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Mehr Schein als Sein
Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, aus welcher Richtung der matte Schein des Mondes auf sie fiel. Die Welt wirkte blass und fern, obwohl erkennbar war, wie sich draußen der Tag verabschiedete und seine betriebsamen Einwohner wechselten. Die Nachtgestalten kamen aus ihren Verstecken und übernahmen das hektische Treiben ihrer Tagesgenossen. Sie wäre auch gern geflohen, ausgebrochen aus diesem Verlies, von dem sie nicht einmal wusste, wer es errichtet hatte. Viel zu kurz war ihr Leben gewesen, da war so viel, das sie noch hätte erleben können. Begegnungen, Düfte, Sonne, Wind und Wasser. Einfach Leben! Sie klopfte, schlug und hämmerte mit den machtlosen Gliedern und löste kein Geräusch damit aus, das draußen hätte gehört werden können. Dann endlich Licht, Licht! In Sekunden machte es die Nacht zum Tag, schien ihr einen Ausweg zu deuten. Also doch nicht sterben, weiterleben! Mit letzter Kraft drückte sie sich von der Scheibe ab, eilte dem vermeintlichen Ausweg entgegen, prallte von ihm ab und wurde von einer unbegreifbaren Macht, die sie nicht hätte benennen können, von jedem Weiterkommen abgehalten. Was immer sie am Leben hielt, verspottete ihr wirkungsloses, hilfloses, beharrliches Streben, aus diesem Gefängnis auszubrechen, in das ihr eigener naiver, neugieriger, gedankenloser Eifer sie befördert hatte. So leicht und selbstverständlich es gewesen war, sich Zugang zu verschaffen, so unmöglich gestaltete sich jetzt die Flucht. Zu spät, um andere Wege einzuschlagen, bessere, längere. Hunger, Durst und auch ganz andere Triebe pressten ihre müde ausgestreckte Gestalt gegen die unerreichbare, milchige Welt. Da war doch etwas, da draußen, das konnte sie doch sehen. Direkt vor ihren Augen lebte die Welt ihr alltägliches Leben und niemand sah sie, hörte ihre wie von letzter Wut ausgelösten Schläge, die schwächer wurden und schwächer, bis sie nur noch ein Zittern waren, das sie nicht bändigen konnte. Schutzlos, wehrlos ausgebreitet, lag sie da und niemand ahnte, wie wenig Hilfe nötig war, um ihr junges Leben auch nur um einen Tag oder eine letzte Nacht zu verlängern. Da war kein Streben mehr in ihr, kein aufgewühltes Blut, das sich für irgendwas oder irgendwen erwärmte.
Die Sonne vertrieb den kühlend schwarzen Umhang, der sich über die Stadt gelegt hatte. Die Welt schien sich zu füllen, mit gleichmäßig rollenden Bewegungen, Schritten und Flügelschlägen, die von links nach rechts und dann wieder zurückführten und manchmal auf und ab. Er löste den halbtransparenten Schirm von der Lampe ab, entfernte einige Mücken und Fliegen und eine Motte mit gespreizten Flügeln, die er, in ihre faserigen Elemente zerteilt, von der glasigen Oberfläche fegte. Er hatte all das vergessen, noch ehe es zu Boden gefallen war. Mit geübten Bewegungen setzte er die Lampe wieder zusammen, rüttelte prüfend an ihrem Verschluss, damit der nicht versehentlich den Halt verlor. Dann gab er das immer gleiche Zeichen und der Korb senkte sich ab, um bei einer weiteren Laterne wieder in die Höhe zu steigen, dann bei einer weiteren und einer weiteren und einer weiteren. Was war das für ein Leben, das niemand bemerkte, außer als flüchtigen Schatten, der betriebsam über den Schein von Gold und Geld und vermeintlichem Glück hinweg huschte? Da war kein Streben mehr in ihm, kein aufgewühltes Blut, das sich für irgendwas oder irgendwen erwärmte.