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Kurz vor dem Verblassen
Wenn ich im Bilde drin bin, ist mir nicht bewusst, was ich tue.
- Jackson Pollock
Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. An guten Tagen ist jeder Pinselstrich ein Ausdruck meines Lebensgefühls. Erst durch die Berührung von Pinsel auf Leinwand spüre ich mich selbst. Es ist eine Verbindung, die Leben schafft – und oft scheint es mir, als schaffe ich mir selbst erst eine Daseinsberechtigung, indem ich Leben auf die Leinwand bringe.
An schlechten Tagen ist es tatsächlich so, als drücke ich meine Lebenskraft auf den Malgrund. Jeder Strich laugt mich aus und die Bilder werden so verschwommen, wie ich mich selbst wahrnehme.
An diesen Tagen fühle ich mich selbst wie ein Bild. Ich bin kein Mensch, ich bin das Abbild eines Menschen. Dazu fahrig gemalt. Man muss schon die Augen zusammenkneifen, um mich zu bemerken.
Um ehrlich zu sein, sind die guten Tage Teil einer Erinnerung, die unsauber aufgetragen wurde und allmählich abblättert.
Früher wollte ich immer etwas Besonderes sein. In diesem Eifer beschloss ich, nur bedingt Teil dieser Welt zu sein. In meiner jugendlichen Arroganz fühlte ich mich auserkoren, zu etwas Höherem berufen, über den Dingen stehend. Ich bildete mir ein, das System zu durchschauen und belächelte all jene, die es mit ihrem Alltag fütterten. Als strahlenden Helden nahm ich mich wahr. Als jemanden, der für den wahren Sinn des Lebens focht. Mein Schwert war der Pinsel, mein Schild die Leinwand, die Staffelei das Ross. Ich malte mir meine eigene Welt - in der störrischen Überzeugung, dass sie wahrhaftiger sei, als die Welt außerhalb meines Ateliers. Und ich war ebenso überzeugt, dass die Menschen diese Tatsache alsbald erkennen würden und lauerte auf die Sonnenstunde meiner Entdeckung.
„Du hast den Bezug zur Realität verloren“, sagte Thomas damals zu mir.
„Wenn man etwas Großes schaffen will, muss man über das hinaus gehen, was sich Realität schimpft!“, habe ich verdrossen geantwortet. „Realität ist nur ein anderes Wort für Fessel.“
„Das mag schon sein“, räumte Thomas ein. „Aber mit der Realität verhält es sich so, wie mit Freunden. Wenn man sie verstößt, werden sie auch dich irgendwann verstoßen.“
Thomas behielt Recht, aber das habe ich erst erkannt, als es schon zu spät war.
Früher bestätigte mich die Ignoranz der Welt in meinem Denken, konnte sie es in meinen Augen doch nur nicht ertragen, dass ich etwas unvergleichlich Schöneres schuf, als sie es ihr Eigen nannte. Etwas Erhabenes.
Irgendwann jedoch erkannte ich den Fluch, der in dieser gegenseitigen Blindheit lag.
Das war in dem Moment, als ich ihr begegnete. Wie eine Erscheinung schwebte sie durch mein Blickfeld und brachte die Welt um sich herum zum Leuchten. Es ging eine Schönheit von ihr aus, die so gewaltig war, dass ich körperliche Pein verspürte. Und ich kostete diesen Schmerz aus, wie eine lang vermisste Umarmung, spürte ich doch in ihm die Essenz dessen, was ich mich stets mühte auf die Leinwand zu bannen.
Als sie verschwunden war, nahm alles wieder stumpfe Gleichgültigkeit an, die atemlähmend und drückend mein Herz infizierte.
Ich stolperte durch die graue Einförmigkeit, die mir beißender als je zuvor erschien. Benommen folgte ich ihrer Fährte. Wie ein Licht in der Dunkelheit floss sie durch die Menschenmenge und hinterließ eine Spur aus Lebendigkeit und Wärme.
Ich schwamm im Kielwasser aus nicht gekannter Farbigkeit, die mich trunken machte, fand mich irgendwann vor einem spanischen Restaurant wieder. Gespannt starrte ich durch die Scheibe. In dem Maße, in dem ich meine Nase am Glas pattdrückte, wuchs meine Verzweiflung. Panisch suchte ich ihr Licht, doch kein Leuchten durchdrang das fahle Alltagskolorit. Allmählich klang das Rauschen in meinem Ohren ab und in mit breitete sich der nagende Verdacht aus, dem Phantom meiner Wünsche nachgelaufen zu sein. Mit dem wiederkehrenden Atem sog ich dumpfe Wirklichkeit ein und wandte mich ab.
Dann nahm ich aus den Augenwinkeln ein Schimmern wahr und drehte mich so rasch wieder um, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sie stand mit dem Rücken zu mir und doch erkannte ich sie sofort. In ihrem schlichten schwarzen Rock und ihrer weißen Bluse hob sie sich so warm und klar vom Alltagsgrau ab, dass sie ihr Umfeld zum Glänzen brachte.
Der Glanz wanderte mit ihr, als sie sich zum nächsten Tisch bewegte, ein Lächeln im Gesicht und einen kleinen Block in der Hand.
Vittoria las ich auf ihrem Namensschild. Die Kunden, die sie bediente, schienen nichts von der Magie mitzubekommen, sahen nicht, wie die Blicke der Kellnerin das Licht selbst zum Lachen brachte.
Es kostete mich große Überwindung, das Lokal zu betreten. Meine Ausflüge unter Menschen beschränken sich auf das nötige Minimum. Selten brachte ich längere Strecken zustande, als bis zum Supermarkt an der Ecke.
Schweißgebadet schlüpfte ich ins Restaurant, duckte mich innerlich, fürchtete, mit der Eingangstür eine Grenze überschritten zu haben, die ins Verderben führte. Doch alles war wie immer: Niemand beachtete mich. Erst wollte sich Erleichterung einstellen, doch dann wurde mir das ganze Ausmaß meines Fluches bewusst.
Vittoria nahm mich genauso wenig wahr wie alle anderen Menschen.
„Das verstehst du nicht“, behauptete ich. Ich wusste, dass ich wieder in diesem süffisanten Ton sprach, den niemand leiden konnte. Mich selbst eingeschlossen.
Thomas hob die Arme in einer hilflosen Geste und sagte: „Deine Bilder mögen ja großartig sein. Aber wenn niemand davon weiß, wird auch niemand an deine Tür klopfen und danach fragen. Das Leben kommt nicht zu dir – du musst auf das Leben zugehen. Begreif das doch endlich!“
„Meine Zeit wird kommen.“ Wieder in diesem Ton.
„Die einzige Zeit, die existiert, ist das Hier und Jetzt“, insistierte Thomas. „Der Augenblick ist gedankenlos. Wenn du nicht zupackst, rauscht er an dir vorbei. Einfach so. Weg ist er. Und mit jedem Augenblick, den du so verstreichen lässt, wird es schwieriger irgendwann aus dieser Passivität auszubrechen.“
Ich sitze so oft es mir möglich ist in dem spanischen Restaurant. Was nicht sehr häufig ist, denn ich bin wohl das, was man einen professionellen Hungerkünstler nennt. Alles was ich habe und was mich ausmacht, ist das, was ich auf die Leinwand bringe. Und das reicht selten über mein Atelier hinaus.
Wie gerne hätte ich das Loch meiner Existenz mit Alkohol gefüllt. Aber ich könnte es nicht einmal länger mit Farbe kaschieren. Die letzten brauchbaren Reste habe ich heute auf eine ranzige Pappe geschmiert. Der künstlerische Wert erschöpft sich im Einklang von Malgrund und Malweise: In jeder Hinsicht lausig.
„Wie willst du deine Miete zahlen?“, fragte Thomas.
Ich lachte verächtlich auf. „Hätte Pollock sich um solche Dinge geschert, anstatt sich auf sein Werk zu stürzen, wäre die Kunstwelt heute um einiges ärmer.“
„Da suchst du dir genau die richtige Gestalt aus“, erregte sich Thomas. „Du machst es dir so richtig gemütlich in der Rolle des verkannten Genies. Ein Pollock willst du also sein, ja? Ich sag dir mal was: Pollock war ein Arschloch und er hat sich selbst zugrunde gerichtet. Und weißt du was - wenigstens in dieser Richtung schreitest du konsequent in seine Fußstapfen!“
„Glaubst du, als Börsenmakler trägst du einen Teil zu einer besseren Welt bei?“, spie ich wütend aus. „Wo sind deine Jugendträume, Thomas? Wollten wir nicht das System verändern? Und was machst du heute – du unterstützt die Wurzel allen Übels, die unsere Welt entzwei reißt! Du verrätst dich und deine Ideale!“ Ich schrie jetzt: „Du zerstörst, Thomas. Ich erschaffe etwas!“
„Ja – und zwar ein Traumschloss, in welchem du dich vor der Welt, die du verändern willst, verkriechst. Verrammelt mit einem Doppelschloss aus Feigheit und Arroganz!“
An der Tür bleibt Thomas noch einmal stehen. „Übrigens: Pollock hatte eine Frau, die ihm gehörig in den Arsch getreten hat. Ohne sie wäre aus ihm nichts geworden, weil er genauso blind war wie du. Aber du hast keine Frau. Du hast nicht einmal mehr einen Freund.“
Ich spiele mit den letzten Münzen in meiner Hosentasche. Henkersmahlzeit, denke ich. Mein Magen knurrt. Ich bin müde.
An Tagen wie diesen wirkt die Welt um mich noch kraftloser als sonst, die Farben bilden keine Kontraste, sondern verschwimmen zu einem monotonen Brei. Heute jedoch scheint selbst dieser Brei ausgewaschen und blass.
Erst als ein junges Pärchen an meinem Tisch Platz nehmen will und die Dame dabei über mich stolpert, wird meine Anwesenheit bemerkt. Dennoch schafft es der Kellner bei der Aufnahme meiner Bestellung durch mich hindurch zu sehen.
Ich verstehe meine eigenen Worte kaum, sie scheinen aus weiter Ferne zu kommen. Mit dem Verebben der Geräusche nimmt auch die Beleuchtung ab. Selbst die scheinbar ewigen Gerüche des Lokals dünnen aus. Hilflos muss ich mit ansehen, wie die Welt zerfasert.
Ein alles verschlingendes Summen formt sich zu einem Trichter und saugt mich in sich hinein. Eine Faust umschließt mein Herz.
Früher hat mich die Fantasie begleitet, die gesamte Welt wäre nur für mich inszeniert und existierte nur, damit ich mich durch sie erfahren konnte. Jetzt habe ich plötzlich Angst, es ist anders herum. Bin ich vielleicht nur ein Pigmentkorn, das abgestoßen wird, weil es farblich nicht passt?
Panik packt mich, als Vittoria durch mein Blickfeld haucht. Beinahe hätte ich sie gar nicht wahrgenommen. Nur noch als schwache Andeutung hebt sie sich vom zerlaufenden Hintergrund ab.
Zu sehen, wie Vittoria in das alles umspannende Grau schmilzt, weckt eine Verzweiflung in mir, die ich nie für möglich gehalten hätte.
„Erst wenn du auf die Welt zugehst, wird sie auch dich wieder einladen.“ Thomas sagte das damals mit einer Bestimmtheit, die mich seltsam ängstigte. Ich tat die Worte natürlich ab, doch jetzt hallen sie plötzlich in der mich umgebenden Leere wider und entfalten ihre maliziöse Wahrheit.
„Aber so wie du dich abschottest, lässt du ja nichts an dich heran, was dich berühren könnte und damit wert wäre, darum zu kämpfen.“ Ich sehe deutlich Thomas’ resigniertes Kopfschütteln vor mir. „Wahrscheinlich wirst du eines Tages einfach verblassen und niemand wird bemerken, dass du je da warst und gegangen bist.“
Ich kneife die Augen zusammen, doch Vittoria wird ohne einen Laut verschluckt.
Erst ist da nur Verzweiflung. An diesem Punkt strandete ich oft in meinem Leben, aalte mich dort in meinem eigenen Elend und hasste mich für diese Schwäche. Doch diesmal geht es weiter. Tiefer, viel tiefer. Ich durchdringe die Verzweiflung und finde Wut. Die Wut verbrennt und legt die Kraft frei. Sie reicht bis ins Mark, ist die Nabelschnur zu meinem Kern, der tausend Schreie zusammenhält. Ich stoße zu und halte die Welle nicht auf, die ausbricht. Ein Seufzen entringt sich mir und ergießt sich in alle Richtungen.
Eine Geburt vollzieht sich. Aus dem Nichts schält sich die Welt, doch es ist nicht die Welt, die geboren wird. Es ist meine Geburt.
Es ist, als werde mein Augenlicht von einem langen schwarzen Gähnen befreit. Licht und Farbe sickert in die Poren der Wirklichkeit und spült den Staub von der schlafenden Schönheit ab.
Für einen Moment bin ich ganz fest mit dem Hier und jetzt verbunden, spüre das kurze Kribbeln, dass die Menschen erfasst, registriere, wie sie sich verunsichert und scheu umblicken, um dann den Kopf zu schütteln und sich wieder ihren Gedanken zu widmen.
Vittoria bleibt mitten im Schritt stehen, als die Woge sie erfasst und sie in das Leuchten aufnimmt. Sie blinzelt irritiert und blickt sich um. Als ihr Blick auf mich fällt, lächelt sie.
Ich lächle zurück.