mal laut, was soll das heißen?

Und da hast du ein Missverhältnis in dieser Geschichte. Zu viel in der Art wie der zweite Satz, zu wenig vom ersten. Da würde ich als erstes mal ansetzen. Und von da dann weitersehen.

Viele Grüße
JC

 

Hallo @Adiantum,

du schreibst:

Ihr Blick wanderte über die Sitzreihen der U-Bahn, nach einem starrenden Augenpaar suchend
Hier fragte ich mich, warum tut sie das? (Seltsames Hobby?;) ). Schreib doch, dass sie sich beobachtet fühlt, ihr das unangenehm ist. Das bindet den Leser an die Protagonistin.

Links von ihr saßen sich zwei Personen gegenüber, deren Knie sich berührten und einen Tisch für ihre abgestützten Ellenbogen boten.
Zwei sich berührende Knie als "Tisch" zu bezeichnen passt nicht richtig.

Hinter den beiden saß eine ältere Frau, die sich scheinbar keineswegs aufdringlich fühlte, während sie die beiden unverblümt bestarrte.
"bestarrte" ist ungewöhnlich (wie so manch andere Ausdrucksformen in deinem Text), aber ich finde es interessant - mal eine stilistische Abwechslung.

Da verfing sich ihre Aufmerksamkeit in der Spiegelung der Scheibe, in der Person, die sich darin abzeichnete. Diese Person saß ihr direkt gegenüber und trotzdem hatte sie sie eben völlig übersehen.
"verfing" - siehe oben, ungewöhnlich. "Übersehen" beinhaltet schon "völlig". Achte auf unnötige Wortwiederholungen ("Person").

Sie erkannte feine rote Äderchen, die sich wie ein Spinnennetz um die grüne Iris woben. Die Iris selbst war von einem einheitlich blassen Grünton und die Pupillen schienen mehr gräulich als Schwarz.
Warum zweimal die Beschreibung 'grün'?

Vermutlich ein Wecker, der vergessen wurde auszuschalten.
Vermutlich ein Wecker, bei dem man vergessen hatte, ihn auf 'stumm' zu stellen.

Die Augen ihres Gegenübers lächelten nicht länger, sie wirkten fast… überrascht.
"fast ... überrascht" (Leertaste)

Vage nahm sie wahr, dass sie sich immer noch am Kopf kratzte.
Das widerspricht der erwähnten 'Befriedigung des Juckreizes'.

Der Spiegel lag in Scherben vor ihr und jeder Splitter schnitt sie von innen.
Oh - zerbrochener Spiegel ... würde ich dies zum ersten Mal lesen (und hätte es noch nie im Film gesehen) wärs interessant. So leider nicht.


Niemand sah sie an. Sie war niemand.
Wäre gut, wenn du dem Leser das nicht sagen müsstest, er selbst wüßte, dass es darum geht. (Ist schwierig, zugegeben :cool:).

Wie @Proof schon erwähnte, erweckt der Tag 'Horror' andere Erwartungen. Vielleicht kannst du erklären, warum du 'Philosophisches' getaggt hast. Es geht eher um Psychologisches, wird oft nicht unterschieden.

Seltsam ist dein Text allemal, dieser Aspekt hat mir gefallen.

Meint
Woltochinon

 

Hi @Adiantum,
ich verstehe deinen Post so, dass Du uns hier einen Textschnipsel gegeben hast, in dem Du nur eine Stimmung einfangen willst und von uns wissen willst, ob dein Stil in der Beschreibung funktioniert. Und das alles einmal ungeachtet davon, dass das keine geschlossene Kurzgeschichte mit einer Handlung sein soll, wie es @Proof angeführt hat. Dir geht's nur darum, ob der "Punch" funktioniert. Handlung kommt dann später noch hinzu. Dann wäre das hier nur ein Zwischenspiel von was Größerem. Wenn ich damit richtig liege, müsstest Du dazu etwas sagen.

Der Punch funktioniert für mein Dafürhalten ganz gut, wenn er in eine Geschichte eingebettet ist, ist aber doch recht lang. Da muss man immer aufpassen, dass man sich in der Menge nicht verschätzt und den Leser irgendwann verliert, weil es ihm zu viel wird. Ich bin jetzt einer, der solchen "Nippes" in einem größeren Text sehr gern hat. Aber deine Länge hat mich da auch schon etwas an die Grenze geführt.

Von dem her, pragmatisch von mir bei meinem Morgen-Kaffee:
- Ist das nur ein Teil einer Geschichte und kommt hier noch Handlung?
- Stilistisch funktioniert dein Text meiner Ansicht nach. Aber ich würde ihn dann in der Länge um etwa 30 % kürzen und Handlung dazwischen mischen, dass mir der Leser nicht davon fliegt.

Nur mein süßer Senf dazu.
Felpod

 

@Adiantum :

Hallo Adiantum,

für mich ist es eine gelungene Erzählung, bei der mir die bildreiche, präzise Sprache gefällt, sowie der verhaltene Übergang vom Realistischen hin zum Surrealen. Gut gemacht auch, dass der Kontaktlose Blick nicht nur Titel ist, sondern sich als Symbol durch den gesamten Text zieht. Die Spiegel-Metapher zum Schluss spricht mich ebenfalls an. Meine Optimierungsvorschläge: Eine deutlichere Verortung der surrealen Elemente würde die Wirkung des Textes verstärken - eine Straffung einiger Beschreibungen würde dem Text m.E. guttun.

Herzliche Grüße.

rubber sole

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Proof ,

vielen lieben Dank für dein ausführliches Feedback 😊

Dass der Horror Tag für diese Geschichte unpassend ist, kann ich gut nachvollziehen, der diente eher als eine Art „Warnung“ vor eventuell verstörendem Inhalt, einen Thriller-Tag gibt es hier ja soweit ich weiß nicht. Aber weckt wirklich falsche Erwartungen, das kann ich verstehen.

Was du als Nippes bezeichnest, ist in meinen Augen etwas ganz Wichtiges in meiner Geschichte. Ich kann annehmen, dass ich an der ein oder anderen Stelle etwas zu „ästhetisiert“ schreibe, zu „aufgeblasen“. Doch in deiner Zusammenfassung meines ersten Absatzes geht für mich etwas Essenzielles verloren. Ja, es gibt nicht besonders viel Handlung, nicht viel Konkretes im Außen, das tatsächlich passiert, aber darum geht es auch nicht. Es geht viel eher um das Dazwischen, um das, was sich im Innen tun kann, wenn Menschen in Verbindung treten. Ich denke mein erster Absatz deutet genau das an, es wäre ein falsches Versprechen, würde ich die Zwischentöne aka den ganzen Nippes weglassen.

Ich kann verstehen, dass „Person“, besonders wenn es sich häufig wiederholt, erstmal ungewohnt und behördlich klingt. Allerdings möchte ich die Menschen in der Szene Personen nennen, weil die Rollenbezeichnungen, die du aufgelistet hast wie Rocker, Kind, Geschäftsmann/-frau, Polizist oder die Eigenschaften wie jung und alt für die Erzählung irrelevant sind. Die Erzählung befasst sich mit dem inneren Erleben von Menschen unabhängig von deren Rolle.

Der Satz: „Ihre Gedanken flossen in die grauen Pupillen hinein, füllten ihren Gegenüber vollständig aus.“ klingt wirklich etwas geschwollen. Und trotzdem passiert hier nicht weniger als in dem ersten Beispiel, das du besser findest, zumindest in meinem Verständnis nicht. Wieder passiert nichts im Außen, aber etwas im Innen. Der Satz zeigt auf, dass die Protagonistin ihren Gegenüber nicht wirklich als abgegrenzte, andere Person betrachtet. Ihr Gegenüber ist vielmehr reine Projektionsfläche für sie. Sie sieht nicht ihn, sondern vielmehr das, was sie in seine Leere hineininterpretiert und dadurch ausschließlich mit ihr selbst zu tun hat.

Liebe Grüße

Adiantum

 

Hallo @Woltochinon ,

vielen Dank für dein Feedback 😊

Dass du so detailliert auf einzelne Sätze eingehst ist total hilfreich für mich, da werde ich ein paar Dinge in meinem Text verbessern. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass du manche Formulierungen und auch die Erzählung insgesamt positiv seltsam fandest, genau das möchte ich erzeugen.

„Das widerspricht der erwähnten 'Befriedigung des Juckreizes“ Ja, aber genau das ist der verstörende Aspekt: Der Juckreiz ist befriedigt und TROTZDEM kratzt sie weiter, es geht nicht mehr um den Juckreiz.

Ich habe den Eindruck dass mein Text insgesamt etwas zu vage ist und sich in Andeutungen und Metaphern verliert, ohne mal was auf den Tisch zu legen. Deshalb auch die letzten beiden Sätze als kleine Erklärungshilfe. Aber ich habe auch schon von anderer Seite gehört, dass sie noch mehr verwirren. Naja vielleicht darf mein Text auch verwirren und teils unverständlich sein.

Philosophische hatte ich getaggt, weil sich mein Text ein bisschen an philosophische Theorien zum Thema „der Blick des anderen“ orientiert oder sich zumindest davon hat inspirieren lassen.

Noch einen schönen Abend und liebe Grüße

Adiantum

 

Hey @Adiantum,

ich hab mit deinem Text angefangen und wurde dann irgendwie reingezogen, so dass ich mir denke, ich schreib einfach mal mit.

Jemand sah sie an. Ihr Blick wanderte über die Sitzreihen der U-Bahn, nach einem starrenden Augenpaar suchend.

Hier bin ich nicht sicher, welche Stimmung du erzeugen möchtest. Nach dem ersten Satz denke ich mir: Sie ist erschrocken. Da sieht sie jemand an, sie fühlt es, aber sie weiß nicht, wer es ist.

Dann, im zweiten Satz, ist sie aber ruhig. Der Blick wandert über die Sitzreihen. Er wandert suchend.

Ich denke mir ja, ich bin zu verdorben von all dem Geschmacksverstärkerzeugs, das man so im Internet lesen kann, aber hier hätte ich mir etwas mehr Kraft gewünscht, ein stärkeres Bild.

"Jemand sah sie an. Ihr Blick huschte über die Sitzreihen der U-Bahn, suchte nach einem Augenpaar, das sie anstarrte."

So in der Richtung? Mehr Verb, weniger Partizip. (Das arme, arme Verb!)

Die beiden wirkten in ihrer innigen Pose wie eine interessante Statue, die man einerseits ansehen wollte und andererseits nicht lange ansehen konnte, ohne sich aufdringlich zu fühlen.

Das hätte mehr Kraft und würde die Protagonistin stärker zeichnen, wenn es nicht wirken würde. Und wenn nicht man etwas tun würde.

"Die beiden in ihrer innigen Pose wirkten auf sie wie eine interessante Statue, die sie einerseits ansehen wollte, aber nicht lange ansehen konnte, weil sie sich dann aufdringlich fühlte."

So bleibt der Text bei ihr, zeichnet sie weiter, vertieft ihren Charakter und ich sehe das Pärchen durch ihre Augen.

Sie wandte ihren Kopf zur rechten Seite und betrachtete eine Weile die vorbeiziehenden Häuser hinter dem Fenster.

"Sie sah aus dem Fenster und betrachtete eine Weile die vorbeiziehenden Häuser."

Da hat man die Bewegung im Kopf, und denkt, das muss man doch aufschreiben. Ich mache das auch so oft.

Sie und ihr leerer Magen konnten es kaum erwarten, endlich ihre Zielhaltestelle zu erreichen. Sie hatte sich mit zwei Freundinnen aus ihrem Studium verabredet, die sie mit einem warmen Gefühl erwartete.

Hier fängst du noch weitere zwei Sätze mit "Sie" an.

Außerdem: "Sie und ihr leerer Magen", hm. Das mag mir nicht gefallen. Auch das warme Gefühl ist platt, das fühle ich nicht.

Vielleicht:

"Sie wollte endlich ankommen, denn sie hatte Hunger und freute sich auf ihre Verabredung mit Freundinnen aus dem Studium."

Da verfing sich ihre Aufmerksamkeit in der Spiegelung der Scheibe, in der Person, die sich darin abzeichnete.

Ich weiß, das ist jetzt wirklich Kleinkram, aber es spiegelt sich ja nicht die Scheibe, sondern die Person.

"Da verfing sich ihre Aufmerksamkeit in der Spiegelung einer Person, die sich in der Scheibe abzeichnete."

So vielleicht?

Sie zuckte kaum merklich zusammen, zu nah fühlte sich dieser unerwartete Kontakt an.

Für wen kaum merklich? Für die Person gegenüber? Für mich? Für sie selbst? Ich weiß. Kleinkram, Kleinkram.

"Sie zuckte zusammen und hoffte, die Person hatte es nicht bemerkt - zu nah fühlte sich dieser unerwartete Kontakt an."

Die Augen ihres Gegenübers empfingen sie mit einem so offenen Ausdruck, dass sie keinen Grund fand, sie zu verlassen.

Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber es wirkt auf mich zusammengezimmert. Augen können für mich (erst mal) niemanden empfangen, da kann der Ausdruck noch so offen sein. Und das Verlassen der Augen ist nur dann schlüssig, wenn ich drin sein kann (was ich aber nicht sein kann.) Wenn du das so haben möchtest, dann musst du mich abholen.

"Sie zuckte zusammen und hoffte, die Person hatte es nicht bemerkt - zu nah fühlte sich dieser unerwartete Kontakt an. Denn der Ausdruck im Gesicht ihres Gegenübers war so offen, dass sie keinen Grund fand, wegzusehen."

Sie merkte ein aufkommendes Kribbeln in ihrem unteren Hals.

"bemerkte"

Etwas an diesen Augen wirkte weit entfernt, kaum greifbar.

Die Szene, jetzt wird es ja etwas intensiver, ist für mich leider auch nicht wirklich greifbar. Es gibt kein Gefälle, keinen Kontrast. Was will sie denn? Möchte sie weg, kämpft sie gegen den Blick an? Möchte sie darin versinken? Was fühlt sie? Fürchtet sie sich? Fühlt sie nichts, nur Leere? Was macht sie? Denkt sie darüber nach? Blinzelt sie? Schluckt sie den Kloß im Hals, aber der geht nicht weg?

Vermutlich ein Wecker, der vergessen wurde auszuschalten. Erstmal nichts Ungewöhnliches. Das war ihr selbst schon öfters passiert und jedes Mal war sie tiefrot angelaufen und hatte hektisch versucht das Geräusch zu ersticken.

Ein wenig Charakterisierung, schön! So etwas am Anfang und vielleicht etwas mehr davon?

„Machen Sie bitte ihren Wecker aus? Das nervt langsam.“ Keine Reaktion. Kein Blinzeln. Nur regloses, leeres Starren.

Das und eigentlich den ganzen Absatz finde ich gut. Ich habe das Gefühl, der ist dir leicht von der Hand gegangen. Mir wird auch langsam klar, worum es gehen wird in deinem Text.

Stimmen wurden lauter, sie spürte eine Berührung an ihrer Schulter. Das Wort „bluten“ drang an ihr Ohr, ein besorgter Unterton schwang in ihm mit. Etwas umfasste ihr Handgelenk, arbeitete gegen ihre kratzende Bewegung. Das hielt sie nicht ab, weiter über die mittlerweile feuchtwarme Oberfläche zu gleiten.

Ein eindringliches Bild. Hier ist der Ton des Textes ganz anders als am Anfach noch. Vielleicht schaffst du es, in der gleichen Stimmung auch den Anfang zu schreiben? Die beiden Teile würden dann besser zusammenpassen.

Ja. Ich hab dann irgendwann verstanden, dass da nicht wirklich ein Monster sitzt, das ihr an die Kehle will, sondern dass sich das alles eigentlich in ihr abspielt. Sie ist dann weg, dissoziiert, fühlt ihren Körper nicht mehr, hat psychotische Wahrnehmungen ihrer Umgebung, das geht so weit, dass sie sich selbst dabei verletzt, ohne das bewusst wahrnehmen oder steuern zu können.

Für mich fehlt allerdings etwas an dem Text. Eine Geschichte? Handlung? Wer ist sie, warum ist sie so? Du beschreibst eine Episode aus ihrem Leben, die sicher öfter so vorkommt, aber das alleine ist noch keine Geschichte.

Und auch als Episode funktioniert es nur so halb. Ja, ich verstehe, was da mit ihr passiert, ich erkenne es, aber es sagt mir nichts. Um mir etwas sagen zu können, muss mehr im Text vorhanden sein: Warum erzählst du mir das? Wenn du sie mir einfach nur zeigen willst, mir vorführen, wie so eine Episode aussieht, dann ist mir das zu wenig.

Gern gelesen hab ichs trotzdem.

Bis bald
yours

 

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