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ÜBERARBEITETE VERSION nach den Kommentaren
Silan tritt einen weiteren Schritt zurück, bis er die Mauer im Rücken spürt. Sein Herz rast, sein Kopf ist leer.
„Stell dich nicht so an“, sagt Juri, die Oberlippe zu einem höhnischen Grinsen verzogen. „Wir wollen nur das, was uns gehört. Nicht unser Problem, wenn dein Bruder nicht blechen kann.“
Silan fährt zusammen, als er das Knacken von Juris Knöcheln hört, die dieser wie beiläufig reibt. Juri sieht ihn von oben herab an, das Grinsen ist verschwunden. Er tritt einen Schritt näher.
Unwillkürlich schieben sich Silans Füße etwas auseinander, seine Oberarme pressen sich an seinen Körper. Er senkt das Kinn und verbirgt es hinter seinen gehobenen Fäusten. Lässt Juri nicht aus den Augen.
„Wie süß“, zischt Juri über die Schulter seinen Freunden zu, die wie eine Mauer hinter ihm stehen. „Der Kleine will kämpfen. Glaubst ehrlich, du hast es drauf, was?“
Juri lacht auf, bevor er unvermittelt einen weiteren Schritt macht und mit einer schnellen Bewegung seine rechte Faust nach vorne stößt.
Doch Silan kennt Juris Rechte. Zu oft hat er ihn dabei beobachtet, wie er die anderen Jungs auf der Straße verprügelt, jedes Mal kleiner und schwächer als er. Wie er seinen Bruder verprügelte, immer und immer wieder, bis dieser ihm endlich das Geld geben konnte. Er weicht Juris Schlag mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung aus, sieht dessen ungeschützten Bauch und verpasst ihm einen Leberhaken mit der Linken. Juri stöhnt auf, Silan setzt mit einem rechten Kopfhaken nach.
Noch bevor Juri auf die Knie sinkt, steht Silan wieder in Position und hat den Blick auf Juris Freunde gerichtet, die ungläubig auf ihren am Boden liegenden Anführer blicken.
Vier gegen eins, scheiße –
Silan atmet flach.
Der Arsch hat mich unterschätzt, den gleichen Fehler machen die anderen nicht auch noch. Ich muss hier weg, und zwar schnell.
Als zwei der Angreifer sich zu Juri hinunterbeugen, holt Silan Luft, senkt das Kinn noch etwas tiefer und springt zur Seite, an den anderen vorbei.
„Warte, du Pisser!“
Einer der Angreifer packt ihn am Jackenärmel, aber er schafft es, sich durch eine blitzschnelle Drehbewegung des Armes frei zu machen. Und jetzt rennt er. Er rennt die Gasse entlang, an den stinkenden Mülltonnen des Dönerladens vorbei und hinaus auf die Straße. Hinter sich hört er das Schreien und Keuchen von Juris Kumpeln, die seine Verfolgung aufgenommen haben. Auf der Straße erstarrt er für eine Sekunde, blickt gehetzt um sich. Wohin? In seinem Kopf explodieren die Gedanken - wenn die mich kriegen, bin ich erledigt, was hat Gojko schon wieder für Scheiße gebaut …
Dann Kayhans Stimme: „Dein Kopf ist zu langsam in einem Kampf – dein Körper nicht!“
Er dreht sich nach links und sprintet die Straße entlang, zwischen den Passanten hindurch, auf deren Hilfe er nicht hoffen kann. Zwischen den abgeranzten Plattenbauten und verriegelten Läden kämpft jeder für sich allein.
Er biegt um die Ecke, rennt zwischen aufgerissenen Müllsäcken hindurch, quetscht sich durch die Lücke eines Bauzauns, hofft, dass die anderen zu groß sind, um ihm durch den Spalt zu folgen. Rennt weiter und weiter und weiter. Er hört seine Verfolger nicht mehr, aber riskiert es nicht, jetzt anzuhalten.
Er klettert über den Zaun am andern Ende der Baustelle und dann endlich, endlich biegt er in die kleine Straße ein, reißt die Tür auf und stemmt sich keuchend von innen dagegen.
Sein Herz hämmert, die Lunge brennt, die Beine zittern. Er versucht, sich zu beruhigen und zu lauschen – ist da jemand in der Gasse, waren sie ihm doch gefolgt und würden gleich die Tür aufstemmen?
Aber es passiert nichts. Es ist ruhig, er atmet auf. Sein Blick fällt auf ein verrostetes Rohr, dass neben ihm in der Ecke liegt, und nach kurzem Zögern nimmt er es und steckt es quer durch die Handgriffe der Tür, so dass man sie von außen nicht mehr öffnen kann. Nur zur Sicherheit.
Er wartet, bis sich sein Atem wieder völlig beruhigt hat und geht dann den spärlich beleuchteten Gang entlang auf eine Metalltür zu. Als er diese aufstößt, wird er empfangen von einer Welle von Geräuschen und Gerüchen, die ihn wohlig umschließen wie die Umarmung seiner Mutter. Früher, als sie ihn noch umarmte.
Er hört den rhythmischen, dumpfen Aufprall von Boxhandschuhen auf Pratzen, das Surren von Springseilen, das Klirren der Aufhängung, als jemand mit voller Kraft auf den Boxsack einschlägt. Er hört das Keuchen und Stöhnen und den zischenden Atem der Boxer durch ihren Mundschutz. Und er riecht – den Schweiß, das abgewetzte Leder der Boxsäcke, das frisch gewischte Linoleum. Silan lächelt.
Langsam geht er durch die Trainingshalle, nickend und die Hand zum Gruß gehoben, während er nach Kayhan Ausschau hält. Normalerweise trainiert er jetzt mit Rico, doch der müht sich gerade alleine am Boxsack ab. Was für Kraft Rico hat! Und wie schnell er seine Füße bewegen kann, es war -
„Hatten wir nicht gesagt, du kämpfst im Ring aber sonst nicht?“ Silan zuckt zusammen. Er hatte nicht bemerkt, wie Kayhan neben ihn getreten war.
Kayhan nickt zu einem Riss an Silans Hosenbein.
Verdammt! Den muss ich mir bei der Klettertour über den Bauzaun zugezogen haben.
Er zuckt die Schultern und weicht Kayhans Blick aus. „Ich konnte nichts dafür, die haben mich gecornered, weil Gojko wieder irgendeine Scheiße gemacht hat.“ Dann erhellt sich sein Gesicht. „Aber du hättest meinen Leberhaken sehen sollen, und dann – bäm – ein perfekter Kopfhaken - perfekt! Mit dem Ellbogen im rechten Winkel, genau so -“ Silan beginnt zu tänzeln und einen unsichtbaren Gegner mit präzise ausgeführten Haken zu bombardieren.
„Sehr gut“, erwidert Kayhan und legt Silan eine Hand auf die Schulter, wodurch dieser zur Ruhe kommt. „Aber jede Situation außerhalb des Rings in der du keinen Haken einsetzen musst, ist besser als eine, in der du den perfekten Schlag platzieren kannst. Aber das weißt du“, setzt er hinzu, als er Silans eingezogenen Kopf und sein Nicken sieht.
„Rico, werd‘ nicht schlampig, nur weil du müde wirst“, ruft Kayhan nun und tritt an den Boxsack. „Dein Gegner wartet nur darauf, dass du den Grip verlierst – jeder einzelne Schlag muss gezielt treffen, egal wie fertig du bist. Los los los los!“ Kayhan schlägt im Rhythmus auf den Boxsack und lässt Ricos Fäuste nicht aus den Augen.
Salin sieht ihm fasziniert zu. Kayhan ist der beste Boxtrainer der Stadt und für ihn persönlich der beste Trainer der Welt. Nur ihm hat er es zu verdanken, dass er nicht wie Gojko den Bullen mit Namen bekannt ist oder regelmäßig mit blutigem Gesicht heimkommt. Wobei seine Mutter schon lange nichts mehr sagt. Meistens wirft sie seinem Bruder nur eines der dreckigen Geschirrhandtücher zu und warnt ihn, nicht das Sofa voll zu bluten, bevor sie sich wieder dem Fernseher zuwendet und die nächste Kippe ansteckt. Aber wenigstens trinkt sie nicht. Nicht wie sein Drecksvater. Wo auch immer der gerade ist. Wenn er denn noch ist.
Aber all das ist jetzt egal. Was zählt ist, dass er hier ist, wie jeden Nachmittag, mit Kayhan und den anderen. Seit dem Abend, an dem Kayhan ihn und Gojko mit aufgeplatzten Lippen und zugeschwollenen Augen aufgesammelt und hierher gebracht hat.
Gojko und er waren bei der alten Rutsche auf dem Spielplatz gewesen, hatten sich in deren Schatten verkrochen und sich nicht getraut, nach Hause zu gehen. Nach Hause wo damals noch der Vater war. Der nach einem Blick auf ihre zerschlagenen Gesichter das zu Ende führen würde, was die Polen angefangen hatten. Der keine Schisser als Söhne haben wollte, keine Memmen, keine Mädchen, keine Verlierer.
Sie kannten Kayhan vom Sehen, einige der älteren Jungs trainierten bei ihm. In der Trainingshalle hatte er ihnen geholfen, ihre Gesichter zu waschen, hatte ihnen Pflaster und Wundsalbe gegeben. Und er hatte ihnen angeboten, am nächsten Tag vorbeizukommen – er würde ihnen zeigen, wie sie sich verteidigen könnten. Silan war gekommen. Gojko nicht. So wie an allen darauffolgenden Tagen.
Das Knallen von Ricos Schlägen auf Kayhans Pratzen wird lauter, Kayhan fordert ihn mit immer neuen Kombinationen heraus. Silan konzentriert sich, saugt jede Bewegung von Rico auf. Rico ist schnell und stark, seine Technik unglaublich. So will er auch einmal boxen können.
Plötzlich sieht er, wie Kayhan eine Pratze nicht schnell genug bewegt und Rico ihm einen Hieb in den Brustkorb versetzt. Kayhan keucht und taumelt ein paar Schritte zurück. Er und Rico stürzen auf ihn zu, bekommen Kayhan noch zu fassen, ehe er auf die hinter ihm liegenden Gewichte stürzt.
„Boss, es tut mir so leid, ich weiß nicht -“, beginnt Rico, doch Kayhan bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Ich war zu langsam, du hast nichts falsch gemacht, Junge“, bringt er zwischen zusammengepressten Lippen hervor, während er gebeugt dasteht. „So wird der Schüler doch zum Meister“, fügt er mit schiefem Lächeln hinzu. Inzwischen haben sich die anderen Boxer ebenfalls um ihn geschart.
Silans Herz rast. Kayhan war noch nie zu langsam gewesen – vor allem nicht, wenn Rico zum Trainingsende hin selbst langsamer wurde.
Zwei der Jungs nehmen Kayhan in ihre Mitte und führen ihn ins Trainerbüro. Die anderen bleiben zurück, stehen weiter dicht beieinander, werfen sich undeutbare Blicke zu.
„Es scheint schlimmer zu werden“, murmelt Malek zu Rico, während dieser seine Handschuhe auszieht.
„Ich hatte gehofft, es dauert noch“, antwortet Rico, die Stirn in Falten gelegt
„Was? Was ist schlimmer geworden?“, fragt Silan. Was ist hier los, warum stehen die anderen so unruhig und stumm beieinander? Warum sehen sie so … ja, so besorgt aus?
„Was ist mit Kayhan?“, fragt er noch einmal, seine Kehle trocken und rau.
„Ach Kleiner“, erwidert Rico und versucht, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. Doch Salin duckt sich weg.
Er ist es leid, nicht ernst genommen zu werden, immer nur als der Kleine am Rand zu stehen. Nur Kayhan nimmt ihn ernst. … Ein eiskalter Hammer wird in seinen Magen gerammt. Aber auch Kayhan hat ihm nicht gesagt, was alle anderen anscheinend bereits wissen.
Er läuft zum Trainerbüro und sieht, wie die anderen Kayhan dabei helfen, sich auf einen Stuhl zu setzen. Kayhans Gesicht ist aschfahl, seine Hände zittern.
Silan zwingt sich zu überlegen, durchforstet sein Gedächtnis nach einem Moment, in dem Kayhan krank erschien, zerbrechlich, in dem er weniger war als der stärkste und beste Boxer. Doch es fällt ihm nichts ein.
Vielleicht ist er etwas dünner geworden in letzter Zeit, ist weniger oft mit uns in den Ring gestiegen - aber das ist doch nichts, das heißt doch nicht, dass mit Kayhan etwas nicht stimmt! … Oder?
Kayhans Augen wirken dumpf, als Silan schließlich seinen Blick auffängt. Er weicht den Jungs aus, als diese auf ein Zeichen von Kayhan hin das Büro verlassen.
„Silan, mein Junge“, flüstert Kayhan.
Silan schüttelt den Kopf. Nein. Kayhan ist stark, er ist drahtig und flink und der beste Boxtrainer der Welt. Er ist immer für ihn da und schützt ihn, lässt nicht zu, dass jemand ihm weh tut. Hat ihm Unterschlupf gewährt, als es zu Hause besonders schlimm war. Und hat sich seinem Vater gestellt, als der betrunken und wütend eines Nachts vor der Halle stand und verlangte, dass sein Versagersohn endlich nach Hause kommt. Dass er ihm schon beibringen würde, was man fürs Leben braucht. Nein, Kayhan ist niemand, der zusammengesunken und hilflos auf einem Stuhl sitzt. Er …
„Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll“, sagt Kayhan. Doch Silans Kopf ist gefüllt von einem einzigen Wort, das immer größer und lauter wird und endlose Bahnen in seinem Inneren zieht - er hört nicht mehr alles, was Kayhan sagt.
Nein nein nein nein „… zu spät erkannt -“ Nein nein nein nein „… noch ein paar Monate -“
Nein nein nein nein - „NEIN!“, schreit Silan. „Nein, niemals, was für … was für eine Scheiße, eine riesengroße Scheiße, wie kannst du sowas nur machen! FUCK!“
Alles um ihn dreht sich, dehnt sich aus, zieht sich gleichzeitig wieder zusammen. Er dreht sich um und stolpert zur Tür.
Ich muss hier weg, muss raus, muss weg von Kayhan, von den anderen. Ich muss allein sein, muss verstehen was hier gerade passiert.
Er stürzt aus der Trainingshalle auf die dunkle Straße, kann kaum etwas sehen, wischt sich wütend die Tränen vom Gesicht und rennt dann weiter, immer weiter, bis er irgendwann stehen bleiben muss, weil er vor lauter Schluchzen keine Luft mehr bekommt. Und dann setzt er sich, setzt sich in einen Hauseingang, vergräbt das Gesicht in den Armen und lässt alle Kontrolle von sich fallen.
Nach einiger Zeit beruhigt er sich, starrt stumpf vor sich hin.
Kayhan, Kayhan wird mich allein lassen, so wie alle anderen mich auch allein gelassen haben. Vater, Gojko, selbst Mutter. Nur Kayhan habe ich noch. Und … er erstarrt. Er sieht Kayhans Gesicht vor sich, wie bleich und ausgezehrt er ausgesehen hat. Wie verzweifelt, als er vorhin versuchte, zu erklären, was los ist. Und er, Silan, war einfach abgehauen, hatte ihn allein gelassen, hatte zu viel Angst gehabt vor dem, was er hören würde.
Er springt auf und beginnt, den Weg, den er gekommen war, zurückzulaufen.
Als er wenige Minuten später ins Trainerbüro tritt, sitzt Kayhan immer noch auf seinem Stuhl, zusammengesunken, den Blick auf ein Poster von Holyfield gerichtet. Doch er sieht Silan an, als dieser auf ihn zukommt, sich hinunterbeugt und ihn umarmt. Silan umarmt Kayhan und hält ihn fest. Er hält ihn fest, als dessen Schultern zu beben beginnen, erst ganz leicht und dann immer stärker.
Wenn Kayhan nicht mehr stark sein kann, würde er es für ihn sein. Kayhan kann sich