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Kopfschuss

Aza

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08.09.2001
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Kopfschuss

Schon immer waren diese Mauern trostlos gewesen.
All der Schmerz, all die Pein und das Elend haben sich darin festgesaugt wie Wasser in einem Schwamm.
Und es wird sich nie ändern, denn dieses Gebäude ist nicht als Zuflucht gebaut worden, sollte nie die Menschen vor der kalten, grauen und feindlichen Welt jenseits der Mauern schützen.
Sondern die Welt vor den Menschen innerhalb der Mauern.

Kalt, wie ein Monolith unverstandener Götter, ragt es in den Himmel, durchbricht den Schein der Sonne, scheint sie zu verhöhnen.
Der Schatten, den es wirft, ist von alles durchdringender Schwärze, so tief, daß man ihn als Antithese zu Licht definieren könnte, nur zu bequem, die Welt in Besitz zu nehmen. Sollte es jedoch einmal diesen Entschluß gefaßt haben, wird es nichts auf dieser Erde geben, daß es davon abhalten kann, sie in den Mantel der ewigen Nacht zu hüllen.
Es, dieses Gemäuer, ist nicht einfach nur ein Gebäude; die Ausmaße, die es annimmt, erinnern eher an eine Festung, eine Trutzburg.
Doch im inneren verströmt es die Atmosphäre einer Gruft.
Die Gänge sind eng, die Decken niedrig und die Luft scheint noch nie bewegt worden zu sein.
Nichts hier drin hat in seiner viel-100-jährigen Existenz schon mal ein Lachen gesehen.
Jeder, der sich schon einmal hier drinnen aufhalten mußte, versteht, was ich meine, wenn ich sage, daß das ganze Gebäude einen zu bedrohen scheint. Jeder Stein scheint mit unheilvollem Leben erfüllt zu sein, einzig dazu erschaffen, zu bewachen und zu...peinigen.
Den Schmerz der Leute aufzusaugen, um ihn vermehren zu können und in wilder Agonie wieder auf sie zurück zu schleudern.
In seiner düsteren Heiligkeit ist dieses Gebäude die letzte Instanz der dem Tode Geweihten.

Schon seit langem gibt es nichts Neues mehr in seinem Leben.
Seit genau 4 Jahren, 2 Monaten und 21 Tagen.
Seit seinem 19. Geburtstag, der für ihn der Inbegriff für den Tod wurde.
Denn an diesem Tag endete sein Leben.
Dies war der Tag, als er nach Rauenstein kam, der berüchtigtsten Strafanstalt, der hoffnungslosesten. Denn es führte kein Weg wieder hinaus, außer am Erschießungskommando vorbei.
Noch nie war es anders, und tief in sich drin wußte er, daß es nie anders laufen wird.
Dies ist der Vorhof zur Hölle.
Anfänglich war er noch voller Hoffnung gewesen. Bisher hatte er sich immer durchsetzen können. Doch schon bald wurde diese Hoffnung, und mit ihr er selbst, zerbrochen.
Er kann nur tun, was er immer tut - Nichts.
Nichts, außer dazuliegen und die Gedanken kreisen zu lassen.
Er weiß es, fühlt es immer deutlicher.
Er spürt den Atem seines Todes immer deutlicher in seinem Nacken.
Schon lange erschreckt ihm nichts mehr an diesen Gedanken, ja, er sieht es mittlerweile schon als Befreiung aus diesem sinnlos gewordenen Leben, der Tod kann nicht schlimmer sein, als, ihn tagtäglich erwarten zu müssen.
Dies ist sein Ziel, er steht für etwas Neues.
Er zählt die Tage.

08. 08. 1870
...
Exekution von 7 Inhaftierten
Nach Verlesung der Urteile behelfsmäßige Durchführung
...

Das ist alles, was an diesem Tag zu Protokoll gegeben wurde. Nichts weiter, nicht ein Wort über die Gedanken und Gefühle oder gar die Ängste dieser sieben.
Nichts über den kleinen Dicken, der zum ersten Mal seit 6 Jahren aus seiner Lethargie erwachte, wild um sich schlug und dabei einem Wärter das Nasenbein brach.
Nichts über den Unscheinbaren, der in die Arme der Ohnmacht sank, kurz bevor sein Schädel von einer Kugel auseinandergerissen wurde.
Auch nichts über den Alten, der nicht sterben wollte, trotz einer Kugel im Herzen. Der erst einige Stunden später verblutet war.
Und erst recht nichts über ihn, der so starb, wie es sich gehörte.
Scheinbar völlig gleichgültig.
Der starb, wie ein Mann.
Der voller wiederaufgekeimter Hoffnung starb.

Anfangs war es ihm gar nicht aufgefallen.
Anfangs ist er nur glücklich gewesen. Glücklich über den Sohn, den ihm seine Frau geboren hat. Er empfand es als mächtigen Liebesbeweis, als Garanten für ihre Bindung.
Nicht, daß es etwas dramatisches gewesen wäre, aber es wunderte ihn, daß er es noch nie vorher bemerkt hatte. Denn jetzt, wo er es einmal wußte, schien es ihm unmöglich, dieses Mal zu übersehen. Das Mal auf der Stirn seines Sohnes.
Eigentlich sah es gar nicht aus, wie ein Mal, eher wie eine Narbe.
Etwa Daumennagelgroß, fast rund, circa einen Millimeter tief.
Es muß eine Narbe sein, dessen ist er sich ganz sicher.
Eine Narbe.
Ein Stigma.

Dieser Frühherbst des Jahres 1970 war die glücklichste Zeit in ihrer beiden Leben.
Die Liebe war noch jung, aber nicht mehr so neu, daß die Angst vor Geheimnissen des Partners noch groß gewesen wäre.
Im Sommer hatten sie geheiratet und im August ihr Kind bekommen.
Einen Sohn.
Was waren sie stolz gewesen.
Es schien, als seinen sie durch ihn eins geworden.
Die Frucht ihrer beiden Körper schien eine Brücke über zwei souveräne Leben zu schlagen.
Aber bereits ein Jahr später wußten beide, daß ihre Bindung nicht für die Ewigkeit gedacht war und 1972 trennten sie sich endgültig.

„Wo auch immer diese Schmerzen herkommen mögen, ich kann leider nicht sagen, was sie verursacht. Er scheint bei bester Gesundheit zu sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, sicher glaube ich Ihnen, aber wenn da wirklich etwas ist, scheint es nicht mit der Medizin zu richten sein.“
Sie wußte, daß er das sagen wird.
Sie wußte es schon vor 2 Monaten, als sie ihn zum ersten Mal aufsuchten.
Den großen Doktor.
Den Experten.
Der nur eine weitere Enttäuschung war.
Es gibt so offensichtliche Fakten.
Ihr Sohn leidet schon immer unter Kopfschmerzen. Manchmal sogar so stark, daß er schreit und wie wild um sich schlägt.
Und zwei mal ist er schon wegen ihnen umgekippt und ohnmächtig geworden.
Zuerst dachte sie, es käme von seiner Psyche, vielleicht, weil er ohne Vater aufgewachsen ist.
Dann war sie der Meinung, daß die Schmerzen von der Narbe an seiner Stirn ausgehen, weil er immer auf sie zeigt, wenn sie ihn fragt, wo es denn genau weh tut.
Aber auch das hatten die Ärzte ausgeschlossen.
So makaber es vielleicht klingen mag, aber ein Tumor war ihre letzte Hoffnung gewesen. Er wäre etwas gewesen, woran sie sich hätte festhalten können. Eine Erklärung für das scheinbar grenzenlose Leid ihres Sohnes.
Doch da war nichts.
Also blieb ihr wieder einmal nichts, als ihn in ihre Arme zu schließen.
Er versuchte, tapfer zu sein, aber sie wußte, wie es in ihm drin aussah.

Nicht, daß er eigentlich normal wäre, aber das war noch nie da.
Sie alle wußten, daß ihr Kollege Probleme mit dem Kopf hat, aber dies traf bisher nicht auf seine geistige Verfassung zu.
Oft hatte er Schmerzen und schluckte Massen von Tabletten, die aber nichts weiter taten, als seinen Geist, nicht aber den Schmerz, auszuschalten.
Jetzt hatte sich sein Geist von selbst ausgeschaltet.

„Laßt es mich nicht noch einmal erleben!
Tötet mich! Tötet mich sofort!
Nicht noch einmal dieses Warten!“

Seit Stunden schrie er so herum und er scheint sich nicht von selbst zu beruhigen.
Also mußte er schließlich den Arzt holen.

„Und das hier ist Robert. Etwas eigenartig. Er glaubt, in einer Todeszelle zu sitzen und wartet darauf, erschossen zu werden.“
Nach einigen prüfenden Blicken wendet sich der neue Chefarzt ab.
2 Minuten für einen Mann, der schon seit über 4 Jahren hier sein Dasein fristet.
Für einen Mann, der weiß, daß er bald sterben muß.

10.30 Uhr.
Geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Anstalt Schaunow.
Noch hat keine Schwester und kein Pfleger verarbeiten können, was hier passiert ist.
Einige von ihnen kannten Robert nun schon über 4 Jahre.
Bedauert hatten sie ihn oft, ernst genommen jedoch nie.
Jetzt wurden sie eines besseren belehrt.
Denn das war nicht einfach irgendein Anfall gewesen, wie es der Arzt später deklarieren wird.
Es war ein Anfall, der den Schädel spaltet.
Einer, der an der Stirn ein Loch hinterläßt und den Hinterkopf wegreißt.

Sein Aufenthalt dauerte genau 4 Jahre, 4 Monate und 2 Tage.

 

Wuhh....

Coole Story.

Spannend und phantasievoll erzählt, auch die Idee ist gut und in dieser Form hab ich noch nie etwas davon gehört. Wirklich gut find ich !

Fast schade daß im Dunklen bleibt woher er dieses "Kopfschuss Stigmata" hat. Ich meine, daß man nicht weiß ob er ein wiedergeborener Gefangener oder sonstwas ist. Aber daß ist nichts was ich negativ anrechnen kann weil ich sowas eigentlich eh gern hab. ( Mach ich selbst bei der einen oder anderen Geschichte von mir so, eigentlich bei den Meisten ) ;)

 

oh, da hab ich zuerst den schluss gelesen, um festzustellen, dass ich auch den anfang noch mitnehmen könnte. allerdings habe ich dort beim ersten mal tatsächlich angefangen, und nicht ohne grund aufgehört: irgendwie ist das etwas langatmig, sehr detailgetreu, aber das kam mir komisch vor. ist meiner meinung nach nicht wirklich noetig, nicht mal für die atmosphäre.

übrigens muss ich niko wiedersprechen: die herkunft des mals soll im dunkeln bleiben, denn sie gehört nicht da rein. nix mit wiedergeburt oder so. brav. eigentlich. denn es erklärt sich durch die schusswunde am ende, irgendwie.

und fein auch, dass nicht zu viel blut oder ähnliche details in diesem text vorhanden sind. horror ohne blut, selten und lesbar.

 

Gut, wirklich gut geschrieben. Besonders die Art und Weise, wie Du das Gemäuer am Anfang beschreibst, gefällt mir. @rearview: Find ich nicht langatmig, die Vorstellung, wie es in seinem Inneren aussieht, wird klasse durch den Anfang bestärkt. Auch die Atmosphäre.
Über das Mal muss gar nicht diskutiert werden; so, wie es eingesetzt wird, ist es genau richtig.
@Aza: Vielleicht stellst Du ja noch mehr rein.

 

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