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Lisas Gruppe
Lisas Gruppe
„Jeder arbeitet, wie er es für gut hält; das Unterordnungsverhältnis wird aufgehoben, das juristische Denken hat hiermit aufgehört.“
(Gustav Landauer im April 1919 in München, ermordet am 2. Mai 1919 im Gefängnis München-Stadlheim)
An diesem Morgen stand ich sehr früh auf. Ich hatte die Nacht hindurch gelauscht, hatte gewartet, daß die Schüsse endlich aufhörten. Es waren drei furchtbare Tage gewesen. Ich werde sie nie vergessen. Ich war noch sehr jung, eine Woche vorher gerade 14 geworden. Was lag da bloß für ein Monat hinter uns …
Die Schießereien seit dem 1. Mai waren furchtbar. Mutter hätte mich am liebsten unterm Bett versteckt. Noch dazu war sie sehr krank und die Furcht hatte ihren Zustand verschlimmert. Ich wollte wie in den letzten Tagen etwas zu Essen organisieren, aber sie fing gleich zu jammern an, wenn ich gehen wollte. Ein wenig Brot hatten wir noch, also blieb ich vorerst.
Aber nun, zwei Tage später, war alles aufgebraucht und Mutter ging es schlechter. Ich mußte etwas tun, sie brauchte Suppe, Brot, irgendwas. Alles schien ruhig zu sein an diesem Morgen. Während sie noch schlief, endlich einmal richtig schlief, noch bevor die Sonne aufgegangen war, machte ich mich auf den Weg.
Ich wollte zu Lisa. Ihre Gruppe war in den letzten Wochen der beste Weg gewesen, an Essen heranzukommen. Ich wünschte mir oft, daß es so eine Gruppe schon während des Krieges gegeben hätte. Dann hätte ich meiner Mutter etwas von der Last abnehmen können, für uns zu sorgen.
Als Näherin in einem Münchner Kleinbetrieb konnte Mutter in den ersten beiden Kriegsjahren noch arbeiten. Doch von Berlin aus wurden Armee-Aufträge nur noch an Großbetriebe vergeben. Kleine Nähereien mußten sich mit privaten Aufträgen durchschlagen. Material wurde ihnen kaum noch zugeteilt. Garn und Stoff wurden knapp, und als im Winter die Werkstatt aus Mangel an Kohle nicht mehr beheizt werden konnten, verkaufte der Besitzer alles an einen Großunternehmer in Bremen. Mutter verlor ihre Arbeit.
Eine Woche später bekamen wir einen Brief, in dem uns mitgeteilt wurde, daß Vater nicht zurückkehren würde. So brach der Krieg in mein Leben ein als ich elf war – und veränderte es mit einem Schlag.
Wir hatten ein wenig Geld gespart, das aber rasch an Wert verlor. Die Mieten stiegen schnell und Mutter konnte unsere Wohnung schon bald nicht mehr bezahlen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir zwei Monate lang jeden Tag durch die Straßen zogen auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Nachts schliefen wir bei einer Freundin und ehemaligen Kollegin meiner Mutter, deren Mann ebenfalls an der Front war. Auch sie bekam einen dieser gefürchteten Briefe. Bald darauf nahm sie sich das Leben. 24 Jahre jung und kinderlos – das erste zivile Opfer, das ich kannte.
Wir konnten ihre Wohnung übernehmen und meine Mutter verdiente mit unzähligen Gefälligkeiten und kleinen Hilfsarbeiten das nötige Geld. Von manchen Hamster-Ausflügen kehrte sie erst spät in der Nacht zurück. Sie wurde nie erwischt wenn sie ein paar Kohlrüben organisiert hatte oder – selten – einen mageren Hasen. Ich ging wieder zur Schule. Drei Lehrerinnen und einen alten Lehrer gab es dort noch, alle anderen waren auf andere Schulen verteilt worden oder an der Front. Viel habe ich nicht gelernt in diesen Jahren. Und im Winter war die Schule bitterkalt.
Nach dem Ende des Krieges hatte sich die Situation nur teilweise entspannt. Wir litten noch immer Hunger und schlugen uns durch, so gut es ging. Mutter wurde immer öfter krank und ich begann, mir kleine Arbeiten zu suchen, um zu unserem Unterhalt beizutragen.
Seit zwei Wochen nun gab es Lisas Gruppe. Sie teilte Kinder in Gruppen ein und schickte sie zu den Höfen rings um München betteln oder – wo diese Möglichkeit sich ergab – stehlen. Einige Gruppen klapperten auch die städtischen Gasthäuser und Trinkhallen ab und bettelten an den Hintereingängen. Und nicht selten erbarmte sich ein Wirt und gab etwas. Ob er das aus reiner Menschlichkeit tat oder in der Hoffnung auf einen Ruf als Wohltäter, das war uns gleich.
Auf dem Weg zu Lisa sah ich mich vorsichtig um. In unserer Gegend wurde schon seit dem ersten Tag nicht mehr geschossen, wir hörten die Schüsse nur noch aus anderen Stadtteilen. Ich wußte nicht, was das bedeutete, ahnte nur, daß die Räterepublik am Ende war. Ich hoffte, ohne Probleme bis zu Lisas Wohnung durchzukommen und hatte furchtbare Angst.
Lisa war natürlich nicht ihr richtiger Name. Überhaupt wußte niemand besonders viel über sie. Sie soll an den Spartakistenaufständen beteiligt gewesen sein und Rosa Luxemburg gekannt haben. Und ihrem Dialekt nach zu urteilen mußte sie aus Berlin stammen. Sie lachte viel und alle mochten sie. Wenn sie lachte, konnte man kleine Fältchen an den Rändern ihrer Augen bemerken. Sie war vielleicht Ende Zwanzig, klein, blond und in meinen Augen einfach wunderschön.
Sicher war ich mit meinen 14 Jahren schon in ein Mädchen verliebt gewesen und hatte sogar schon eines geküßt – auf dem Schulhof. Ich erinnere mich noch genau daran, wie aufregend das war. Aber Lisa weckte in mir ganz neue Gefühle.
Ich starrte sie immer nur an, und wenn sie meine Blicke erwiederte, dann drehte ich mich schnell weg und wurde puterrot im Gesicht. Ich traute mich kaum mit ihr zu sprechen. Sie hingegen sprach viel, teilte die Leute ein, immer ältere zusammen mit jüngeren.
Sie berichtete uns auch von den neuesten Entwicklungen in München, dem Aufbau der Räterepublik, den Versuchen unserer Gegner, die neue Volksbeauftragtenregierung zu vertreiben. Sie lachte, wenn sie immer neue Anekdoten zum besten gab, wie die Republikanische Soldatenwehr am 13. April versucht hatte, unsere Rote Armee zu besiegen. Wie schockiert sie waren, als der erste Schuß einen von ihnen verwundete. Leute der Roten Armee ließen die Hosen runter und zeigten den verblüfften Soldaten ihr Hinterteil. Sie erzählte von gefangengenommenen Soldaten, die zwischen Erschießen und Anpinkeln wählen konnten. Und immer wieder ihr Lachen. Es gab den Ereignissen einen Sinn, auch wenn wir sie nicht vollständig verstehen konnten.
Am Abend vor dem ersten Mai warteten wir auf sie in ihrer Wohnung. Wie jeden Abend sollte der Einsatzplan für den nächsten Morgen besprochen werden. Wer hatte von welchem Wirt was gehört? – Wer hatte Lieferungen bekommen? – Wer war spendabel? – und so fort.
Lisa kam später als sonst. Bleich berichtete sie, daß sich vor der Stadt Freicorps sammelten, zusammen mit der Reichswehr stünden sie kurz vor einem Einmarsch. Sie erzählte, daß die Rote Armee zehn Mitglieder der Thulegesellschaft getötet hatte und daß die Vergeltung jederzeit erwartet werden mußte.
Sie sollte Recht behalten. Die Verteidigung der Räterepublik hielt beinahe drei Tage stand. Mehr als 600 Münchnerinnen und Münchner wurden erschossen, wer nur irgendwie mit der Volksbeauftragtenregierung in Verbindung gebracht wurde und nicht floh, überlebte nicht.
Und am Stadtrand weigerten sich die Soldaten eines Bataillons, das eigentlich auf unserer Seite hätte stehen sollen, einzugreifen. Ein kleiner dunkelhaariger Mann stieg auf einen Stuhl und brüllte: „Kameraden, wir sind doch keine Revolutionsgarde für die hergelaufenen Juden. Feldwebel Schüssler hat ganz recht, wenn er vorschlägt, dass wir neutral bleiben.”
Zum Dank wurde er später in eine Kommission berufen, deren Aufgabe es war, Kollaborateure der Räterepublik aufzuspüren. Diese Kommission war sehr erfolgreich und etliche Urteile wurden gesprochen. Die wiedergekehrte Regierung nahm Rache. Der Kleine Mann wurde daraufhin an die Münchner Universität geholt, um das Handwerk des militärischen Nachrichtendienstes zu erlernen. Dort traf er Gönner, die ihn zu einem kleinen Treffen der winzigen Deutschen Arbeiterpartei einluden, die sieben Mark und fünfzig Pfennig in der Parteikasse hatte.
So begann Adolf Hitler seinen Weg. Manchmal empfinde ich es heute als zynisch, daß nicht nur sein Schicksal, sondern auch das anderer späterer Nazigrößen wie Rudolf Heß knapp einen Monat lang in den Händen der Räterepublik lagen. Oft wünsche ich mir im Nachhinein, daß sie alle zusätzlich zu den zehn Mitgliedern der Thulegesellschaft getötet worden wären.
Ich weiß, daß die Geschichte so nicht funktioniert, daß sie nicht von einzelnen Menschen gemacht wird, sondern von Gruppen und ihren Interessen.
Aber ich bin alt geworden. Mein Leben liegt zum größten Teil hinter mir und der kleine Mann mit dem lächerlichen Bart hat es beschwerlich und traurig gemacht. München liegt in weiter Ferne. Daher gestatte ich mir manchmal diese Schwäche, diesen Wunsch: In meinen Träumen kehre ich nach München zurück, in die Stadt meiner Geburt – und ändere die Geschichte …
Nun, drei Tage nach Beginn der Kämpfe, war Lisa nicht da, ihre Wohnung leer. Ich hatte in den letzten Tagen ja keinen Kontakt zur Gruppe gehabt. Ein Mädchen stand wie ich verwirrt vor dem Haus. Sie weinte. Ihre Mutter war erschossen worden, weil sie die Geliebte eines KPD-Mitglieds gewesen war und in dessen Wohnung gefunden wurde. Sie war 15 und hieß Henriette. Ich kannte sie aus Lisas Gruppe.
Wir gingen gemeinsam auf die Suche nach etwas Eßbarem. Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, hatten wir einigen Leichen Schuhe und Kleidung abgenommen. Wir konnten alles gegen ein paar Kohlrüben eintauschen. Stolz brachte ich meinen Anteil nach Hause zu meiner Mutter.
Literatur: Hitlers München – Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung, David Clay Large