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Lieber leben
Wang öffnete mühsam die Augen. Langsam kam er wieder zu sich. Er war weggedöst, genauso wie die beiden anderen Mönche. Irgendwie brachte er es fertig, die Augenlider ganz zu öffnen und umherzuschauen.
Der Kerker war unverändert. Karge Steinwand, halbdunkel, Stroh auf dem Boden, 3 Pritschen an der Wand, jede mit einem Mönch besetzt.
Wang war in der Mitte und versuchte nun, sich aufzurichten. Das Gas hörte er immer noch leise zischend einströmen.
Benebelt schaute er nach links. Dort saß Gong, in sich zusammengesackt, Speichel lief ihm aus dem Mund. Gong war tot.
Wang schaute nun zur rechten Seite nach Li. Li war ebenfalls tot.
„Was war das nur für eine Schnapsidee“, fluchte Wang vor sich hin.
„Was kommt nach dem Tod?“, so lautete die Frage.
Wang hatte sie gestellt, und sie hatten die ganze Nacht diskutiert. Ohne konkretes Ergebnis leider.
Schließlich fand Li die Lösung.
„Wir können es nur herauskriegen, wenn wir sterben. Oder habt ihr etwa Angst davor?“, so lautete die provokative Fragestellung.
Gemeinsam gingen sie zum Abt und baten um Erlaubnis, den Todeskerker benutzen zu dürfen. Der Abt willigte paradoxerweise ein.
„Meinetwegen“, sagte er und schaute gelangweilt aus dem Fenster.
In diesem Moment rutschte Wangs Herz in die Hose. Eine gewisse Angst empfand er nun doch, aber das konnte er sich nicht anmerken lassen.
Alle 3 Mönche begaben sich in ihre Kammer, legten eine feierliche Robe an und trafen sich im Innenhof wieder.
Die Novizen und die anderen Mönche blickten verwundert.
„Wir werden jetzt erforschen, was nach dem Tod kommt“, erklärte Li cool.
Gemeinsam schritten sie zum Todeskerker. Gong ließ das Gas einströmen und jeder nahm auf seiner Pritsche Platz. Die Tür wurde nicht abgeschlossen, nur angelehnt. Niemand würde sie hindern, und von den Todesforschern würde sowieso niemand auf die Idee kommen, den Kerker freiwillig zu verlassen.
Wangs Augenlider wurden wieder schwerer und Millimeter um Millimeter sanken sie nach unten. Er wusste, dass er ein zweites Mal nicht mehr aufwachen würde.
„Jetzt reicht’s“, sagte er sich.
„Gong und Li wissen jetzt, was nach dem Tod kommt. Deswegen sollte man das Experiment als gelungen bezeichnen“, fand er auf einmal.
Mühsam stand er auf, jede Bewegung verursachte enorme Kopfschmerzen. Er torkelte zur massiven Holztür, rackerte an ihr und sie ließ sich mit einem lauten Quietschen öffnen.
„Was für ein schönes Geräusch!“, dachte er glücklich.
Bevor er den Kerker verließ, warf er noch einen Blick auf Gong und Li.
Ihre Leichen sahen ziemlich hässlich aus. Zugesabbert, Zunge hing raus, eklig.
Ein wenig plagte ihn doch das schlechte Gewissen, das er sie im Tode im Stich ließ, aber eben nur ein wenig.
Er stellte das Gas aus und begab sich auf seinen schwachen Beinen ins Freie.
Dann ließ er sich von der warmen Frühlingssonne bescheinen und hörte entspannt dem Gezwitscher der Spatzen zu.
„Den Tod werde ich ein anderes Mal erforschen. Dann, wenn meine Zeit gekommen ist“, dachte er zufrieden.