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Kuscheltiere schlafen nachts
Kuscheltiere schlafen nachts
„Danke“, kam es flüsternd von Betty. Sie hielt ihren Kopf gesenkt und wendete die Videokassette verlegen hin und her.
„Das ist aber ein tolles Geschenk!“, hörte sie ihre Mutter sagen.
„Komm, wir legen sie gleich in den Rekorder ein.“
Wortlos hielt Betty ihrer Mutter die Kassette hin.
„He, mein Mädchen, was ist los?“, fragte Tante Agathe besorgt, „geht es dir nicht gut?“
Tante Agathe war Bettys Lieblingstante, und so wollte sie ihr nicht sagen, dass sie die Videokassette blöde fand. Sie wusste worum es da ging, und das gefiel ihr nicht. Betty mochte keine Geschichten, in denen das Spielzeug nachts lebendig wurde. Das war doof und unlogisch. Ihre Puppen und Kuscheltiere schliefen selbstverständlich in der Nacht, so wie sie selbst.
„Mein Bauch tut weh“, flunkerte sie.
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Eis langsamer essen“, sagte ihre Mutter besorgt, und Tante Agathe nahm sie fürsorglich in den Arm. Weil Betty ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Flunkerei hatte, nahm sie den Rat ihrer Mutter gerne an, in ihr Zimmer zu gehen und sich ein wenig hinzulegen. Wehleidig nach vorne gebeugt ging sie langsam die Treppe hinauf. Obwohl Mutter und Tante Agathe sie nicht mehr sehen konnten, behielt sie auch oben im Flur ihr bemitleidenswertes Schauspiel bei.
„Was hast du?“, fragte ihr Bruder Peter, der gerade aus seinem Zimmer gekommen war.
„Ach, nichts, Tante Agathe ist gekommen, sie hat uns ‚Toy Story’ auf Video mitgebracht.“
„Hab ich schon gesehen“, kam es gelangweilt von Peter.
„Sollen wir zusammen spielen, ich habe meine Eisenbahn aufgebaut!“, fragte er.
„Ja“, antwortete Betty freudig, „ich hole noch Sachen aus meinem Zimmer.
Peter hatte eine ganz tolle Eisenbahn. Die Lok und die Waggons waren so groß, dass man obendrauf sogar Kuscheltiere mitfahren lassen konnte. Die Schienen hatte Peter durch das gesamte Zimmer verlegt. Der Tisch und ein Stuhl waren Tunnel, und die Brücke führte über einen Milchsee, einen Teller mit Resten von Cornflakes, die Peter kurz vorher gegessen hatte. Mit Plastiktrinkhalmen hatte er eine Straße geformt, die an einem Bahnübergang die Schienen kreuzte. Die Schienen führten weiter über einen Kissenberg hin zum Bahnhof.
Betty hatte so viele ihrer Puppen und Kuscheltiere angeschleppt, wie sie tragen konnte.
„Heute machen die alle einen Ausflug“, schlug sie vor.
„Ne“, protestierte Peter, „da haben meine Leute ja keinen Platz mehr, wenn die alle mitfahren.“
„Der Zug kann doch öfter fahren“, meinte Betty, und Peter antwortete:
„Na gut, aber der Schornsteinfeger muss mit, der muss ganz dringend einen Schornstein sauber machen.“
Beide begannen die Tiere und Puppen auf die Anhänger zu verteilen. Schließlich hatte die ganze Ausflugsgruppe einen Platz gefunden, nur der Schornsteinfeger, der so dringend zur Arbeit musste, konnte nicht mehr mitfahren.
„Einer aus deiner Gruppe muss später fahren“, sagte Peter, „die Arbeit vom Schornsteinfeger ist wichtiger.“
„Ach, ne, die wollen doch alle zusammen bleiben!“, protestierte Betty.
Sie diskutierten hin und her und kamen zu keinem Ergebnis. Zum Schluss war es so, dass sie kurz vor einem deftigen Streit standen.
„Ich würde ganz gerne hier bleiben“, meldete sich jemand zu Wort und Betty und Peter sahen sich ungläubig an.
„Hallo, hier, ich bin es, der Petz, dein Teddybär!“
Und wirklich, Petz war vom Waggon heruntergesprungen, lief einige Schritte auf Betty zu, blickte von unten ganz nach oben in ihr Gesicht und sagte: „Ich bin eh zu groß, in der ersten Kurve falle ich doch da runter und verletze mich möglicherweise. Ich wäre gerne der Mann von der Eisenbahn, der Bahnhofsvorsteher, der mit der Kelle und der Trillerpfeife. Meint ihr, ich könnte das machen?“
„Mm“, kam es von Peter ein wenig enttäuscht, „eigentlich wollte ich das ja machen, aber ist in Ordnung, du bist unser Mann mit der roten Mütze.“
Betty schlug vor, dass sich beide abwechseln. Bei der Abfahrt sollte Petz als Bahnhofsvorsteher arbeiten und bei der Ankunft Peter. Dessen Augen leuchteten wieder, und er setzte dem Bär die rote Mütze auf. Die war für Petz zu groß, und nur seine abstehenden Bärenohren verhinderten, dass sie ihm vom Kopf rutschte.
Stolz streifte sich Petz noch die weiße Schärpe über die Schulter, griff nach der Kelle und nahm die Trillerpfeife.
„Alles einsteigen!“, rief er, „der Zug fährt sofort ab!“
„Halt! Noch nicht abfahren!“, rief die Ballerinapuppe, „so geht das nicht. Ich will nicht neben diesem dreckigen Kerl sitzen“, und sie zeigte auf den Schornsteinfeger.
„Nein, bist du dumm“, mischte sich das Dromedar ein, „komm, wir tauschen die Plätze. Einen Schornsteinfeger zu berühren bringt Glück, wusstest du das nicht?“
„Das bringt dreckige Finger“, antwortete die Ballerina schnippisch und wechselte nach vorne.
„So, jetzt aber“, rief Petz, hob die Kelle und blies kräftig in die Trillerpfeife.
Peter drehte langsam den Stromregler auf, und der Zug setzte sich in Bewegung. Schon nach der ersten Kurve rief Tippi, die Schildkröte: „Geht das nicht ein bisschen schneller? Da bin ich ja zu Fuß schneller.“
Peter drehte den Knopf ganz nach rechts, und der Zug raste los. Während die Reisegäste vor Vergnügen lachten und applaudierten, hielt sich Betty vor Schreck die Hände vor den Mund.
„Langsamer Peter“, rief sie besorgt, „sonst passiert noch ein Unglück.“
Der Zug schoss durch die nächste Kurve, sauste durch die Tunnel und raste auf den Kissenberg zu. Betty hatte inzwischen vor Angst ihre Augen geschlossen und hörte mit einem Mal ein furchtbares Scheppern.
„Nun ist es passiert“, dachte sie, und die Sirene der Feuerwehr und des Rettungswagens bestärkte ihre Befürchtung. Langsam öffnete sie die Augen und sah das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Schienen waren vom Kissenberg gerutscht, die Waggons lagen verstreut teils auf der Seite, teils auf ihrem Dach. Auf dem Dromedar lag die Ballerina und unter ihm schauten nur noch die Füße des Schornsteinfegers hervor. Tippi war unter der Lok eingeklemmt, und Bodo, der Schimpanse, war im Milchsee gelandet.
„Betty! Betty!“ Die Krankenschwester-Barbie zupfte Betty am Ärmel.
„Komm!“, rief sie, „du musst mir helfen.
Nun zögerte sie keinen Moment mehr, setzte sich die Krankenschwesternhaube auf, griff den Erste-Hilfe-Koffer und eilte zur Unfallstelle.
Tante Agathe war länger geblieben, als sie geplant hatte. Nach einem Blick auf die Uhr, sprang sie erschrocken auf und sagte, sie müsse schnellstens nach Hause. Bettys Mutter war ebenfalls überrascht wie schnell die Zeit vergangen war. Als sie die Tante verabschiedet hatte, ging sie die Treppe hinauf, um nach Betty zu sehen. Da sie ihre Tochter nicht in deren Zimmer fand, öffnete sie Peters Zimmertür. Dort brannte das Licht und die Eisenbahn, auf deren Waggons wie Perlen auf einer Kette Kuscheltiere und Puppen aufgereiht waren, zog langsam und surrend ihre Kreise. Peter lag bäuchlings auf seinem Bett, sein Kopf und ein Arm hingen an der Seite hinab. Betty hatte sich neben den Gleisen auf dem Boden eingekuschelt und hielt die Krankenschwester-Barbie im Arm.
Ihre Mutter stoppte den Zug, hob Betty und die Barbie vorsichtig auf, trug sie in ihr Kinderzimmer und legte beide dort ins Bett. Nachdem sie auch Peter zugedeckt und überall das Licht gelöscht hatte, ging sie zurück die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dort lag noch immer die Videokassette auf dem Tisch. Bettys Mutter lächelte und dachte, dass es wohl auch dieses Mal wieder viel aufregender gewesen war ein eigenes Abenteuer mit seinen Puppen und Kuscheltieren zu erleben, als nur ein Video anzuschauen. So nahm sie die Kassette vom Tisch und stellte sie zu den anderen noch in Folie verpackten ins Regal.