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Serie Kreis mit Kreuz: Carmen

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02.09.2015
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Kreis mit Kreuz: Carmen

Am Rand des beschlagenen Spiegels steckt eine verwelkte Rose, deren roten Blütenblätter mit Schimmelflecken übersät sind. Carmen steht am Waschbecken. Lächelt die Rose an. Mit der Handfläche wischt sie über das beschlagene Glas. Mit dem Zeigefinger streicht sie über die Narbe, die sich vom rechten Ohr über den Kieferknochen entlang zum Kinn zieht. Es könnte auch eine Falte sein. Mit viel Fantasie. Der Dunstschleier auf dem Spiegel löst sich in kleine Tropfen auf. Was bleibt, ist der wulstige, rote Strich auf einem verblassenden Gesicht.
Für einen Moment wandern ihre Gedanken zurück zum Scheunenfest. Es roch nach Heu und Moschus. Seine Arme umschlagen ihre Taille. Das Piksen des Strohs ließ sie lachen.
Damals. Carmen zählt die Jahre an den Fingern ab. Vierzehn waren es. Fast ihr halbes Leben.
Der Geruch von Drogerie-Badesalz in viel zu heißem Wasser breitet sich in dem kleinen Bad aus. Carmen lässt den kratzigen Frottee-Bademantel fallen. Sie stellt sich vor, wie er sie ansähe. Ein Lächeln geht über ihr Gesicht. Alexander. Er versprach ihr, dass sie es dieses Mal schaffen würden. So etwas wie letzte Woche für immer Vergangenheit wäre. Er trug dabei ein schneeweißes Hemd mit einem Fleck am Kragen, die rote Rose in der Hand. Sie war aufgeblüht.

Carmen setzt sich auf den Rand der dampfenden Badewanne, greift nach der neuen Zigarettenschachtel, reißt sie auf. Tastet nach dem Feuerzeug auf der Ablage. Starrt für einige Sekunden in die grelle Flamme, bevor sie eine Zigarette anzündet, tiefe Züge inhaliert. Es ist falsch, aber eine wohlige Wärme breitet sich in ihr aus. Qualmwolken steigen hoch, werden zu Ringen, verlieren sich in Schlieren. Die Luft im Badezimmer ist stickig und heiß. Brennt in ihren Lungen.
Carmen wird ruhig, setzt einen Fuß in die Wanne, lässt sich schließlich ganz in das Wasser gleiten, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. Asche fällt auf den Bauch, während die Haut rot anläuft. Ein wenig sieht man sie schon, die kleine Wölbung.
Sie spuckt erschrocken die Zigarette aus. Sie taucht unter und zählt. Eins, zwei, drei ... zwanzig. Taucht wieder auf, ringt nach Luft. Um sie herum ertrinkt die Asche. Carmen schließt die Augen, hält den Atem an, lässt sich zurück ins Wasser gleiten, versucht, es zu spüren. Das Ungeborene. Durch die Badewanne hört sie das Gemurmel der Krügers. Sie kommt wieder hoch, prustet. Die Haare kleben auf den Schultern, die Asche verstreut auf ihrem Körper, sammelt sich im Bauchnabel und in der Furche knapp über ihrem Schambereich.
Tief in ihr, da gibt es diese Stimme, die ihr sagt: »Geh! Renn so schnell du kannst!«
Und dann ist dort seine Stimme, die ihr sagt: »Es wird nie wieder passieren. Dieses Mal schaffen wir es sicher. Du, ich, das Kind.«
Und wieder spürt sie seine Hand auf ihrem Bauch, wie er darüber streichelt und von seinem Sohn erzählt. Seine Worte, seine Berührungen sind wie ein Wattebausch, der die andere Stimme verdrängt. Er wird sich ändern. Er bemüht sich doch. Er ist seit einer Woche trocken und … Stöhnend lehnt sie ihren Kopf am Wannenrand an. Erinnerungsfetzen rasen durch ihr Gehirn.

Es war ihr sechszehnter Geburtstag. Sie feierte, als wäre es der letzte Tag ihres Lebens. Sie wollte tanzen. Einen Tanz nach dem anderen; die Freundinnen verließen das Scheunenfest längst. Er trat aus der Menge hervor. Groß mit dunklen Augen und tiefschwarzen Haaren. Unter dem viel zu engen Hemd zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab.
In dieser Nacht zeugten sie ihr erstes Kind. Im Stroh. Ihre Eltern gaben nur unwillig die Zustimmung zur Heirat, aber sie war sich sicher. Es war das Gefühl, das man hat, wenn einem die Person begegnet, mit der man den Rest seines Lebens verbringen will.

Carmen säubert die Furche am Unterleib von der Asche. Das Kind kam nicht lebend zur Welt. Und nach ihm kein anderes.
Manchmal da stellt sie sich vor, wie es wäre mit den Söhnen und Töchtern. Ob sie eine gute Mutter wäre und Alexander ein guter Vater? Vielleicht hätten diese Kinder alles verändert. Ihrem Leben einen Sinn gegeben und Alexander etwas, worauf er stolz sein könnte. Nach den Fehlgeburten war er stets sehr aufmerksam. Brachte ihr Blumen und Pralinen an das Krankenhausbett. Nur ein einziges Mal fragte eine Schwester, wie es denn sein könne, dass sie bereits zum dritten Mal in der Schwangerschaft eine Treppe hinuntergefallen sei.

Carmen steigt aus der Wanne und schrubbt sich mit einem verwaschenen Handtuch trocken. Fest, sodass die nur halb verheilten Striemen auf dem Rücken aufplatzen und blutige Schmieren auf der spröden Baumwolle hinterlassen.
Für einen Augenblick noch steht sie so da, nimmt sich eine Pause von der Angst. Sie klammert sich an sein Versprechen. Irgendwann würde alles gut werden. Irgendwann würde er den Alkohol hinter sich lassen. Seine Wut. Sie müsste sich nur bemühen. Andere Paare schaffen das doch auch, zusammen alt zu werden. Warum sollten ihnen das nicht gelingen?
Eilig bindet sich Carmen das Haar so, dass der grünliche Kranz um ihr Auge von einer dicken Strähne verdeckt wird. Zur Sicherheit pudert sie das Gesicht und setzt sich eine Sonnenbrille mit rosafarbenem Spiegelglas auf. Dann schlüpft sie in ein rot-weißes Kleid.
Bevor sie aus dem Bad geht, lässt sie das Wasser ab und spült die Asche mit dem Duschkopf weg. Reißt das Fenster auf. Er darf sie nicht riechen, ihre Schwäche. Denn dieses Mal würde alles anders werden. Er versprach es … es liegt an ihr, nicht zu versagen.

Carmen räumt das Gemüse in den Kühlschrank. Auf dem Tisch liegt das Foto vom Ultraschall. Eine gekrümmte Echse mit zwei Armen und so etwas wie Beinen. Auf dem Herd köchelt der Eintopf. Alexanders Leibgericht mit Kartoffeln, Bohnen und viel Wurst. So wie er es mag. Carmen setzt sich an den Tisch zur Echse. Streicht mit dem Daumen über die bleichen Konturen. Der Deckel des Kochtopfs tanzt klappernd auf dem brodelnden Wasser. Schaum läuft den Rand hinab. Carmen schiebt das Foto zwischen einen Stapel Zeitungen, der auf der Wachstischdecke liegt.
Das Türschloss öffnet sich. Schritte im Flur. Schwer.
Eilig wischt sie den Stahltopf mit Küchenkrepp sauber.
»Das riecht gut.« Er lehnt sich gegen den Türrahmen. Seine dunklen Locken umrahmen das vom Bau braungebrannte Gesicht.
»Eintopf.« Carmen lächelt, versucht, das Zucken im Mundwinkel zu unterdrücken. Presst ihre Knie zusammen, während sie den Kochdeckel anhebt. Der Duft von Kartoffeln und Wurst strömt durch die Einbauküche ihrer Mietwohnung im Münchner Westen.
Er kommt näher. Umschlingt ihre Taille. »Heute ist ein besonderer Tag.«
Mit einem Ruck hebt er sie an und dreht sich mit ihr im Arm um die eigene Achse.
Tropfen fallen vom Kochlöffel auf den Boden, hinterlassen Spritzer an den Schranktüren. Sie ringt kurz nach Luft. »Mir wird schwindelig ...«
Er setzt sie ab. Drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich habe etwas mitgebracht.« Alexander verschwindet durch die Küchentür.
Carmen reißt ein Stück Krepppapier ab, bückt sich, wischt hastig die Suppenflecken von den Fliesen und Küchenschränken.
Seine Schritte kommen wieder näher. Sie zerknüllt das Papier, hält es in ihrer Hand hinter dem Rücken. Öffnet die Schranktür umständlich mit einer Hand und schiebt die andere zum Mülleimer durch.
Er ist zurück. Steht so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem spürt. Hält eine Folie mit Dokumenten in den Händen und eine Schachtel Pralinen. »Dreimal darfst du raten, wer heute den Job bei Schlüter in der Fabrik bekommen hat!«
Sie schließt leise die Schranktür hinter ihrem Rücken, presst eine Hand vor das Herz. Lächelt. »Das sind ja wunderbare Nachrichten!«
Alexander nimmt den Stapel Zeitungen vom Küchentisch und wirft ihn achtlos in eine Ecke. Lässt sich auf einem Stuhl nieder. »Komm her!«
Carmen dreht die Herdplatte ab. Geht zu Alexander. Setzt sich auf seinem Schoß, betrachtet die Schachtel mit den Pralinen.
»Die magst du doch so gerne.« Er streicht ihr durch das Haar, küsst ihr Ohrläppchen.
Sie riecht seinen Atem, den Hauch von Moschus. Sagt nichts, nickt. Drückt ihre Hand vor den Bauch. Er legt seine Hand darüber. »Das wird mein kleiner Sohn.« – Oder unsere Tochter, denkt sie.
»Das Essen ist fertig«, sagt sie. Erhebt sich und holt die Suppenteller aus dem Schrank.
Nach dem Essen geht er ins Bad. Carmen stellt das Geschirr in die Spülmaschine. Sie bleibt in der Hocke sitzen, seufzt und schließt die Augen. Er ist weg vom Bau, von seinen Jungs, vom Bier, vom Schnaps. Es wird alles gut. Endlich alles gut.
Er kommt wieder in die Küche. In seiner Hand die Schachtel Zigaretten. Leckt sich über die Lippe. »Was ist das?«
Carmens Beine werden weich. »Die Krüger war heute hier. Irgendetwas stimmt mit ihrer Toilette nicht. Als sie ging, roch es nach Zigaretten. Habe das Fenster aufge...«
»Die Krüger raucht in unserem Bad?« Alexander sucht ihren Blick.
Carmen zuckt mit den Schultern, starrt in seine braunen Augen. »Vielleicht ist sie ja deshalb gekommen. Damit ihr Mann nichts riecht. Ich lasse sie nicht mehr rein.«
Für einen Moment fixieren sie einander. Es ist still. Dann zuckt er mit den Schultern. »Die Alte«, sagt er und wendet sich ab. »Geh fernsehen«, murmelt er.
Carmen lehnt sich am Kühlschrank an. Atmet. Hält die Hand vor ihr pochendes Herz. Atmet. Richtet sich das Haar, zieht die Strähne über ihrem Auge zurecht. Sie verlässt die Küche, schließt die Tür hinter sich.

»Na, wos wird 's denn?« Die alte Krüger hat Flurwoche. Stützt sich vor ihrer Wohnungstür auf dem Wischer ab. »A Dirndl oda a Buab?«
Carmen stellt die Einkaufstaschen ab. Stützt ihren Bauch. »Ein Mädchen.«
»Do werd aba da Mo scho stolz sein.« Die Nachbarin hebt die Augenbrauen an und lacht. Ihr fehlt ein Zahn in der unteren Reihe.
»Er weiß es noch gar nicht.« Carmen nimmt die Taschen wieder auf. »Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.«
Die Alte nimmt den Wischer und schüttelt den Kopf. »Jung miassad ma wieda sein.«

Carmen kommt in der Wohnung an. Sie müsste sich mit dem Essen beeilen, bleibt stehen. Riecht einen Hauch von Moschus in der Wohnung. »Alexander?« War er schon von der Arbeit zurück? Sie geht in die Küche.
Die Wohnzimmertür öffnete sich, es klappert. »Carmen!« Es war mehr ein Lallen als ein Rufen. Schnell stellt sie sich mit dem Rücken zum Kühlschrank.
»Carmen!«
Ein Schatten zeigt sich an der Küchentür. »Warum antwortest du nicht?«, fragt Alexander. Er trägt ein verschwitztes Unterhemd; sein Atem riecht nach Schnaps.
»Ich war einkaufen.« Carmens Herz schlägt laut, als er auf sie zukommt, sie an den Kühlschrank presst, ihr fest an den Po fasst.
»Ich will was ganz anderes«, sagt er und zieht sie näher an sich, drückt seine Lippen auf ihren Mund, schiebt seine Zunge in ihren Rachen. Sie schmeckt den Schnaps. Scharf. Herb.
»Lass mich.« Carmen drückt ihn sanft zurück. »Du hast getrunken. Du wolltest doch ...« Jetzt bloß nichts falsch machen. »Setz dich doch. Ich koch uns ...«
»Willst nicht mehr ficken, was?« Er zeigt seine gelben Zähne. Verzieht seinen Mund. »Ist das Ding in dir, nicht wahr?« Sein Kopf wird rot.
Carmen stockt der Atem.
»Ich werd’s dir zeigen. Willst nicht mehr mit deinem Mann ficken?« Er greift ihr in die Haare, zieht sie nach vorne. Carmen verliert das Gleichgewicht, landet am Boden. Er schleift sie über die Fliesen.
Sie kämpft sich hoch. Kniet vor ihm. Atmet schwer. Fühlt sich an den Bauch, spürt Tritte in sich. »Geh schon einmal vor. Ich komme. Ich gehe nur kurz ins Bad.« Sie schaut ihn an. Er fährt sich durch das schweißnasse Haar, seine Pupillen sind wässrig.
»Es wird alles gut.« Sie japst.
Er dreht sich weg, torkelt Richtung Schlafzimmer. Sie tastet sich an der Wand entlang, greift zur Badezimmerklinke. Hinter ihr ein Aufschrei. Sie drückt die Klinke herunter. Ein Schlag vor ihrem Ohr lässt sie zu Boden sinken. Es rauscht und piept. Für einen Moment wird ihr schwarz vor Augen. Sie spürt, wie er sie an den Schultern packt. Sie vor die Wand schleudert und seinen Fuß in ihren Unterleib drückt. Ein Stechen geht durch ihren Körper. Ihr Mädchen tritt sie heftig. Ein weiterer Schlag trifft sie im Gesicht. Metallischer Geschmack bildet sich in ihrem Mund, etwas Warmes läuft über ihr Kinn. Er zieht sie an den Haaren hoch, greift unter das rot-weiße Kleid, reißt ihr den Slip herunter. Wurschtelt an seiner Hose rum. Sie hört den Reißverschluss oder doch nur das Fiepen in ihrem Ohr. Sie weiß es nicht. Ihre Nase schmerzt. Immer mehr Blut rinnt über ihr Gesicht. Er schreit sie an. Sie versteht nicht mehr, was er sagt. Tränen laufen ihr über die Wangen. »Du hast es versproch...«
Seine Finger greifen nach ihrer Vulva. Unbeholfen. Er lässt von ihr ab. Dann stößt er sie zur Seite. Tritt auf sie ein. Gleichzeitig spürt sie etwas Hartes, Kaltes im Gesicht. Sie braucht einen Moment, um zu verstehen, dass es der Schuhanzieher ist, der an der Garderobe lehnte. Sie beginnt zu husten, Speichel, Blut ... sie möchte ihren Bauch schützen, doch er sitzt mittlerweile auf ihr, fixiert ihre Arme mit den Knien, sein Körpergewicht auf ihrem Bauch. Er springt auf und lässt sich auf sie fallen. Immer wieder. Sie hält die Luft an und beginnt stumm zu zählen: »Eins, zwei ... zwanzig.«

Drei Wochen in Großhadern sind eine lange Zeit. In der Wohnung riecht es nach Zigaretten und billigem Fusel. In der Küchenecke stapeln sich die Zeitungen. Sie hätte nur eine Stunde, bis er von der Bundesagentur zurückkäme. Er verlor schon wieder seinen Job. Und wieder versprach er, alles würde nun anders werden. Carmen fährt sich mit der Hand über den flachen Bauch, zuckt zusammen, als der Druck zu groß wird. Müde schließt sie die Augen. »Alexander«, flüstert sie. Wo auch immer er war, er würde nicht mehr zurückkommen, der Mann, mit dem sie in ihren Träumen die Nacht durchtanzte. In ihrer Hosentasche knistert die Karte mit der Adresse, die ihr die Krankenschwester zuschob.
Er war die letzten Tage sehr nett. Brachte Rosen ins Krankenhaus und Pralinen. Jeden Tag. Entschuldigte sich. Eine Rose steckte in einer leeren Schnapsflasche.
»Meiner war auch so«, sagte die Krankenschwester. »So aufmerksam und galant. Ich brauchte fünf Jahre, um ihn anzuzeigen.«
»Ich kann das nicht. Wo soll ich denn hin?«, sagte Carmen. Wer wollte sie haben? Ohne Schulabschluss oder Berufserfahrung.
»Eines Tages wird er Sie umbringen, nicht nur das Kind.« Die Krankenschwester zeigte ihr den Daumen. Er war steif. »Fast hätte er mich berufsunfähig geschlagen. Er war Arzt, ist es vielleicht immer noch.« Sie reichte ihr eine rote Karte. »Dort wird man Ihnen helfen. Trauen Sie sich. Es ist nicht Ihre Schuld.«

Carmen öffnet die Augen, verlässt die Küche, das Hochhaus. Es ist nicht ihre Schuld. Sie trägt einen roten Mantel, der ihren Körper umhüllt, die Augen versteckt hinter einer schwarzen Sonnenbrille. Den Stapel Zeitungen wirft sie ins Altpapier. Schlägt den blauen Deckel krachend zu.
Sie schaut sich nicht um, sondern läuft dem Bus Richtung Bahnhof entgegen, der in die Wendeschleife einfährt. Es riecht nach Benzin und Asphalt. Die Tasche, noch gepackt vom Krankenhaus, wiegt schwer an ihrer Schulter. Sie fühlt sich leicht, allein, aber seltsam leicht.

 

Liebe @Maedy,

äußerst lesenswert. Hatte ja schon bei Deiner letzten Story Deine Aufmerksamkeit gegenüber den Figuren gelobt, Deine Sorgfalt und Dein Geschick, die richtigen Worte zu finden. Leider (das betrifft nicht den Umfang Deiner Geschichte) kommt "nur" die Wirkung zur Sprache - nicht die Ursache. Ginge ja auch zu weit; es ist ja kein Report über die Gewalt der Männer an Frauen, sondern "nur" eine Geschichte.
Als vor Jahren in Indien ein Mädchen von sechs Männern zu Tode kam durch Vergewaltigung, (Vier Männer wurden darauf verurteilt und gehängt) da kam in den Medien, dass 60% der Frauen in Deutschland sexuelle Übergriffe, 40% sexuelle Gewalt erlebt haben. Dafür gibt es keine Entschuldigung, dafür gibt es keine Rechtfertigung, keinen Grund. Ich sehe dieses "Fehlverhalten" des Mannes als eines in Kauf genommenes "Kavaliersdelikt" an, weil wir immer noch diese unsägliche Vorherrschaft des Mannes akzeptieren, ja, das Rollenbild hochhalten. Ich brauche es nicht aufzählen; Du kennst die Bilder. Bei einem dieser Bilder - Alice Schwarzer und Wagenknecht - Aufruf zur Demo gegen den Krieg - wurden sie von der männlich geprägten Presse in eine Rolle bugsiert, die sie lächerlich aussehen lassen sollte. Ich selbst erlebe das persönlich, wenn ich (öffentlich) die Meinungen von Frauen teile oder befürworte. Früher am Arbeitsplatz wurde oft gespöttelt, ich sei ein Frauenversteher oder ähnliches - nein, nicht angegriffen, aber belächelt. Es hat mir nichts ausgemacht, aber mir gezeigt, wie tief die Wurzeln reichen. Der Mann sieht (immer noch) die Frau nicht unbedingt auf Augenhöhe. Ja, klar, die Grenzen verwischen - wo ziehe ich die Linie. Aber: Gott hat die Welt erschaffen in 6 Tagen und alles, was da lebt und fleucht, kommt direkt von ihm. Nur die Frau, die kam aus Adams Rippe, also ist ein Teil des Mannes. Ja, sagen viele, das ist doch nur theologisch. Aber das ist das vermittelte Weltbild des Christentums und in anderen Religionen klingt das nicht viel besser. Ein Mann hat vor 2000 Jahren gesagt, liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst und dafür haben sie ihn getötet, weil sie das nicht aushielten. Und als Strafe hat die Kirche diese abscheuliche Tötungsart in jede Kirche, in jede Schule, in jedes Haus gehängt. Seht, wie es ihm erging, der das Wort Liebe gepredigt hat. So weit, so tief greifen die Wurzeln. - sorry, ich texte Dich da zu, aber mit diesem Hintergrund las ich Deine Story und sie ist ehrlich, nicht schockierend, denn es ist die Realität, wie sie (immer noch) stattfindet. Sich dem stellen ist die Aufgabe, es benennen, es aufzeigen und - auch Lösungsvorschläge aufzeigen, aber da tut sich unsere Gesellschaft etwas schwer damit.
Anyway - super Thema und wieder hervorragend beschrieben, geschrieben, gefühlt.
Beste Grüße
Detlev

 

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