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Kreis mit Kreuz: Isabel
I.
»Nein, was du nicht sagst? So ein Arschloch! Sag' mir Bescheid, wenn ich es tun soll! Ich fahre gleich morgen bei ihm vorbei, Schätzchen, du Arme! Wer hätte das gedacht? Wie viele Jahre waren es? Aber ich wusste es gleich. Tom hat euch nie gefragt, ob ihr zu ihm ziehen wollt. Dabei hat er ein Hundertquadratmeterpenthouse in Schwabing! Und du? Tut mir leid, deine Wohnung ist ja nett, aber für Mutter mit Kind ... Und das macht man doch schon aus Anstand: dich und Lisa fragen …« Zitas Stimme dröhnt so laut aus dem Smartphone, dass ich es von meinem Ohr weghalte, während ich die Rolltreppe mit den Frusteinkäufen im OEZ zur nächsten Etage hochfahre.
Ich blubbere etwas, das Zustimmung sein soll, aber in einem Stöhnen verendet. Zita redet sich in Rage wie damals, als Joachim mich quasi am Traualtar stehen ließ, als er zwei Nächte vor unserer Standesamtlichen plötzlich nicht mehr erreichbar war. Ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass sie Veronika heißt und neun Monate später erfuhr ich … ach, egal. Ihr könnte es Euch denken. Und dann war da Hans-Peter, der »Opi«, wie ihn Zita stets nannte. Ich gebe zu, er war älter als ich, viel älter, aber ich dachte, der Mann weiß wenigstens, was er will. Wusste er auch, nämlich drei Jahre später seine zwanzigjährige Physiotherapeutin. Ich redete mir ein, dass das wohl seine Masche sei, aber Pustekuchen, die beiden waren eine Dekade zusammen, bis sein Herzinfarkt sie schied. Aber nichts übertraf Jan-Thorsten, den »Boomerang«. Mit keinem Mann war ich so lange und so oft zusammen. Ich verzieh ihm Rita, Aja, Wanda, Isolde, Olga, wie hieß die kleine Blonde noch einmal? Aber gut, irgendwann machte das Leben mit uns Schluss. Er bekam einen Job in Australien. Außerhalb meines damaligen Urlaubsbudgets. Und ich bekam Lisa, auch außerhalb des Budgets.
»Isabel, Schatz«, ruft es aus dem Smartphone, »du solltest wirklich einmal eine Auszeit nehmen. Zu dir selbst finden. Nicht wieder von eine Beziehung in die nächste. So warst du doch früher nicht!«
Ich grunze etwas ins Smartphone, stolpere am Ende der hochfahrenden Rolltreppe fast über eine meiner Tüten, die ich auf der Stufe vor mir abstellte. »Auszeit«, wiederhole ich. Zita hat mit ihren Yoga-Buddha-Tantra-Weisheiten gut reden. Sie ist seit drei Jahren mit Enrico verheiratet, einem italienischen Botschaftsmitarbeiter mit einem geerbten Haus am Gardasee und einem schicken Cabriolet. Ich dagegen habe soeben einen Großteil meines Gewinns diesen Monat versetzt und werde heute Abend mit einer XXL-Chipstüte heulend vor dem Fernseher einschlafen – nein, stopp. Ich werde heulend alleine vor dem Fernseher einschlafen. Außer Puste von dem Marathon-Shopping lasse ich die Einkäufe fallen, drücke das Smartphone näher ans Gesicht. »Ich muss jetzt Schluss machen, Liebes.« Bevor ich auf die rote Taste drücke, höre ich noch ein aufgeregtes »Isabel« aus dem Handy krächzen. Aber Zita wird mir verzeihen. Wir kennen uns seit der Schule. Sie ist Kummer mit mir gewohnt.
Ich stehe mit der Rolltreppe im Rücken mitten im größten Einkaufszentrum Münchens und fange an zu weinen. Auf einmal kommt es raus, das ganze Aufgestaute: meine unruhigen Nächte, in denen ich mich fragte, ob Tom wirklich auf Geschäftsreise war, die ständigen Anrufe auf sein Handy und wie er mir entglitt. Ich spürte es richtig, dass wir nicht mehr länger Tom und Isa waren, sondern Tom und die schöne Unbekannte und Isa allein in Berg am Laim. Und heute ist der Tag, an dem er mir verkündete, dass Schluss sei. Einfach so. Es hätte jeder beliebige Tag sein können, aber es war heute. Dabei hätten wir eine Woche nur für uns gehabt.
Ich wünsche ihn mir so sehr: den sicheren Hafen, von dem alle reden, als wären wir alle Schiffe auf offener See, die früher oder später vor Anker gehen müssen.
Mein Kahn lief dagegen wieder einmal kräftig auf Grund. Vielleicht lag ich da auch schon die ganze Zeit und redete mir nur ein, auf dem Meer zu segeln. Vielleicht bin ich einfach nicht der Beziehungstyp und steuere diesen Hafen nur an, weil meine Freundinnen dort auch ankern. Ich verdränge den Gedanken, so schnell wie er gekommen ist. Alle Menschen sind Beziehungstypen! Wir sind schließlich von der Evolution auf Fortpflanzung getrimmt?!
Also bleibt mir eine Erkenntnis: Ich schmecke schlechter als Ananas-Gummibärchen. Ich bin das ultimative Grapefruit-Gummibärchen oder noch schlimmer: Hustensaft-Gummibärchen. So eines, das man eine Zeit lang nehmen muss und doch am liebsten ausspucken würde. Und jetzt heule ich erst recht.
»Hey, Sie da!« Ein Schlag in den Rücken lässt mich aus meinen Fruchtgummi-Gedanken aufwachen. Ein Herr in grauem Anzug drängt sich an mir vorbei. Die Leute, die hinter mir die Rolltreppe verlassen wollen, schupsen schließlich mich und meine Tüten beiseite. Sie beachten mich nicht, schauen allenfalls genervt. Nur eine ältere Dame sieht für einen Moment besorgt aus, biegt dann aber in das nächste Geschäft ab. Die Nase hochziehend nehme ich meine Taschen auf und die Rolltreppe nebenan nach unten. Das Shopping ist ohnehin vorbei.
II.
Zuhause angekommen setze ich mich mit den Chips und einer Familienpackung Taschentücher vor den Fernseher. Reiße beides nacheinander auf und stopfe mir anschließend eine Handvoll Kesselchips in den Mund. Die zwischen meinen Beinen geklemmte Tüte knistert bei jeder Bewegung. Während die Couch zukrümelt und sich eine salzig-klebrige Masse zwischen meinen Zähen bildet, zappe ich durch das Abendprogramm. Wie gut, dass Lisa mich so nicht sieht. Ich würde ihr erklären müssen, das Tom nicht mehr kommt. Sie mag ihn. Er brachte oft etwas zum Spielen mit und er ist ein guter Geschichtenerzähler – war ein guter Geschichtenerzählter, jedenfalls für mich und Lisa.
Die Fernbedienung ist schon so fettig wie meine Finger. Krimi, Krimi, Kochsendung, Schlagershow mit einem gegelten blonden Typen … Ich bleibe auf irgendeinen der Dritten an einer Meerlandschaft mit Hügeln hängen. Die Stimme aus dem Off erzählt etwas über Corniches und Socca. Genau an einem solchen Ort sollte ich jetzt sein.
Mein Smartphone klimpert. Kennt Ihr diesen Sternenschnuppen-Sound? Für mich heißt er Zita. Ich zögere, den Blick auf den Fernseher gerichtet, nehme dann aber doch ab und wie auf Abruf rinnen mir die Tränen aus den Augen. »Ich bin ein Hustensaft-Gummibärchen!«, schluchze ich, während ich zeitgleich ungelenk mit der freien Hand meine Nase in ein Papiertaschentuch schnäuze.
»Du bist was?« Zitas Stimme klingt schrill. »Schätzchen, geht es dir wirklich …?«
Eine unsichtbare Hand schreibt weiße Letter im Kalligrafiestil auf den Fernsehbildschirm , bevor ein alter Markt gezeigt wird mit wackeligen Ständen und roten Planen, Bergen von Gemüse, Blumen … traumhaft. Dort will ich hin – sofort, auf der Stelle.
Tapfer reibe ich mir die Tränen aus den Augen, entziffere die Buchstaben auf dem TV und schniefe. »Ich fahre nach Nizza.«
»Was? Isabel?« Jetzt klingt Zita wirklich aufgeregt.
Ich lege auf und stelle das Smartphone ab. Noch mehr Zita-Schätzchen ertrage ich heute nicht. Nizza. Sofort muss ich an den Film von Alfred Hitchcock denken, während dessen Dreharbeiten sich Grace Kelly in den Fürsten von Monaco verliebte … romantisch! Ich schniefe erneut in mein Taschentuch. Und sofort male ich mir aus, wie ich meinen Traummann auf einem Ausflug nach Monaco finde; vor dem Casino steigt er aus einem prähistorischem Rolls Royce in einem weißen Anzug mit Zylinder und Zigarre … nein, den Zylinder und die Zigarre lassen wir weg. Mein Freund soll ja nicht aussehen, als käme er gerade vom Fasching, oder als würde er in drei Jahren an Lungenkrebs sterben.
Aber die Côte d‘Azur, das ist realistisch. Von meiner reisegeilen Schwester Karla weiß ich, dass es Direktflüge von München nach Nizza gibt. Und sie sagt immer wieder, dass wir uns von unserem Erbe auch einmal etwas gönnen sollen. Aber ich bin halt mehr der »Sparfuchs-«, als der »Ich-werfe-mein-Geld-aus-dem-Fenster-Typ«. Ich rufe eine der Flugpreisvergleich-Apps auf dem Smartphone auf. Es ist Herbst. Die Flüge günstig. Perfekt!
Lisa ist zudem über die Schulferien bei ihrer Tante, der anderen, der sesshaften, auf der Hallig gut versorgt. Meine Kunden und Kundinnen können warten. Ich kann tun und lassen, was ich will. Und auf einmal steht für mich fest: Ich werde Zitas Ratschlag befolgen und mir eine Auszeit nehmen. In Nizza.
III.
Die Treppe des Flugzeugs ist steil, die warme Luft des südfranzösischen Indian Summers haut mich fast aus den violetten Pumps. Wie auf Eiern verlasse ich den Flieger und drängele mich in den Rollfeldbus, der nicht nur unser, sondern noch zwei andere Flugzeuge aufnimmt. Der Flughafen von Nizza ist klein und liegt weit ab vom Ortskern. So viel Wissen habe ich mir bereits in München zusammengegoogelt. Ich winke ein Taxi herbei, zumindest ein fescher, neuer Mercedes. Ich lasse mich in die lederne Rückbank fallen, nenne den Namen meines Hotels so gut wie mein français brisé es zulässt. Ich schnappe wieder mein Smartphone; während der Fahrt werde ich mein frisch angelegtes Tinder-Profil aktualisieren. Schließlich bringt es nichts, wenn mich Männer in München suchen und ich in Nizza bin. Und Auszeit hin oder her. Vielleicht gibt es hier ja tatsächlich den Typen mit oder ohne Zylinder.
Auf einmal merke ich, dass mich der Taxifahrer immer noch anstarrt.
»Hôtel de la Solitude, s‘il vous plaît«, wiederhole ich so langsam und akzentuiert, wie es mir möglich ist. Der Taxifahrer nickt und fährt in die aufkommende Dunkelheit; irgendwann macht er so viele Biegungen, dass ich nicht mehr weiß, wo ich mich befinde. Jedenfalls waren wir kaum zehn Minuten unterwegs. Als er anhält, sich umdreht und freundlich lächelnd »Cinquante euros, fifty euros« sagt, bleibt mir fast die Spucke weg, aber zähneknirschend zücke ich einen Fünfziger und werfe ein Zwei-Euro-Stück dazu. Ich quäle mich mit meinem Handgepäck von der Rückbank und stehe vor dem beigen Hotel mit ziemlich wacklig ausschauenden Balkonen. »Home, sweet home«, denke ich laut, doch weiß ganz genau, dass es das ist, was ich jetzt brauche. Einen Ort zum Abtauchen. Mein Vater hätte sich über meine Hotelwahl aufgeregt. Er stieg immer nur in den besten Häusern ab. Meine Kindheit bestand aus Swimming-Pools mit Bergkulisse in der Schweiz, marmornen Hotelhallen in Dubai und weißen Karibikstränden. Ich schmunzle. Vielleicht fällt meine Wahl deswegen auf Häusern wie diese, in denen sich kaum einer um einen kümmert und man nicht ständig von einer Servicekraft mit Cocktail-Tablett verfolgt wird. Einfach perfekt.
Im Hotelzimmer angekommen, inspiziere ich erst einmal die in der Hotel-App niedergemachte Mini-Dusche, die lediglich mit einem Vorhang vom Raum abgetrennt ist. Sie ist sauber. Mehr will ich gar nicht. Das Bett, im typischen französischen Presswurst-Stil arrangiert, ist groß genug für zwei. Ich verdränge den innerlichen Seufzer und lasse mich auf die Laken fallen, schnappe das Smartphone und öffne Tinder. Ich wische die ersten fünf Typen weg, der sechste scheint okay zu sein, doch auch ihn wische ich beiseite und dann bleibe ich an dem Bild eines dunkelgelockten Mannes mit stahlblauen Augen hängen. Er trägt ein Tennisoutfit samt Schläger und ein Haarband. Ich wische in die andere Richtung und erst einmal passiert – nichts.
Ich schnappe mir mein Buch, lese drei, vier Seiten. Ich habe den rosa Schinken mit Glitzerschrift noch schnell am Flughafen erstanden. Die Geschichte von Amelie zwischen zwei Männern sprach mich irgendwie an, genauso wie die Tatsache, dass ich bereits beim Lesen des Buchrückentextes wusste, welcher der beiden Auserwählten am Ende als stolzer Sieger aus der Dreihundertseitenschlacht hervorgehen würde. Das Cover zeigt eine Hochzeitstorte mit zwei Händen, die weibliche ist von der muskulös männlichen fast verdeckt, nur der goldene Ehering blinkt, haptisch hervorgehoben, die Lesenden an. Seufzend starre ich auf das Buch. Wann endlich ist es bei mir soweit? Wo wartet das fehlende Gummibärchen? Als Studentin habe ich mich noch lustig über Frauen gemacht, die solche Schmachtfetzen lesen. Doch dann heiratete eine Freundin nach der nächsten und aus ausgelassenen Clubabenden mit Hugo und Aperol Spritz wurden Treffen im Café um die Ecke mit Kinderwagen und Milchfläschchen. Und auf einmal fühlte ich mich, als müsste ich noch schnell aufspringen auf diesen Zug. Und wie ich aufsprang. Gleich mehrere Male und irgendwann saß ich dann selbst mit einem Kinderwagen im Café, nur dass er wie ein ICE Sprinter ohne mich nach Australien weiterfuhr.
Es piepst. Tinder. Schnell werfe ich den Lesestoff beiseite und öffne ich die App.
»Hi! Machst Du auch Urlaub in Nizza?«, steht dort.
Ich schaue auf das Handy. Grinse. Der Tennismann.
»Ja, eine Woche Auszeit am Meer :-)«, tippe ich.
»Wenn Du wegen des Meeres hier bist, wirst Du enttäuscht werden.«
»???«
»Steinstrand. Äußerst schmerzhaft ;-)«
Steinstrand. Davon hatte ich im Bericht gehört. Aber nicht wirklich darüber nachgedacht.
»Ich habe gute Hornhäute :-D«, schreibe ich zurück.
»:-D – das können wir ja morgen einmal ausprobieren.«
Ich zögere. Will ich das tatsächlich? Gleich am ersten Urlaubstag einen Mann daten? Obwohl, vielleicht ist das Schicksal! Ob ihm ein Zylinder steht? Ich schmunzle den Gedanken weg. »Ich habe für den Vormittag schon etwas vor, aber ab ca. 17:00 Uhr hätte ich Zeit für Strandbesuch und Hornhauttest.«
»Prima! Treffen wir uns in einem der Cafés an der Promenade des Anglais auf Höhe des Negresco. Ich heiße übrigens Per.«
Negresco! Das muss ein Omen sein, denke ich. Das Hotel aus dem Hitchcock-Film und zudem die teuerste Adresse in Nizza. Papa wäre stolz auf mich. »Klingt nordisch Dein Name…«, tippe ich.
»Yau, bin ein Hamburger Jong«
»Und ich ein Münchner Dirndl :-). Isa, heiße ich übrigens. Eigentlich Isabel. Aber alle nennen mich Isa.« Außer Zita.
»Hallo Isa, ich freue mich.«
»«
Am nächsten Morgen bin ich ziemlich früh wach. Das karge französische Frühstück kommt mir gerade recht, denn ich kann es gar nicht erwarten, mir die Marktstände in der Innenstadt von Nizza anzusehen und mich durch diese zu schlemmen.
Ich gehe Richtung Promenade des Anglais und atme die salzige Meeresluft ein. Es ist etwas diesig, aber bereits wohlig warm. Ich wechsle die Straßenseite und lasse mich auf einen der zahlreichen blauen Stühle fallen. Am Strand ist kaum jemand unterwegs. Wie hypnotisiert starre ich in das teils türkise, teils dunkelblaue Wasser. Für einen Moment kreuzt Tom meine Gedanken. Ich mochte sein Lächeln, seinen Geruch. Etwas in mir will immer noch nicht glauben, dass es vorbei ist. Wir tatsächlich keine Chance mehr haben. Ich löse mich vom Anblick des Meeres.
Ich bin jetzt hier! Eine Woche Zeit, ins Meer zu sehen, Rotwein zu trinken, Käseplatten zu genießen und mit einem der E-Leihfahrzeuge die Corniches abzufahren. Ich wiederhole es wie ein Mantra: Isa ist allein in Nizza. Aber meine innere Stimme antwortet mir: Und Tom ist mit seiner Neuen in München.
Ich navigiere mich mit meinem Smartphone durch die Altstadt von Nizza. Die Menschen, die am Strand fehlten, scheinen sich hier zu versammeln. Ich drängele mich durch die Menge, vorbei an duftende Oliven, Orangen, Zitronen, Basilikum, Mangold und getrocknete Lavendelsträuße. Die Gerüche und bunten Farben unter den roten Planen überfordern mich. Mir wird leicht schwindelig von all den Eindrücken. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit Schauen, Probieren, Fotografieren … Während ich durch die Gassen treibe, sehe ich einen jungen Mann mit langen schwarzen Locken, einem Grübchen am Kinn und einem leichten Oberlippenbart. Er ist braun gebrannt und ganz in weiß gekleidet. Ich grinse. Er erinnert mich an den Mann aus meinen Tagträumen. Eigentlich fehlen ihm nur noch der Zylinder und der Rolls Royce. Er redet mit einer der Marktfrauen, lacht. Sicher nur ein französischer Gigolo. Früher hätte ich ihn angesprochen. Immer bereit für ein Abenteuer, wie Zita mich neckte, wenn ich wieder einmal nach einer heißen Clubnacht verschwunden bin. Aber jetzt bin ich Mutter. Eine Mutter ohne den dazugehörigen Vater. Ich wende mich ab. Gehe weiter zwischen den Ständen entlang, immer meiner Nase nach. Vor einem Stand bildet sich eine lange Schlange. Auf einem Holzschild steht »Socca«. Ich erinnere mich an dem Bericht im Fernsehen und stelle mich an. Es duftet. Die Menschen vor mir, die bereits eine der crêpesartigen Fladen in den Händen halten, bekommen einen seligen Gesichtsausdruck. So einen möchte ich auch, unbedingt.
IV.
Vor dem kleinen Spiegel in meinem Hotelzimmer binde ich meine blonden Locken zu einem lockeren Dutt. Ich trage ein langes weißes Kleid, das ich letzten Sommer kaufte und noch nie trug, da Tom keine wallenden Kleider an mir mochte.
Ich binde noch ein weißes Schleifenband um den Dutt. Das gibt mir etwas mädchenhaftes mit meinen fünfundvierzig Jahren. Ich seufze, gehe schnell noch zur Toilette und wechsle mein Tampon. Meine Tage werden seit einigen Monaten kürzer. Die Hormone stellen sich auf den Exit ein. Lisa wird vielleicht mein einziges Kind bleiben. Lisa mein Zitronenbärchen. Wie gerne hätte ich ihr ein Waldmeisterbrüderchen oder eine Himbeerschwester geschenkt. Eine echte Familie. Ich hätte auch die Rolle des Ananasbärchens übernommen, wie Lisa mich ohnehin schon manchmal neckisch nennt, weil sie vermutlich meint, ich würde diese mögen. Dabei esse ich die klaren Klebedinger als Muttertier nur, damit die leckeren für Lisa übrig bleiben.
Ich blicke in den Spiegel. Ist unser Leben wirklich so unglücklich?
Wenn ich ehrlich bin: Lisa fragt nie nach einem kleinen Bruder oder ein Schwesterchen. Sie ist dicke mit Annika, der Nachbarstochter, und mit Heide, ihrer Cousine auf der Hallig. Sie hängen ständig vor Skype und tuscheln über Dinge, die wir Mütter nicht wissen sollen. Sie mochte Tom, aber sie fragte nie danach, ob Tom ihr neuer Papa werden würde. Vielleicht ist diese heile Familie, dieser sichere Hafen, die Gummibärenbande tatsächlich nur mein Traum. Ich krame Schuhe aus dem Koffer.
Zurück an der Promenade des Anglais finde ich das kleine Lokal sehr schnell, dessen Adresse mir Per vor einigen Stunden schickte. Ich finde ihn sofort, den Mann vom Tinder-Profil. Per sitzt zurückgelehnt auf dem Bistrostuhl. Seine schwarzen Locken sind etwas kürzer als auf den Fotos, ringeln sich aber charmant auf seiner Stirn. Die Schläfen glänzen leicht silbern. Ich kann es kaum fassen: Er sieht toll aus. Ich lächele, als er seine Blick von der Karte löst und mir zuwinkt. Bevor ich den Tisch erreichen kann, springt er auf und haucht mir französische Küsse auf die Wangen.
»Per«, sagt er, wartet bis ich sitze und lässt sich schließlich selbst wieder, mir gegenüber, nieder.
Ich hebe die Schultern, versuche ein Grinsen wegzupressen und piepse schließlich: »Isa.«
»Und, wie gefällt es dir in Nizza? Hast du schon den Steinstrand inspiziert?« Seine Augen sind blau und groß und ich meine, die Ränder von Kontaktlinsen sehen zu können.
Ich lecke mir über die Lippen. »Bislang ganz gut. Ich habe Socca probiert.«
»Sokker? Fußball?« Er kneift seine blauen Augen leicht zusammen.
Ich schüttele schnell den Kopf. »Nein, nein … diese Fladen aus Kichererbsenmehl. Sie sind …«
»Achso. Was zum Essen.« Er wirkt erleichtert.
»Kein Fußball.« Ich kichere. »Diese himmlischen Fla…«
»Hätte irgendwie auch nicht zur dir gepasst.« Er sieht mich intensiv an.
»Warum nicht?«, frage ich. Für einen kurzen Moment bin ich irritiert.
»Männersportart.« Ich merke, wie seine Blicke meine nackten, schlanken Arme entlang gleiten.
»Meine Tochter spielt seit letztem Sommer Fußball«, sage ich, beobachte ihn.
»Du hast eine Tochter?« Er klingt ganz souverän. Gar nicht erschrocken.
»Ja, Lisa. Sie ist neun.« Das läuft doch super. Gleich reinen Wein einschenken ist doch die beste Strategie. Tom habe ich es viel zu spät erzählt. Das brachte uns die erste Krise ein, bevor unsere Beziehung richtig losging. Auch, wenn Tom sich dann als Glücksgriff … nein, stopp … das ist vorbei.
»Und sie ist nicht hier, deine Tochter?« Die Frage wirkt aufrichtig interessiert.
»Sie ist mit meiner jüngeren Schwester Karla zu meiner älteren Schwester Martina an die Nordsee gefahren oder besser gesagt in die Nordsee. Meine Schwester wohnt auf einer Hallig.«
»Du bist also ein Sandwichkind.« Er richtet sich auf, so als hätte er eine große Erkenntnis gewonnen.
»Ja, Beschützte und Beschützerin zugleich.« Ich zucke mit den Schultern.
Er lacht, nickt. »Von beidem das Beste, also. Das heißt, du bist gar kein echtes Münchner Kindl?«
»Doch, doch. Aber unsere Eltern haben Wert darauf gelegt, dass wir Hochdeutsch sprechen. Ich bin in so einer Art Privilegiertenghetto aufgewachsen. Mit Privatschule und so.« Ich werde leicht rot. Es ist mir bis heute peinlich, hinter den Mauern von Grünwald aufgewachsen zu sein. »Meine Schwester hat dann einen Landwirt geheiratet, der eine Hallig bewirtschaftet. Nach seinem Tod hat sie einfach weitergemacht. Sie ist tough.«
»Und das war im Sinne der Eltern?« Er hüstelt, als hätte er sich verschluckt. »‘Tschuldigung.«
»Meine Eltern sind bereits tot. Sie haben das alles gar nicht mehr mitbekommen. Autounfall. Meine Schwestern und ich waren noch am Studieren.«
»Oh, das tut mir leid. Und dein – Mann?« Jetzt wirkt er verunsichert.
»Ich war nie verheiratet. Lisas Vater war … eine sehr lange Beziehung.«
»Vermisst – Lisa ihren Vater sehr? Vielleicht deshalb Fußball?«
Ich schüttle den Kopf. »Mein Ex, Lisas Vater ist wirklich nicht sehr sportlich. Und sie kennt ihn so gut wie gar nicht. Er bekam vor ihrer Geburt eine einmalige berufliche Chance. In Australien. Wir lesen seinen Namen nur noch im Betreff der Unterhaltszahlungen.«
»Australien. Das klingt gut.« Per pfeift leise. »Da bist du nicht mitgegangen?«
Ich schüttle den Kopf. Vielleicht etwas zu energisch. Per soll ja nicht glauben, ich wäre nicht bereit, für meine große Liebe umzuziehen. »Nein, ich war für Australien damals etwas knapp bei Kasse. Meine Schwester hatte ja ihren Mann verloren und ich habe ihr einen nicht unerheblichen Teil meines Erbes geliehen. Außerdem dachte ich damals, dass ich selbst die große Karriere in der Marketing-Agentur machen würde, in der ich arbeitete.«
»Dachte?«
»Ja, ist alles anders gekommen. Ich bin jetzt selbstständig. Als Grafik-Designerin. War für mich der besser Weg. Und was machst du?« Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Über meinen glanzvollen Abgang bei Hahnentritt und Jahnke möchte ich jetzt gerade nicht reden.
»Ich bin Proktologe. ich habe ein private Praxis in der Hamburger City.«
»Proktologe, das ist …?«
»Darmkrebsvorsorge, vor allem.«
»Ah, klingt – spannend.«
»Ist sehr rentabel jedenfalls.« Er lacht. »Was magst du essen? Die Esgarcot sind hier fabelhaft.« Er schaut in die Karte, die uns zwischenzeitig ein Kellner hinlegte.
Ich krame mein Französisch zusammen. »Esgar… das sind Schnecken, nicht wahr? Ich habe ein kleines Schneckentrauma, seitdem ich gesehen habe, wie meine Schwester sie mit Salz bestreut hat, um den Hallig-Salat zu schützen.«
»Oh.« Jetzt wirkt er enttäuscht. Ein Gourmet, also. Ich muss mir wohl besonders viel Mühe geben. Aber Fisch geht ja eigentlich immer. »Ich glaube, ich nehme den gemischten Salat mit dem Lachs.« Ich klappe die Karte zu.
Er wirkt immer noch enttäuscht. Vielleicht klingt Salat zu sehr nach Kalorienphobie?
Wir bestellen beim Kellner, das heißt, er bestellt, und zwar im perfekten Französisch. Etwas eingeschüchtert frage ich: »Wo hast du so gut französisch gelernt?«
»Zwei Semester Paris und zwei Jahre in einem Krankenhaus in Lyon.«
»Interessant. Das war sicher eine spannende Zeit? Mein Französisch ist etwas eingerostet. Das ist auch zugegebenermaßen nicht nur mein erster Besuch in Nizza. Ich war noch nie in Frankreich.«
»Wirklich nicht? Da hast du aber einiges nachzuholen. Nach Paris muss du unbedingt einmal.«
»Das stimmt wohl. Meine jüngere Schwester Karla sagt das auch immer; ich bin nicht so die Wanderratte. Mit meinen Eltern reisten wir viel. Das reicht eigentlich für ein Leben.«
Er schmunzelt. »Nein, eine Ratte bist du ganz und gar nicht. Eher eine Taube.« Seine weißen Zähne blitzen mit seinen blauen Augen um die Wette. Ich lehne mich zurück. Leute, das hier ist ganz sicher das beste Tinder-Date, das es jemals gab.
V.
Hätte es mir jemand vorher erzählt, ich hätte nicht geglaubt, dass drei Tage Nizza so schnell vergehen können. Mit Per erscheint alles so leicht. Er ist belesen, klug und charmant. Ich finde einfach keinen Haken an ihm, außer vielleicht, dass er kein Socca mag, das himmlischste Streetfood, das ich jemals gegessen habe. Per biss nur einmal in den Fladen aus Kichererbsenmehl, um festzustellen, dass dieses »orientalische« Zeug nicht sein Ding ist. Stattdessen führte er mich jeden Abend in ein anderes Restaurant aus und versucht mich, von Seeigeln, Schnecken und Muscheln zu überzeugen. Noch verweigere ich mich beharrlich, aber ich merke, wie meine Schale bröckelt. Ein wenig erinnert Per mich an meinen Vater, der immer sagte, dass ich alles probieren müsse, bevor ich entscheiden könne, dass ich es nicht mag.
Trotzdem ist da dieses Gefühl, dass alles etwas schnell geht. Per drängte gestern darauf, dass wir heute nach Monaco fahren, aber ich war bislang kaum eine Stunde alleine. Und eigentlich bin ich deswegen nach Nizza: um Zeit für mich zu haben. Zita machte mir am Telefon schon Vorwürfe. Per sei nur die nächste Seifenblase, der ich hinterherrennen würde. Es fühlt sich aber so gar nicht nach Urlaubsflirt an. Trotzdem habe ich mich mit einer Ausrede davon geschlichen. Migräne – von der Regelblutung, die neuerdings nach drei Tagen endet. Aber das wusste Per ja nicht.
Jetzt sitze ich hier alleine in Cannes und starre in das blaue Meer. Die Wechseljahre sind schon eigenartig. Hitzeschauer, Stimmungsschwankungen. Ist es eine Stimmungsschwankung, dass ich Per heute nicht sehen will? Oder stehe ich nur unter dem schlechten Einfluss von Zita? Oder Karla, die mir Cannes als schönste Stadt an der Côte d‘Azur anpries.
Ich atme noch einmal durch. Dann stehe ich von der Mauer auf, die das Meer säumt. Cannes soll eine tolle Stadt zum Shopping sein, sagt auf jeden Fall Karla.
VI.
»Ohweh«, stöhnt Zita ins Telefon, »nach dem Opi, dem Boomerang und dem Arschloch nun Tinder-Man?«
»Er ist nicht Tinder-Man«, verteidige ich einmal wieder meine neue Eroberung. »Er ist Arzt und er hat ein Jakuzi im Garten. Du solltest einmal sein Haus sehen. Eine echte Villa …«
»Ich denke, du verabscheust Villen, nachdem du zwischen den Mauern von Grünwald aufgewachsen bist.«
Ich ziehe mir ein buntes Sommerkleid mit Blumendruck über, während ich das Smartphone zwischen Kinn und Schulter festklemme. »Es geht ja nicht nur um mich, sondern auch um Lisa. Sie hat ein stabiles Zuhause verdient.«
»Erzähle doch keinen Unsinn. Die Lisa würde Luftsprünge machen, wenn du zu Martina auf den Hallig-Hof ziehen würdest, aber sicher nicht in eine durchgestylte Villa in Hamburg.«
»Aber Hamburg ist näher an der Hallig«, sage ich trotzig.
»Du musst es ja wissen. Ich rede dir da nicht mehr ein. Du kennst ja meine Meinung zu deinem Beziehungs-Hopping in den letzten Jahren.«
»Du hast gut Reden, du hast auch Enrico.« Ich rolle meine Augen.
Zita stöhnt. »Enrico war auch nicht geplant. Er ist mir in der Therme Erding quasi in die Arme geschwommen.«
Ich schlüpfe in die neuen, roten Sandalen, die ich in Cannes erwarb. »Ja, ja. Aber ich muss jetzt Schluss machen. Per und ich treffen uns später und ich möchte vorher noch einmal auf der Promenade des Anglais spazieren gehen. Es ist schließlich mein letzter Abend in Nizza. Und ich habe bislang kaum auf einen der blauen Stühle gesessen.«
VII.
Der junge Mann kommt mir bekannt vor. Seine langen Locken sind zu einem lässigen Pferdeschwanz gebunden, als er in weißer Jeans und wehendem weißem Hemd an mir vorbeimarschiert. Ich sitze derweilen auf einer Mauer in der Nähe des Hafens, nachdem die blauen Stühle allesamt besetzt sind.
Ich möchte den Abend genießen. Meine letzte Verabredung mit Per beginnt in einer Stunde. Natürlich hat er schon Folgepläne und in meinem Kalender stehen bereits vier rote Kreuze für das erste Treffen in Hamburg. Ich müsste nur noch Karla überreden, auf Lisa aufzupassen. Wie Lisa wohl reagieren wird auf einen neuen Freund, dazu noch in Hamburg? Aber schulde ich ihr nicht langsam eine Familie? Ich tue das doch für Lisa, oder? Gleichzeitig hallen Zitas mahnenden Worte in meinem Kopf und ich frage mich, ob die Einladung nach Hamburg nicht doch vielleicht nur Pers Enthusiasmus für einen Urlaubsflirt ist, der mit Einstieg ins Flugzeug zurück nach Hause sich in Luft auflösen würde.
»Ich kenne dich!«
Ich schrecke auf und Blicke in das Gesicht des jungen Mannes. So frontal sieht er noch jünger aus, dreißig vielleicht.
»Ich habe dich auf dem Markt gesehen, vor einigen Tagen. Du hast Socca gegessen.» Er spricht Englisch mit einem starken französischen Akzent.
»Oh, ja …«, antworte ich auf deutsch und schiebe ein fragendes »Yes« unbeholfen hinterher.
»Du bist mir aufgefallen«, sagt der junge Mann.
»Wirklich? Really?« Prompt frage ich mich, ob er die Wahrheit sagt oder er es nur so behauptet.
Er lächelt verschmitzt, setzt sich neben mich auf die Mauer und hält mir die Hand hin. »Jean-Luc.«
»Isa«, sage ich. Er riecht nach einer Mischung aus Zedernholz und Meersalz. Ein warmer Schauer läuft mir über den Rücken. Seine Augen sind dunkelbraun, fast schwarz. Und wie auf Abruf greift er sich ins Haar, löst seinen Zopf und seine schwarzen Locken purzeln wie in Zeitlupe auf seine Schultern. Okay, das mit der Zeitlupe bilde ich mir ein. Jedenfalls bin ich wirklich von den Socken.
»Bist du noch lange in Nizza?«, fragt Jean-Luc.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, mein letzter Abend.«
»Wie schade. Jetzt, wo ich dir wieder begegne, fährst du?« Er schüttelt die lange Mähne. »Ich habe kein gutes Karma.«
»Vielleicht besser spät als gar nicht«, antworte ich, bevor ich den Sinngehalt meiner eigenen Antwort richtig erfassen konnte.
Für einen Moment sind wir still und schauen gemeinsam auf das Meer. Die Ruhe wird von dem Gelächter einiger Männer gestört.
Nicht unweit von uns springen sie einem Ding hinterher. Einer von ihnen, ein sehr großer schlacksiger Mann mit viel zu großen Sportshorts stolpert über seine Beine, die sich beim Sturz auch noch gekonnt verknoten.
Ich presse meine Hand vor den Mund.
Jean-Luc lacht auf. »Sie spielen Pilou«
»Pilou?«, wiederhole ich. Mein Blick fällt auf das Ding, es ist klein und sie kicken es mit den Füßen und Knien. Und schon wieder liegt jemand auf dem Boden, dieses Mal ein kleinerer gedrungener Mann.
»Schau einmal seine Hosen …« Jean-Luc zeigt auf den Verunglückten.
Erst jetzt sehe ich, dass seine blauen Shorts von Ernie und Bert verziert werden, und zwar direkt auf seiner jeweiligen Pobacke. Ich lache. »Die sind ja grandios! Famous!«
»Du bist Deutsche«, stellt Jean-Luc auf Englisch fest. »Ich spreche leider kein Deutsch. Eine schwere Sprache, nicht wahr?«
Ich zucke mit den Schultern. »Wie geht dieses Spiel?«, frage ich. »Und was kicken sie da?«
»Eine alte Münze, 25 Centime. Sie hat ein Loch in der Mitte und daran befestigen sie Papier.«
»Und das funktioniert?« Ich betrachte neugierig die vier Männer. Der Schlacksige kickt die Münze zu dem Gedrungenen der Herrn. »Ist so etwas wie Sokker?«
»Nein, eher wie Federball. Badminton. Nur mit dem Fuß und im Doppel.«
»Und wer gewinnt?«
»Wer am häufigsten den Pilou in einen der gegnerischen Kreise kickt.«
Ich stehe auf, um besser sehen zu können. Tatsächlich hatten die Männer mit weißer Kreide Kreise und eine Art Spielfeld auf die Strandpromenade gemalt.
Ein blonder Spieler, der viel jünger zu sein scheint, als die anderen drei, kickt die Münze gekonnt von einem Knie zum anderen.
»Angeber!«, sagt Jean-Luc. Auf seinem Gesicht bilden sich Lachfalten.
Der Blonde geht schließlich in die Offensive, lässt die Münze auf seinen Fuß fallen und kickt diese in den gegnerischen Kreis, der von dem vierten Mann verteidigt wird.
Der Blonde und der Gedrungene jubeln, fallen sich in die Arme. Ernie und Bert scheinen dabei im Takt zu wippen.
»Sesamstraße hat gewonnen!«, rufe ich und klatsche in die Hände.
»Vielleicht hast du einmal gesehen. Sie spielen Pilou auch in diesem Hitchcock-Film.«
»Über den Dächern von Nizza.« Ich strahle ihn an.
»Du kennst ihn?« Seine Mundwinkel gehen noch weiter nach oben, als sie es ohnehin schon taten.
Ich werde leicht rot. »Ja, einer meiner Lieblingsfilme mit Grace Kelly.«
»Sie lernte den Fürsten von Monaco bei den Dreharbeiten kennen«, sagen wir annähernd gleichzeitig und fallen schließlich in ein Gelächter. In diesem Moment fällt der ganze Druck von mir.
Ich ringe nach Luft, halte mit meiner Rechten meinen Bauch.
Er nimmt meine Hand, als wären wir ein altes Paar. »Hast du Lust, mit mir auf das Meer zu fahren? Die Sonne geht gleich unter.«
Für einen Moment bin ich sprachlos und Tausende von Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. »Meer?«
Er lacht auf. »Keine Sorge. Ich bin Fischer. Ich habe ein kleines Boot.«
»Ich, ähm.« Hektisch schaue ich auf die Uhr. Ich müsste mich jetzt schon beeilen, um pünktlich in dem Lokal zu sein, in dem Per auf mich wartet. Per, der Proktologe aus Hamburg, an dem alles perfekt ist. Von der eigenen Praxis bis zum Jakuzi im Garten.
»Wirst du erwartet?«, fragt Jean-Luc. In seinem Blick meine ich so etwas wie Enttäuschung zu sehen. Doch er fasst sich schnell. Lächelt und streicht eine Locke aus seinem Gesicht, die der Wind hinein wehte.
In meinem Kopf purzeln die Gedanken durcheinander. Per, Tom, der für Zita neuerdings das »Arschloch« ist, der »Opi« und »Boomerang«. Fast die Hälfte meines Lebens rannte ich der Idee der perfekten Familie hinterher. Und nun sitze ich hier am Strand von Nizza und vor mir sitzt dieser Gigolo mit seiner einmaligen Einladung zu einem Sonnenuntergang auf dem Meer. Mit zwanzig wäre ich sofort in sein Boot gesprungen . Und nun? Ich verbrachte seit meiner Ankunft alle Abende mit Per. Mit dem Traum von einem sicheren Hafen. Dies könnte mein einziger Abend auf offener See werden. Für einen Moment fühle ich mich hin- und hergerissen. Ich schließe kurz die Augen, atme tief die Meeresluft ein. »Nein, es wartet niemand.« Und ich kann kaum glauben, dass ich das wirklich sagte.
Jean-Luc nimmt meine Hand und führt mich an den Hafen. Das Fischerboot ist klein und weiß mit einer Plane. Ein wenig fürchte ich mich, dass ich ins Wasser fallen könnte. Schwimmen Gummibärchen eigentlich? Ich lache.
»Was lachst du?«, fragt er.
»Ich lache über Gummibärchen.«
»Gummibärchen?« Er schaut nur für einen Moment verwirrt aus, als er mir ins Boot hilft. Es wackelt.
»Gummibärchen«, wiederhole ich.
Jean-Luc wirft den Motor an und wir fahren hinaus auf das Meer, gerade soweit, dass ich noch gemütlich zum Ufer schwimmen könnte, wenn ich wollte.
Ich schaue auf die Wellen. Der Anblick beruhigt mich. Jean-Luc zieht derweilen eine Champagnerflasche aus den Planen hervor, als hätte sie dort für seine nächste Eroberung gewartet. Typisch Franzose, denke ich und lasse mich in seine Arme fallen mit dem Champagnerglas in der Hand. Die Perlen prickeln in meiner Nase. Der Himmel über uns wird rot. Ich spüre Jean-Lucs warmen Lippen auf meinem Hals. Und obwohl es ganz furchtbar wippt im Fischerboot, fühle ich mich auf einmal wieder frei.
VIII.
Ich habe keine Ahnung, wo meine roten Sandalen sind. Ich gehe alleine zurück zum Hotel, am Steinstrand entlang, auf dem Smartphone sind verzweifelte Nachrichten von Per, ich ignoriere sie. Ich gehe barfuß durch Nizza und das tut auf dem Steinstrand verdammt weh. Es ist aber wunderschön.
Und wisst ihr was das Beste ist? Jean-Luc erzählte mir, dass Gummibärchen sich nach Farben kaufen lassen. Ich werde nur noch gelbe kaufen. Die Lieblingsfarbe meiner Tochter. Und wisst ihr was das Allerbeste ist? Möglicherweise bin ich gar kein Gummibärchen. Kein Ananas-Gummibärchen und erst recht kein Hustensaft-Gummibärchen. Vielleicht bin ich ganz einfach nur – Socca.