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Lisas Gruppe

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28.06.2006
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Lisas Gruppe

Lisas Gruppe

„Jeder arbeitet, wie er es für gut hält; das Unterordnungsverhältnis wird aufgehoben, das juristische Denken hat hiermit aufgehört.“
(Gustav Landauer im April 1919 in München, ermordet am 2. Mai 1919 im Gefängnis München-Stadlheim)

An diesem Morgen stand ich sehr früh auf. Ich hatte die Nacht hindurch gelauscht, hatte gewartet, daß die Schüsse endlich aufhörten. Es waren drei furchtbare Tage gewesen. Ich werde sie nie vergessen. Ich war noch sehr jung, eine Woche vorher gerade 14 geworden. Was lag da bloß für ein Monat hinter uns …
Die Schießereien seit dem 1. Mai waren furchtbar. Mutter hätte mich am liebsten unterm Bett versteckt. Noch dazu war sie sehr krank und die Furcht hatte ihren Zustand verschlimmert. Ich wollte wie in den letzten Tagen etwas zu Essen organisieren, aber sie fing gleich zu jammern an, wenn ich gehen wollte. Ein wenig Brot hatten wir noch, also blieb ich vorerst.
Aber nun, zwei Tage später, war alles aufgebraucht und Mutter ging es schlechter. Ich mußte etwas tun, sie brauchte Suppe, Brot, irgendwas. Alles schien ruhig zu sein an diesem Morgen. Während sie noch schlief, endlich einmal richtig schlief, noch bevor die Sonne aufgegangen war, machte ich mich auf den Weg.
Ich wollte zu Lisa. Ihre Gruppe war in den letzten Wochen der beste Weg gewesen, an Essen heranzukommen. Ich wünschte mir oft, daß es so eine Gruppe schon während des Krieges gegeben hätte. Dann hätte ich meiner Mutter etwas von der Last abnehmen können, für uns zu sorgen.

Als Näherin in einem Münchner Kleinbetrieb konnte Mutter in den ersten beiden Kriegsjahren noch arbeiten. Doch von Berlin aus wurden Armee-Aufträge nur noch an Großbetriebe vergeben. Kleine Nähereien mußten sich mit privaten Aufträgen durchschlagen. Material wurde ihnen kaum noch zugeteilt. Garn und Stoff wurden knapp, und als im Winter die Werkstatt aus Mangel an Kohle nicht mehr beheizt werden konnten, verkaufte der Besitzer alles an einen Großunternehmer in Bremen. Mutter verlor ihre Arbeit.
Eine Woche später bekamen wir einen Brief, in dem uns mitgeteilt wurde, daß Vater nicht zurückkehren würde. So brach der Krieg in mein Leben ein als ich elf war – und veränderte es mit einem Schlag.
Wir hatten ein wenig Geld gespart, das aber rasch an Wert verlor. Die Mieten stiegen schnell und Mutter konnte unsere Wohnung schon bald nicht mehr bezahlen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir zwei Monate lang jeden Tag durch die Straßen zogen auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Nachts schliefen wir bei einer Freundin und ehemaligen Kollegin meiner Mutter, deren Mann ebenfalls an der Front war. Auch sie bekam einen dieser gefürchteten Briefe. Bald darauf nahm sie sich das Leben. 24 Jahre jung und kinderlos – das erste zivile Opfer, das ich kannte.
Wir konnten ihre Wohnung übernehmen und meine Mutter verdiente mit unzähligen Gefälligkeiten und kleinen Hilfsarbeiten das nötige Geld. Von manchen Hamster-Ausflügen kehrte sie erst spät in der Nacht zurück. Sie wurde nie erwischt wenn sie ein paar Kohlrüben organisiert hatte oder – selten – einen mageren Hasen. Ich ging wieder zur Schule. Drei Lehrerinnen und einen alten Lehrer gab es dort noch, alle anderen waren auf andere Schulen verteilt worden oder an der Front. Viel habe ich nicht gelernt in diesen Jahren. Und im Winter war die Schule bitterkalt.
Nach dem Ende des Krieges hatte sich die Situation nur teilweise entspannt. Wir litten noch immer Hunger und schlugen uns durch, so gut es ging. Mutter wurde immer öfter krank und ich begann, mir kleine Arbeiten zu suchen, um zu unserem Unterhalt beizutragen.
Seit zwei Wochen nun gab es Lisas Gruppe. Sie teilte Kinder in Gruppen ein und schickte sie zu den Höfen rings um München betteln oder – wo diese Möglichkeit sich ergab – stehlen. Einige Gruppen klapperten auch die städtischen Gasthäuser und Trinkhallen ab und bettelten an den Hintereingängen. Und nicht selten erbarmte sich ein Wirt und gab etwas. Ob er das aus reiner Menschlichkeit tat oder in der Hoffnung auf einen Ruf als Wohltäter, das war uns gleich.

Auf dem Weg zu Lisa sah ich mich vorsichtig um. In unserer Gegend wurde schon seit dem ersten Tag nicht mehr geschossen, wir hörten die Schüsse nur noch aus anderen Stadtteilen. Ich wußte nicht, was das bedeutete, ahnte nur, daß die Räterepublik am Ende war. Ich hoffte, ohne Probleme bis zu Lisas Wohnung durchzukommen und hatte furchtbare Angst.

Lisa war natürlich nicht ihr richtiger Name. Überhaupt wußte niemand besonders viel über sie. Sie soll an den Spartakistenaufständen beteiligt gewesen sein und Rosa Luxemburg gekannt haben. Und ihrem Dialekt nach zu urteilen mußte sie aus Berlin stammen. Sie lachte viel und alle mochten sie. Wenn sie lachte, konnte man kleine Fältchen an den Rändern ihrer Augen bemerken. Sie war vielleicht Ende Zwanzig, klein, blond und in meinen Augen einfach wunderschön.
Sicher war ich mit meinen 14 Jahren schon in ein Mädchen verliebt gewesen und hatte sogar schon eines geküßt – auf dem Schulhof. Ich erinnere mich noch genau daran, wie aufregend das war. Aber Lisa weckte in mir ganz neue Gefühle.
Ich starrte sie immer nur an, und wenn sie meine Blicke erwiederte, dann drehte ich mich schnell weg und wurde puterrot im Gesicht. Ich traute mich kaum mit ihr zu sprechen. Sie hingegen sprach viel, teilte die Leute ein, immer ältere zusammen mit jüngeren.
Sie berichtete uns auch von den neuesten Entwicklungen in München, dem Aufbau der Räterepublik, den Versuchen unserer Gegner, die neue Volksbeauftragtenregierung zu vertreiben. Sie lachte, wenn sie immer neue Anekdoten zum besten gab, wie die Republikanische Soldatenwehr am 13. April versucht hatte, unsere Rote Armee zu besiegen. Wie schockiert sie waren, als der erste Schuß einen von ihnen verwundete. Leute der Roten Armee ließen die Hosen runter und zeigten den verblüfften Soldaten ihr Hinterteil. Sie erzählte von gefangengenommenen Soldaten, die zwischen Erschießen und Anpinkeln wählen konnten. Und immer wieder ihr Lachen. Es gab den Ereignissen einen Sinn, auch wenn wir sie nicht vollständig verstehen konnten.

Am Abend vor dem ersten Mai warteten wir auf sie in ihrer Wohnung. Wie jeden Abend sollte der Einsatzplan für den nächsten Morgen besprochen werden. Wer hatte von welchem Wirt was gehört? – Wer hatte Lieferungen bekommen? – Wer war spendabel? – und so fort.
Lisa kam später als sonst. Bleich berichtete sie, daß sich vor der Stadt Freicorps sammelten, zusammen mit der Reichswehr stünden sie kurz vor einem Einmarsch. Sie erzählte, daß die Rote Armee zehn Mitglieder der Thulegesellschaft getötet hatte und daß die Vergeltung jederzeit erwartet werden mußte.

Sie sollte Recht behalten. Die Verteidigung der Räterepublik hielt beinahe drei Tage stand. Mehr als 600 Münchnerinnen und Münchner wurden erschossen, wer nur irgendwie mit der Volksbeauftragtenregierung in Verbindung gebracht wurde und nicht floh, überlebte nicht.
Und am Stadtrand weigerten sich die Soldaten eines Bataillons, das eigentlich auf unserer Seite hätte stehen sollen, einzugreifen. Ein kleiner dunkelhaariger Mann stieg auf einen Stuhl und brüllte: „Kameraden, wir sind doch keine Revolutionsgarde für die hergelaufenen Juden. Feldwebel Schüssler hat ganz recht, wenn er vorschlägt, dass wir neutral bleiben.”
Zum Dank wurde er später in eine Kommission berufen, deren Aufgabe es war, Kollaborateure der Räterepublik aufzuspüren. Diese Kommission war sehr erfolgreich und etliche Urteile wurden gesprochen. Die wiedergekehrte Regierung nahm Rache. Der Kleine Mann wurde daraufhin an die Münchner Universität geholt, um das Handwerk des militärischen Nachrichtendienstes zu erlernen. Dort traf er Gönner, die ihn zu einem kleinen Treffen der winzigen Deutschen Arbeiterpartei einluden, die sieben Mark und fünfzig Pfennig in der Parteikasse hatte.
So begann Adolf Hitler seinen Weg. Manchmal empfinde ich es heute als zynisch, daß nicht nur sein Schicksal, sondern auch das anderer späterer Nazigrößen wie Rudolf Heß knapp einen Monat lang in den Händen der Räterepublik lagen. Oft wünsche ich mir im Nachhinein, daß sie alle zusätzlich zu den zehn Mitgliedern der Thulegesellschaft getötet worden wären.
Ich weiß, daß die Geschichte so nicht funktioniert, daß sie nicht von einzelnen Menschen gemacht wird, sondern von Gruppen und ihren Interessen.
Aber ich bin alt geworden. Mein Leben liegt zum größten Teil hinter mir und der kleine Mann mit dem lächerlichen Bart hat es beschwerlich und traurig gemacht. München liegt in weiter Ferne. Daher gestatte ich mir manchmal diese Schwäche, diesen Wunsch: In meinen Träumen kehre ich nach München zurück, in die Stadt meiner Geburt – und ändere die Geschichte …

Nun, drei Tage nach Beginn der Kämpfe, war Lisa nicht da, ihre Wohnung leer. Ich hatte in den letzten Tagen ja keinen Kontakt zur Gruppe gehabt. Ein Mädchen stand wie ich verwirrt vor dem Haus. Sie weinte. Ihre Mutter war erschossen worden, weil sie die Geliebte eines KPD-Mitglieds gewesen war und in dessen Wohnung gefunden wurde. Sie war 15 und hieß Henriette. Ich kannte sie aus Lisas Gruppe.
Wir gingen gemeinsam auf die Suche nach etwas Eßbarem. Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, hatten wir einigen Leichen Schuhe und Kleidung abgenommen. Wir konnten alles gegen ein paar Kohlrüben eintauschen. Stolz brachte ich meinen Anteil nach Hause zu meiner Mutter.

Literatur: Hitlers München – Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung, David Clay Large

 

Hallo Karl Baumann,

die Thematik, die du in deiner Geschichte aufarbeitest, hat mich sehr angesprochen. Etwas weniger ansprechend fand ich die Umsetzung.

Mein Hauptkritikpunkt richtet sich hauptsächlich darauf, dass mir manches zu distanziert erzählt worden ist. Wenn ich mich um die Geschehnisse rund um den ersten Weltkrieg sachlich informieren möchte, dann nehme ich lieber ein Geschichtsbuch in die Hand – von einer Kurzgeschichte erwarte ich da etwas anderes.
Gelungen in diesem Zusammenhang fand ich eigentlich nur die Passagen rund um Lisa – aber die Stellen, in denen du über die damaligen Lebensumstände oder Hitlers Rede erzählst, lesen sich wirklich wie in einem Buch.
Dabei möchte man doch wissen, wie die Protagonisten die Geschehnisse empfunden habe, z. B. wie war es für den Protagonisten Hunger zu haben? Konnte er manchmal nicht schlafen? Hatte er Bauchschmerzen? Wie empfindet er die Krankheit der Mutter? Hat er eventuell Angst, dass auch sie sterben könnte? Welche Krankheit hat die Mutter überhaupt? Solche Dinge klammerst du momentan noch sehr stark aus.

Könntest du diese Stellen noch ähnlich wie die Lisa Passagen halten, dann würde mir die Geschichte sicherlich gut gefallen.

Liebe Grüße, Bella

 

Hallo Karl Baumann,

zunächst einmal willkommen auf KG.de.

Leider muss ich mich der Kritik von Bella anschließen. Besonders der Mitteil hat sich sehr wie ein Geschichtsbuch gelesen.
Ich weiß aus Erfahrung, dass es nicht so einfach ist, irgendwie auch die geschichtlichen Ereignisse in eine Kurzgeschichte einzubringen. Doch sollte das Hauptaugenmerk auf dem Wort "Kurzgeschichte" liegen und nicht auf der Historik selbst.

Ich hätte es auch begrüßt, wenn du den Schreibstil so durchgezogen hättest, wie am Anfang. Da war es eine Erlebnisgeschichte, die ein bisschen mit historischen Daten gespickt war.
Gut, ich wusste zunächst nicht, in welcher Zeit genau die Handlung spielt. Aber der Hinweis von Rosa Luxenburg hätte schon vollkommen genügt, den Leser in die Zeit zu versetzen.

Wie Bella schon sagte, wenn ich mehr über die Umstände der Zeit lesen will, dann schlage ich ein Geschichtsbuch auf. Aber über die menschlichen Gefühle etwas zu erfahren, dafür bedarf es einer "Erlebnisgeschichte".

Ich würde vorschlagen, dass du aus dem Mitteilteil des Textes ein bisschen Historik herausnimmst und dich mehr auf die Lisa-Geschichte konzentrierst.

Aber ansonsten habe ich die Geschichte gern gelesen.

Viele Grüße
bambu

 

Danke für die Anregungen

Hallo,

danke für Eure Anregungen. Ich verstehe den Kern Eurer Kritik, sehe mich aber außerstande, etwas an dem Grund dafür zu verändern. Dafür zwei Gründe:

1. In meinen Augen ist es kein Schaden, wenn eine Geschichte, die in hisorischem Rahmen spielt, einige Fakten der Zeit als Quasi-Geschichtsbuch wiedergibt. Das wird dann natürlich ein wenig trockener. Aber man kann nunmal nur wenig Wissen über die Münchner Räterepublik voraussetzen. Insofern haben historische Geschichten immer auch einen didaktischen Auftrag. Sonst sind sie bloße Story, Stimmungsbild. Das leitet gleich zum zweiten Punkt über:

2. Diese historische Geschichte ist in der Ich-Form geschrieben. Von einem alten Mann noch dazu. Der Erzählende ist also Teil des Setups. Ich schreibe im Prinzip die Geschichte, wie der Alte Mann von seiner Jugend erzählt. Ich muß ihn also sprechen lassen. Und wenn der alte Mann die Geschichte eben deshalb erzählt, weil er den Punkt vermitteln will, daß das Schicksal Deutschlands in diesen Tagen in den Händen der Räterepublik lag, dann muß er zwei Dinge tun: Erklären, was passiert ist, also den Geschichtsbuch-Teil erzählen – und erzählen, in welchem Rahmen er das erlebt hat.

Das waren meine Beweggründe. Nur um sie zu verdeutlichen, nicht um sie zu rechtfertigen. Das sind auch die Gründe dafür, daß ich mich außerstande sehe, die Geschichte in Richtung Euerer Kritik zu verändern. Leider.

Möglicherweise ist es mir einfach nicht gelungen, das Gleichgewicht in den beiden Aussagen des alten Mannes zu finden. Oder die ganze Geschichte bräuchte mehr Platz. Vielleicht wäre es besser als erstes Kapitel eine shistorischen Romans gewesen und eignet sich nicht als Kurzgeschichte ... ich weiß es nicht.

Ich habe Euren im Übrigen sehr konstruktiven Kritiken aber auch entnommen, daß Euch das Setup gefallen hat. Und das hat mich gefreut.

Danke
KB

 

Hallo Karl Baumann,

du hast mir mit deinem letzten Absatz eigentlich schon meine Antwort aus dem Mund genommen.
Ich wollte nämlich gerade sagen, dass solch geschichtliche Erklärung in Kurzgeschichten sehr viel mehr wiegen, als in einem Roman. In Letzterem fällt eine halbe oder auch ganze Seite geschichtliche Erklärung längst nicht so auf, wie in einer 1-2seitigen Story.
Daher kann ich schon nachvollziehen, dass es dir ein Bedürfnis war, auch etwas trockenen Stoff über die historischen Hintergründe zu liefern. Und uns als Leser musst du auch wieder verstehen, dass gerade diese "trockenen" Teile bei kurzen Texten ins Auge fallen.

Aber du hast schon richtig erkannt. Gefallen hat mir die Geschichte in irgendeiner Weise schon.

Viele Grüße
bambu

 

Stimme Bambu und dir zu - eine Kurzgeschichte ist meiner Meinung nach nicht dafür geeignet, ein genaues Bild der historischen Hintergründe zu liefern. In einem Roman ist das etwas völlig anderes - es wäre auch nervig bzw. teils unverständlich, wenn einem diese vorenthalten würden.

Bei Kurzgeschichten solltest du dich hier kürzer halten - notfalls könntest du ja einfach auf einen entsprechenden Link bei Wikipedia verweisen.

Lieben Gruß, Bella

 

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