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Mir wäre die Stimmung beim Leser wichtig.
Leuchtende Herzen
Gedankenverloren saß sie am Küchentisch und nippte an ihrer Tasse. Dabei glitt ihr Blick durch das offene Fenster, und weiter wandelte er verträumt dem nahen Waldrandes entlang, um dann an einem Liebespaar haftenzubleiben, das sich soeben leidenschaftlich küsste. Sie beobachtete das Pärchen, lächelte und murmelte: "Ja, ja diese jungen Leute."
"Was hast du gesagt?", fragte ihr Ehemann und ließ dabei seine Zeitung sinken. Er saß ihr gegenüber am Küchentisch und stand seit längerem mit seinem Hörgerät auf dem Kriegsfuß.
Sie stellte ihre Tasse überaus behutsam ab und sah ihrem Mann geradewegs ernst ins Gesicht, in einer Weise, die ihm fremd war und die er von ihr so nicht kannte.
"Sage mir, liebst du mich noch?"
"Natürlich liebe ich dich noch." Dabei legte er seine Zeitung endgültig zur Seite.
"Nach all den Jahren noch genauso wie früher?"
"Wie früher, mein Liebes, nur anders."
"Wie meinst du das?"
"In den stürmischen Jahren unserer Jugend, da haben wir unsere Individualität gelebt. Früher waren wir zwei Seelen, mein Liebes. Heute sind wir eins."
"Weißt du noch, wie wir zueinanderfanden?"
"Aber ja, mein Liebes. Es war im Winter während des Krieges, auf dem Schwarzmarkt. Ich sah dich inmitten der Menge von zerlumpten, bettelnden Menschen und mein Herz schlug schneller. Ich lief dir nach. Du warst so blass und zart wie mein weißer Atem und dabei spürte ich die Angst in mir, du könntest genauso schnell vergehen. Dann spaltete das hilflose Aufschreien der Sirenen die frostige Luft und ich nahm einfach deine Hand. Wir suchten gemeinsam Schutz vor der mörderischen Fracht der anrückenden Bomber in einem nahen Keller, der mit weinenden und klagenden Menschen vollgestopft war. Wir drängten uns dazwischen. Du hast geweint, als die Bomben wütend und brüllend die Erde aufwühlten, um uns zu finden. Eingeklemmt in einer Menge vor Todesangst schwitzender Menschenleiber spürte ich deinen zerbrechlichen Körper zittern und nahm dich beschützend in meine Arme."
"Von diesem Augenblick an warst du mein Held."
"Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden vor Angst, mein Liebes", gab er zu und schaute beschämt auf den Boden.
"Das hast du mir nie gesagt."
"Natürlich nicht, mein Liebes. Ich hatte Angst, ich sei dir nicht gut genug und du könntest mich verlassen."
"Du warst immer der Kapitän in unserer Familie und gabst den Kurs vor."
"Ja schon, aber du mein Liebes warst der Steuermann", dabei berührte er zärtlich ihre Hand und fing an, sie zu streicheln. Er erhob seinen Blick und sah ihr ins Gesicht und dachte: Ihre Falten sind wie die Lebensringe in einem Baum und diese erzählen ihre eigene Geschichte.
"Mein Herz schlägt nach all den Jahren immer noch schneller, wenn ich dich berühre, mein Liebes", flüsterte er ihr zu.
"Du bist ein zärtlicher Mann", sagte sie und ihre Augen leuchteten.
"Es wird Zeit, das Steuerrad des Lebensschiffes loszulassen. Wir brauchen kein Ziel mehr, mein Liebes. Wir steigen um in den Zug, der mit uns dann in die Ewigkeit fährt, und wir blicken nur noch durch ein Fenster auf diese Welt."
"Du hast recht und sollte ich vor dir an einer Station aussteigen müssen, werde ich auf dich dort warten."
"Oder ich auf dich, mein Liebes."
Er stand auf und küsste ihre Augen.