Was ist neu

Kostbare Lebenszeit

Mitglied
Beitritt
26.07.2002
Beiträge
5

Kostbare Lebenszeit

Ich schlug die Augen auf. Wo war ich? Zunächst verschwommen, dann klarer wurde das Bild, das sich vor meinen Augen abzeichnete. Ein rhythmisches, kurzes Piepsen drang lauter werdend in mein Bewusstsein. Langsam drehte ich meinen Kopf und entdeckte einen alten, weiß gekleideten Mann neben mir sitzend. Er hatte die Augen geschlossen und seine Hände ruhten entspannt auf seinen Beinen. Dann fiel mein Augenmerk auf die Apparaturen die daneben standen. Ein piepsendes Gerät war unweit des Kopfendes meines Betts positioniert. Ich kannte es aus Filmen und war überrascht, wie klein solch ein EKG-Gerät doch war. Als nächstes spürte ich ein leichtes, schmerzhaftes Pochen an den Schläfen und entdeckte an meinem Arm eine Nadel die hineinführte.

"Wie geht es dir?“ hörte ich eine Stimme. Mein Kopf fuhr herum zu dem alten Mann auf dem Stuhl. Inzwischen hatte er die Augen geöffnet und schaute mich mit einem warmen, herzlichen Blick an. Er lächelte freundlich und wirkte keineswegs ungeduldig, bis ich langsam meine Stimme wiederfand und ein leises "Wo bin ich hier?“ über die Lippen brachte. "Du befindest dich im Krankenhaus“ antwortete er langsam. "Du bist ohnmächtig geworden. Als du hinfielst bist du mit dem Kopf hart auf der Tischkante aufgeschlagen. Wir haben uns bereits ernsthafte Sorgen um dich gemacht.“

Ich versuchte mich zurückzuerinnern. Was war das letzte an das ich mich erinnern konnte? ... Ja...wir hatten eine Teamsitzung und ich musste mich fürchterlich aufregen, als ich erfuhr, dass unser Projekt für ein neues Computersystem eines Kunden den Zeitrahmen weit sprengen würde. Hätte ich doch nicht die Verantwortung abgegeben. Hätte ich bloß die Aufgabe selbst übernommen. Dann wäre es nie soweit gekommen...und ich wäre nun auch nicht hier...

"Ist es nicht ein schöner Tag?“ unterbrach mich die Stimme und zerrte mich jäh aus meiner gerade geschaffenen Gedankenwelt zurück. Verwirrt schaute ich den alten Mann genauer an. Er musste ein Krankenpfleger sein, der über mich wachen sollte – na ja, die private Krankenkasse kostete mich monatlich auch einiges. Aber was tut man nicht für seine Gesundheit. Mein Pochen in den Schläfen wurde stärker und ein ärgerliches Gefühl stieg in mir hoch. "Wieso soll das ein schöner Tag sein, wenn ich hier ans Bett gefesselt liege und mein Kopf zu platzen droht?“ "Schau aus dem Fenster...siehst du den Wind durch die herbstroten Blätter in den Bäumen streichen? Siehst du die Vogelschwärme am Himmel, die in den Süden fliegen?“ Verdutzt schaute ich aus dem Fenster. Ja, es war recht windig draußen und Blätter fegten durch den kleinen Park, der hinter dem Krankenhaus lag. Aber war das wirklich so erwähnenswert? Meine Gedanken schweiften zurück zu unserer letzten Besprechung. Was war bloß falsch gelaufen, damit das Projekt so überfällig war? Hätte man nicht... "Du siehst nachdenklich aus. Über was denkst du nach?“ Wieder unterbrach mich der alte Krankenpfleger unsanft in meinen Gedanken. Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Und warum duzte er mich die ganze Zeit? "Hören Sie, lassen Sie mich einfach hier in Ruhe liegen und gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Ich fühle mich schon wieder ganz gut.“ Das Pochen in den Schläfen widersprach mir auf der Stelle.

"Du solltest nicht verärgert sein. Ich möchte nur mit dir reden. Erzähl mir an das letzte an das du dich erinnerst.“ Entnervt starrte ich ihn an. Warum war er so hartnäckig? Sein Blick wirkte noch immer warm und noch immer zeigte sich ein freundliches Lächeln um seine Lippen. Da ich befürchtete ich würde ihn doch nicht loswerden und ich eh nicht viel in meinem Zustand tun konnte, begann ich ihm lange und breit die Geschichte von dem gescheiterten Projekt zu erzählen. Sein Augen ruhten ständig auf mir und es schien, als ob seine ganze Konzentration auf meiner Erzählung ruhte. Ich gab mir reichlich Mühe, die Geschichte interessant und vollständig zu erzählen und erzählte einige Zeit, bevor ich an den Zeitpunkt angelangt war, von dem an ich keine Erinnerung mehr besaß. Selten hatte ich erlebt, dass sich jemand so viel Zeit nahm, um mir zuzuhören – doch es fühlte sich gut an. Als ich geendet hatte schaute ich voller Erwartung den alten Mann an. Er würde sich sicherlich beeindruckt zeigen von der Größe und Bedeutung des Projektes.

Der alte Mann saß nur schweigend und unbeweglich da. Sein Blick richtete sich inzwischen aus dem Fenster in die Ferne und es schien, als ob seine Augen feucht zu glänzen begannen. Nach einer fast endlos erscheinenden Pause, die bestimmt einige Minuten angedauert hatte, fragte er schließlich "Tanzt du gerne?“ Ein weiteres Mal war ich überrascht von seiner Frage. Ich hatte so ziemlich jede Reaktion erwartet, doch diese Frage traf mich wieder unerwartet. Was für ein seltsamer Bursche musste das doch sein. "Ja“ antwortete ich nach kurzem Zögern und mir tanzten kurz Bilder vergangener Ereignisse durch den Kopf: der Hochzeitstag mit meiner Frau, der schon eine gute Weile zurücklag, der Firmenball vor drei Jahren und der zwanzigste Jubiläumshochzeitstag im vergangenen Jahr. Die nächste Frage traf mich wie ein Schlag "Wann hast du das letzte Mal getanzt?“ Ein dumpfes Gefühl entstand in meiner Magengegend. Ich wusste, hier konnte etwas nicht richtig sein - versuchte mich der Krankenpfleger zu verhören? "Warum wollen Sie das wissen?“ antwortete ich ausweichend und setzte meinen in Jahren geübten ernsthaften Vorgesetztenblick auf.
Der alte Mann schaute nach wie vor aus dem Fenster und ließ sich von meinem sicherlich beeindruckenden Gesichtsausdruck nicht beirren. "Du weißt warum ich das frage. Du vergisst zu leben und ich möchte dich darauf aufmerksam machen.“ Ärgerlich entfuhr mir "Woher wollen Sie das denn wissen? Was wissen Sie schon von meinem Leben?“ "Beantworte mir folgende Frage: Was war dein letzter Traum, den du dir erfüllt hast?“ Die Diskussion ging mir nun auf die Nerven. Ich fühlte mich erschöpft und überfordert und wollte nur noch meine Ruhe. Trotz meines Widerwillens suchte ich nach einer Antwort, die die Diskussion zuende bringen würde. Ich war nicht gewohnt zu verlieren und hatte meist das letzte Wort. Ich hatte viele Träume und hatte auch die Mittel, sie mir zu leisten. Dieses Frühjahr träumte ich noch von einem roten Cabriolet, doch nie hatte ich die Zeit gefunden, mich ernsthaft dazu zu bemühen und so verschob ich es täglich, bis dann der Sommer zu Ende ging und ein Cabriolet unnütz wurde. "Ich wollte ein Cabrio, doch jetzt ist es zu spät.“ antwortete ich und wurde mir zugleich bewusst, dass diese Antwort erneut Angriffsfläche bot. "Warum?“ fragte er. "Ich fand nie die Zeit eines zu suchen und jetzt ist es bald Winter. Ein Cabrio im Winter zu kaufen macht keinen Sinn.“ "Warum fandest du keine Zeit?“ hakte der alte Mann nach. "Es waren ständig Projekte in Arbeit und ich musste...ich konnte die anderen doch nicht so einfach sitzen lassen!“.

Das dumpfe Gefühl im Magen wurde stärker. Eine lange Pause entstand, und der alte Mann wandte seinen Blick wieder langsam aus dem Fenster. Ich wurde zusehends unruhig. Was ging nun in ihm vor – was würde er mich als nächstes fragen und wie könnte ich nun aus dieser unbequemen Situation wieder entkommen. Na komm schon, motivierte ich mich, ich hatte schon schlimmere Diskussionen – ich werd mich doch nun nicht von so einem alten Mann belehren lassen...was denkt der eigentlich wer er ist? Ich bin schließlich der zahlende Patient und er ist nur ein Pfleger. Mein Gedanken kreisten sich noch um eine Möglichkeit, die Oberhand im Gespräch zu erlangen, um das unbequeme Gespräch zu beenden, als mich der Mann ein weiteres Mal unterbrach: "Sie sind verheiratet?“ Ein zögerliches "Ja...“ entschwand meinen Lippen. Er hatte nun also die Strategie geändert, er suchte nach Schwächen in meinem Umfeld. “...glücklich übrigens.“ fügte ich noch schnell hinzu, um ihm die Luft aus den Segeln zu nehmen. Der Alte stutzte und ich konnte mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. "Wann hast du und Elena denn das letzte Mal gemeinsam gelacht?“ Ich konnte nicht glauben, richtig gehört zu haben. "Woher...woher kennen Sie denn den Namen meiner Frau?“ konnte ich nur mühsam stammeln. Wie konnte ein Pfleger den Vornamen meiner Frau kennen? Das verstoß grob gegen die Datenschutzgesetze...und ich musste es ja wissen, denn das war schließlich Teil meiner Arbeit bei der Konzeptionierung von Softwareprojekten. Der Alte schaute mir unentwegt in die Augen – ein beklemmendes Gefühl stieg langsam vom Magen in den Hals.

Er hatte die offene Wunde getroffen. Seit Monaten hatten Elena und ich immer wieder vehement Streit. Sie warf mir vor, die Arbeit sei mir wichtiger als sie und wir würden keine Zeit mehr miteinander verbringen. Ich wäre nie da für sie. Meine Versuche sie von der großartigen Chance und der Bedeutung des Projektes zu überzeugen, mussten wohl immer hilfloser gewirkt haben. Ich habe noch gut die Szene vor Augen, wie Elena während eines Streites mit Riesengeschrei das teure Meisel-Geschirr mit einer großen Armbewegung vom gedeckten Mittagstisch auf den Boden fegte. Wir hatten es direkt nach unserer Hochzeit, als wir noch eine Menge Schulden bei der Bank hatten, gekauft. Tagelang hatten wir uns mit der Entscheidung gequält, ob wir es uns leisten sollten. Elena war dafür gewesen und überzeugte mich schließlich – ihr Herz hing so sehr daran. Dann warf sie es einfach so auf den Boden...

Die letzten Wochen hatte sich dann die gespannte Lage wieder gelegt. Elena weinte nach wie vor recht häufig, ihre verweinten Augen konnte ich abends nach der Arbeit nicht übersehen. Doch ich versuchte das Gespräch nicht wieder auf das leidvolle Thema kommen zu lassen. Es hatte schließlich schon genügend Unheil angerichtet.

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich regungslos vor mich hinstarrend dagelegen war, bis ich von der sich öffnenden Zimmertür jäh aus meiner Gedankenwelt gerissen wurde. Ein junger Mann mit langem, weißen Kittel und Birkenstock, offensichtlich musste das ein Arzt sein, stand in der Tür und betrat vorsichtig den Raum. Der alte Mann war verschwunden. Der Stuhl stand verlassen neben dem Bett und ich wunderte mich noch, wie er hatte das Zimmer verlassen können, ohne dass ich es bemerkt hatte. "Wie geht es Ihnen denn, Herr Schmid?" sagte der Kittelmensch in einem solch überlauten Tonfall, als ob ich einer dieser schwerhörigen, älteren Patienten sei. Ich nickte ihm nur langsam zu und zeigte ein gequältes Lächeln. Der junge Arzt schaute mich so ernst an, dass ich fast Angst bekam. Er schaute langsam auf den Boden, holte tief Luft. "Herr Schmid, Ihre Frau hatte vor wenigen Stunden aufgrund ihres Gehirntumors einen Schlaganfall. Glücklicherweise war sie gerade zu ihrer Bestrahlungssitzung bei uns. Sie ist inzwischen stabil und liegt im Koma."

[ 29.07.2002, 17:01: Beitrag editiert von: Ben Jockisch ]

 

Der "alte Mann" ist einer Idee von Adam J. Jackson entnommen.
Freue mich über kritische Kommentare zu meinem ersten 'Gehversuch'.

Herzliche Grüße
Torsten :)

 

@Dodo:

Ich habe den Titel deiner Geschichte editiert. Es funktioniert leider nicht, Wörter im Titel fettgedruckt darzustellen.

 

War wohl etwas zu 'seicht', um auf Interesse zu stoßen...naja...is ja auch kein Beinbruch ;)

 

Hi Dodo!

Willkommen auf kg.de!

Deine Geschichte ist relativ lang, da dauert es manchmal etwas länger, bis sie jemand liest. Ich zum Beispiel werde sie sicher lesen, aber nicht so zwischendurch, das würdest Du ja auch sicher nicht wollen. ;)

Also nur ein bisschen Geduld... :)

Alles liebe
Susi

 

Hallo Susi,

danke für deine Antwort. Keine Sorge, ich nehm das mit der Geschichte nicht persönlich. Beim wiederholten Durchlesen kommen mir selbst Bedenken, ob sie vielleicht nicht doch ein wenig arg 'kitschig' is... *schmunzel*

Also, keine Eile - ich hab Semesterferien ;-)

 

Hallo Torsten!

Eine gute Geschichte zur Frage nach dem Sinn des Lebens, oder welchen Sinn wir ihm geben und worauf wir unsere Wertigkeiten ausrichten.
Auch stilistisch finde ich sie ganz ok, ein paar Stellen könntest Du sicherlich verbessern, aber so richtig gestört hat mich beim Lesen eigentlich nur die Stelle:

"und entdeckte an meinem Arm eine Nadel die hineinführte."
- klingt etwas umständlich, habe aber keinen Verbesserungsvorschlag parat...
...doch, vielleicht "und spürte in meinem Arm eine Nadel stecken."?

Einige Fehler solltest Du noch ausbessern:

"Erzähl mir an das letzte an das du dich erinnerst." - Erzähl mir das letzte, an das du dich erinnerst.

"Sein Augen ruhten ständig auf mir..." - Seine Augen

"...nie hatte ich die Zeit gefunden, mich ernsthaft dazu zu bemühen..." - mich ernsthaft darum zu bemühen

"Das verstoß grob gegen die Datenschutzgesetze..." - verstieß

Korrigieren kannst Du, indem Du rechts oberhalb Deiner Geschichte, in der Zeile mit dem Datum, auf "Editieren" klickst. ;)

Bei der Stelle mit dem Tanzen dachte ich doch wirklich, es seien ihm die Beine amputiert worden oder sowas in der Richtung - gut in die Irre geführt!

Alles liebe
Susi

 

Hallo Dodo,

der Plot der Geschichte ist ja nicht neu, doch ich habe sie gerne gelesen.
Besonders treffend fand ich die Frage „wann hast Du ... das letzte Mal gemeinsam gelacht“. Diese Frage sollten sich vor allem Ehepaare als Qualitäts- Assessment ihrer Beziehung täglich stellen.
Was Dein Protagonist sich so antut nennen die Amerikaner „he burns his candle on both sides“.

Tschüß... Woltochinon

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom