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Maik, der Spieler
Seine Finger erforschten zaghaft das hölzerne Gefängnis, das ihn umgab. Über sich hörte er die Erde auf das Dach der Kiste prasseln. Zuerst fürchtete er, das Geräusch würde ihm das Trommelfell platzen lassen, dann, als Erde auf Erde fiel, klang es dumpf wie Musik, wenn man sich die Ohren zuhält. Die Kiste war zu eng, um darin zu sitzen, und für jemanden von Maiks Größe zu niedrig, um darin zu stehen. Er musste seinen Kopf leicht neigen, die Knie ein wenig anwinkeln, und schon jetzt dämmerten ihm die Schmerzen, die diese verkrampfte Körperhaltung in wenigen Stunden in seine Glieder fahren lassen würde. Vielleicht auch schon in einigen Minuten.
Durch die Aluminiumröhre, die von der Decke aus das Erdreich durchbohrte und an die Oberfläche ragte, drang kein Licht, weil sie über dem Boden einen
Knick machte. Aber durch diesen Luftschacht, den sie ihm als Versicherung präsentiert hatten, dass es sich lediglich um eine Strafaktion und nicht um eine Hinrichtung handelte, drangen die Gespräche und das ordinäre Gelächter von Eddie und Timbo.
Maik schloss die Augen und stellte fest, dass es nicht den geringsten Unterschied machte. Die Finsternis war absolut. Plötzlich änderte sich das gedämpfte Geräusch über ihm, und er begann zu Hyperventilieren, als er feststellte, dass sie die Erde festklopften. Sein Herz raste, und als Eddie durch die Röhre seinen Namen rief, schrie er auf.
„Ruhig, Junge, ich bin’s nur,“ lachte der Gangster. Timbo zog mit und ließ seinem Mund mit den zwei ausgeschlagenen Schneidezähnen das unechte Gegacker eines Politikers entfahren. Der plumpe Ex-Boxer wusste, dass man nicht reglos danebenstand, wenn der Boss von sich selbst glaubte, witzig gewesen zu sein. Das wäre Karrieregift. Oder Schlimmeres.
„Also, Maiky, vierundzwanzig Stunden.“ Maik hörte ein Feuerzeug. Eddie steckte sich also gerade eine von seinen langen weißen Frauenzigaretten an. „Wir sehen uns Junge.“ Dann entfernten sich Schritte. Maik war allein. Er drückte mit den Händen gegen die Decke, so fest er konnte: Sie bewegte sich nicht einen Millimeter. Wütend ließ er Luft durch seine gefletschten Zähne zischen. Warum hatte er sich von ihnen in diese Situation bringen lassen? Aufrecht stehend begraben wie Till Eulenspiegel, mit einem halben Meter Erde über sich, war Maik sich nicht mehr sicher, ob die Drahtschere nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre.
Vielleicht hätte Eddie sie ihm nicht mal alle abgeschnitten. Natürlich, Eddie war ein Irrer, sonst hätte er es niemals so weit auf dem Kiez gebracht. Aber er war doch... kein Monster. Fast hätte Maik gelacht, als er sich an die Geschichte mit dem vierzehnjährigen Schieberjungen erinnerte, der die empörende Menge von nicht ganz einem Gramm von Eddies Koks für eigene Pläne abgezwackt hatte. Der kleine Kacker hatte seinen Wagemut mit blutigen Lippen bezahlt, die Timbo in Eddies Auftrag mit einem Bogen Löschpapier und ein paar Tropfen Tabasco bearbeitet hatte.
Angeekelt rotzte Maik auf den Boden der Kiste. Doch, genau das war Eddie: Ein Monster. „Einen Finger für jeden Tausender, den du mir schuldest,“ hatte er gesagt. „Und da du keine fünfundzwanzig Wixgriffel hast, werd’ ich mich nach dem zehnten Knipser wohl an anderen Körperstellen bedienen müssen.“ Dabei hatte er sich mit der Drahtschere die Fingernägel gesäubert. „Es sei denn...“
„Was?“ hatte Maik gefragt, wobei seine Stimme dermaßen gezittert hatte, dass es wie ein zweisilbiges Wort geklungen hatte.
„Du bist doch ein Spieler, Maik. Einer meiner besten Kunden. Mein bester, wenn du dir angewöhnen könntest, deine Schulden etwas pünktlicher und vollständiger zu bezahlen. Ich schlage dir ein Spiel vor.“
„Was für ein Spiel?“
„Hast du auf Kindergeburtstagen gerne Mord im Dunkeln gespielt, Maik?“
„Hör zu, Eddie...“
„Duzen wir uns?“
„Herr Brillinger, hören Sie...“
„Du kannst mich Eddie nennen.“
„Ich...“
„Ich muss dich bestrafen, Maik, und du weißt, das mit den Fingern ist meine Masche. Hat mir eine Menge Respekt verschafft. Aber wenn jemand es so in den Satz setzt wie du, na, ja... Nichtsdestotrotz möchte dich nicht als Kunden verlieren, Maik. Und wenn ich durchziehen würde, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte durchzuziehen, dann wärst du sicherlich niemandes Kunden mehr.“
Das ganze Gespräch über hatten Eddies Männer um sie herumgestanden, die Hände an den Griffen ihrer Pistolen, die sie in den Innentaschen ihrer Jackets stecken hatten. Maik hatte keine Wahl gehabt und in das Spiel – die Alternative zu dem, was Eddie sich „eigentlich vorgenommen hatte durchzuziehen“ - eingewilligt. Sie waren mit ihm raus aus der Stadt gefahren. Es hatte bereits gedämmert und die untergehende Abendsonne hatte die Landschaft in ein dunkles, Unheil prophezeiendes Rot getaucht. Sie hatten den Rand eines Waldes erreicht, hatten die Autos dort stehen lassen und waren zu Fuß weitergegangen.
Timbo und Eddie hatten ein Erdloch von ungefähr einem Quadratmeter vorbereitet, das ca. drei Meter tief in die Erde reichte. In dem Loch hatte sich eine Kiste befunden, der Länge und Breite nach nur unwesentlich geräumiger als ein Sarg, aufrecht stehend. Darin sollte Maik sich für vierundzwanzig Stunden einsperren und eingraben lassen. Gegen eine angemessene Entlohnung versteht sich: Er würde die fünfundzwanzigtausend Euro erlassen bekommen, vom Erhalt seiner Finger ganz zu schweigen.
Jetzt, in der Dunkelheit, hätte Maik sich für seine Einwilligung ohrfeigen können. Wenn es für eine derartige Selbstgeißelung genug Platz gegeben hätte. „Es ging nicht anders,“ flüsterte er und beschloss sogleich, den Rest der vierundzwanzig Stunden nicht mehr laut zu reden. Seine eigene Stimme klang unter diesen Umständen so beruhigend wie eine Friedhofsglocke. Er neigte den Kopf so weit es ging und stemmte sich mit den Schultern gegen den Deckel der Kiste, so dass nur noch einige wenige Grade fehlten, um die Beine durchzustrecken. Dann erschlaffte er wieder in die qualvolle Haltung, die nicht Stehen und nicht Hocken war.
Draußen musste es mittlerweile Dunkel sein. Als sie ihn eingegraben hatten, war die Sonne bereits verschwunden gewesen, und Eddie hatte mit einer Taschenlampe die Kiste im Boden angeleuchtet. Vierundzwanzig Stunden. Und was, wenn Eddie sich entschließen würde, den Einsatz zu erhöhen? Auf achtundvierzig? Oder vielleicht gar nicht...
Ein Geräusch von draußen ließ Maik nach vorne ausschlagen. Die Kiste war so eng, dass seine Hände sich noch nicht vollständig zu Fäusten geballt hatten, als sie gegen das Holz krachten, so dass er den heißen Schmerz einer Verstauchung in seine Handgelenke einziehen fühlte. Vermutlich war gerade etwas gefressen worden. Er hatte das Rascheln von Gräsern und Unkraut gehört, einen Stoß auf den Boden, dann das hohe Kreischen eines kleinen Tieres, wahrscheinlich eine Maus.
„Fressen und gefressen werden,“ dachte Maik. „Tut mir leid, Kleiner, c’est la vie.“ Plötzlich begann er, in der Dunkelheit herumzuzucken, als habe er einen epileptischen Anfall. Etwas war auf seine Schulter gefallen, und krabbelte nun von dort aus in seine Haare. Er griff danach, spürte etwas sich panisch in seiner Hand winden und in seinen Zeigefinger beißen und drückte zu. Etwas knackte, und der Schmerz der Bisswunde ließ kurz nach, bevor sie anfing zu brennen, als Bakterien und andere Krankheiterreger die Gelegenheit nutzten, sich Zutritt zu seinem Körper zu verschaffen.
Er ließ das Ding, das geknackt hatte, fallen. In dem festen Glauben, es würde etwas bringen, führte er die Wunde an seine Lippen und begann zu saugen. Er spuckte aus, würgte und flehte Gott an, jetzt nur nicht Kotzen zu müssen. Was immer der kleine Beißer zuletzt genascht hatte, war entweder schon lange tot gewesen oder hatte sich aus Angst bei der Aussicht, ein Abendessen zu werden, eingeschissen. Wahrscheinlich beides.
Maik gab ein sanatoriumsreifes Kichern von sich, stöhnte und versuchte noch einmal, seine Knie ganz durchzustrecken. Keine Chance. Es begann weh zu tun. Die Hände, die Kniegelenke, der Nacken. Maik spürte eine heiße Träne seine Wange herablaufen. Erfolglos zwang er sich selbst, nicht zu heulen, ihnen nicht den Gefallen zu tun, zu zerbrechen. Er konnte nicht anders. Wie ein Kind, das hingefallen war, fing er an zu flennen. Wie lange war er jetzt hier drin gefangen? Nicht mal eine Stunde?
Maik schrie und schlug mit den verstauchten Händen gegen das gnadenlos stabile Holz. „Lasst mich raus! Lasst mich raus verdammt ICHWILLRAAA...“ Draußen, oder besser oben, schrie eine Eule.
Schritte. Langsame, schlurfende Schritte. Als würde jemand hinken oder ein verletztes Bein hinter sich herziehen. Natürlich war Maik als jemand, der noch nie in seinem Leben außerhalb der Großstadt gelebt hatte, als Trapper und Fallensteller in der Wildnis eine absolute Niete, aber er hätte verdammt sein wollen, wenn das, was er da an der Oberfläche hörte, nicht menschliche Schritte waren. „Hallo?“
Er hörte jemanden gegen das Luftrohr aus Aluminium treten, dass ihn in seiner Unterwelt mit Sauerstoff versorgte. „Hallo? Können sie, Helfen sie mir bitte, ich...“
Wieder Schritte, aber diesmal entfernten sie sich, rasch. Maik schrie: „HEY! HEY! NICHT WEGLAUFEN! HELFEN SIE...“
Dann näherte sich erneut jemand seinem Luftrohr. Maik schätzte, dass es sich um etwa drei bis vier Personen handeln müsse. Er hörte einen erwachsenen Mann, der gluckste wie ein Sechsjähriger, der einer Fliege die Beine ausreißt. Eine Flüssigkeit tröpfelte auf Maiks Kopf. Es roch nach hochprozentigem Alkohol. Die plötzliche, kühle Nässe ließ ihn erschrecken, und wieder schlug er mit seinen verstauchten Händen gegen das Holz. Sein Schreien wurde von seinen Besuchern draußen nachgeäfft. Eine Stimme gehörte Eddie. Er war sturzbesoffen.
„AuuaaaAAAH!“ Ein fieses Lachen folgte. „Maik, Junge, ich hab’ mir gedacht, du bist bestimmt einsam da unten, da hab’ ich mich mit Timbo auf den Weg gemacht, um dich mal zu besuchen.“
Zwei Leute. ‚Als Indianer wärst du ‚ne Niete,’ dachte Maik, grinste verzweifelt und spürte, wie seine Gesichtshaut vom Salz der getrockneten Tränen spannte.
„Eddie? Eddie, Mann, lass’ mich hier raus, du kriegst dein Geld, meine Finger, du kannst meinen Schwanz haben, wenn du willst, aber bitte, Mann...“
„Maik, Maik, Maik, was bist du denn für ein verdammtes Weichei? Du bist seit nicht mal vier Stunden da unten. Und was zum Teufel soll ein wilder Hengst wie ich wohl mit deiner Schrumpfnudel anfangen?“
Timbo und Eddie lachten so laut und ordinär, wie es sich in Eddies Puffs und illegalen Casinos niemand außer ihnen erlauben durfte, bis die Schritte einer dritten Person hinzukamen, die Maik als den schlurfenden Gang seines anderen Gastes identifizierte.
Eine Pistole wurde durchgeladen. Dann hörte man ein lautes Rülpsen.
„Heidiho, Fremder, auf dem Weg nach Westen, oder, ehehehe...“
Diesmal lachte Eddie allein.
„Ist n’ bisschen spät zum Holzhacken, hmmh? Gibt das keinen Ärger wegen Ruhestörung, oder so?“
„Gibst du vielleicht auch mal Antwort, King Kong?“ Timbos Stimme, ein Krächzen, das Maik verriet, das der Handlanger erkältet war. Eine Sommererkältung. Oder vielleicht sogar die Grippe. Ja, hoffentlich die Grippe. Oder besser noch Schlimmeres. Syphilis vielleicht.
„Weißt du Großer,“ jetzt hatte Eddie wieder das Wort ergriffen, „Ich bin ein großer Fan gepflegter Konversationen, bei denen es aber auch gewisse Regeln zu beachten gibt.“ Eddie rülpste noch einmal. „Ich wär’ dir wirklich sehr verbunden, wenn du die scheiß Kapuze aus dem Gesicht ziehen könntest, damit ich sehe, mit wem ich es zu tun habe.“
Maik hörte den Hahn einer Pistole, der gespannt wurde, und dann wieder Timbos Stimme: „Er hat gesagt runter mit der Kapuze, du Lackaffe, was glaubst du eigentlich, wer...“
Das Rascheln der Kapuze war deutlich zu hören, was Maik verriet, dass es sich um einen lauten Stoff handeln musste, eine Regenjacke, oder einen Ostfriesenparka vielleicht. Dann wieder Timbos Stimme: „Oh, oh, Mann, igitt...“
Eddies Lache, gemein wie eh und je. „Heilige Scheiße, Großer, wie hast du das denn hingekriegt? Ist das Lepra oder so was? Mann, wenn du nicht aufhörst, daran rumzupulen, wird das nie heilen.“
Langsame Schritte.
„Hey, Großer, genug der Vorstellung, leg’ das Ding hin und relax, oder, hey...“
Weitere Schritte.
„O.k., das reicht jetzt. Schieß ihm ins Bein, Timbo.“
Ein Schuss.
„Noch mal, zum Teufel! In das Andere! Schieß!“
Noch ein Schuss, dann schrie Timbo. Die anschließende Welle von Geräuschen kannte Maik vom Schlachter: Es war eine Klinge, die durch Knochen fuhr. Timbo winselte um Gnade wie ein zur Kreuzigung Verurteilter. Ein dumpfes „Bonk!“ unterbrach das Flehen jäh, und von Eddies Handlanger war nichts mehr zu hören.
Wieder ein Knacken von Knochen, als würde jemand ein T-Bone Steak filettieren. Diesmal war die Reihe an Eddie, zu schreien.
„AAAAAUUH Gott, meine Beine, du mieser Wixer! Du mieses Stück! Weißt du nicht, wer ich bin? Wie erledigt du hässlicher Vogel bist? Hey, was soll das werden, hey, hey warte Mann, wer schickt dich? Die Albaner? Was zahlen die? Was zahlen die, häh? Weißt du, wie viel ich dir geben kann? Weißt du daaaAAAAASDUMISSGEBURTAUUU...“
Eddie gab noch einige unanständige Flüche von sich, schrie, fluchte wieder, und schrie schließlich nur noch. Maik hörte das Zerreißen von Kleidung. Dann Schmatzen, als Eddies Schreie endlich leiser wurden und der Gangster nur noch entsetzt stöhnte und röchelte. Schließlich nur noch Schmatzen. Maik kniff die Beine zusammen, so fest es ging, aber er konnte sein Wasser nicht länger halten.
Draußen wurde etwas über den Boden geschliffen. Als die Schritte leiser wurden, dämmerte es Maik, dass die einzigen Personen, die wussten, dass er in dieser verdammten Kiste steckte, höchstwahrscheinlich tot waren. Er zögerte kurz. Sein eigener heißer Pissegeruch raubte ihm fast den Verstand. Dann fasste er einen Entschluss.
„Hey! Hey! Ich bin noch hier unten. Hey, Sie, falls sie...“ ‚Was?’ dachte er. ‚Noch nicht satt sind?’ „Hey falls Sie noch da draußen sind, ich, ich könnte hier, irgendwie, Hilfe gebrauchen.“
Etwas wurde fallen gelassen und platschte mit einem matschigen Geräusch auf den Boden. Wie ein weicher Kürbis, der aus zwei Metern Höhe auf dem Asphalt zermanscht wird. Die Schritte kamen zurück. Sie wurden lauter, bis sie schließlich vor Maiks Luftschacht stehen blieben. Er hörte ein Schnüffeln, ungefähr wie das eines Hundes. Dann begann jemand, sich durch die Erde über seinem Gefängnis zu graben.
„Bon Apettit, du Wichser.“ flüsterte Maik. „Besser als hier unten zu verschimmeln. Was für’n Scheißspiel.“
Schweigend erwartete er seinen Befreier.