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Mein Abend mit Sebastian
Ich kämpfe mich genervt durch die Regenböen nach Hause, mein Arbeitstag ist mal wieder viel zu lang gewesen. Jeder Tropfen, der auf mich prasselt, sickert als Bruchstück dieses Tages in meinen Kopf ein. In Form der misslungenen Präsentation bei der Vertriebsleitung heute Nachmittag, in Gestalt des deshalb anberaumten Termins bei meinem Chef am nächsten Morgen, als der immer noch unter meinem Schreibtisch liegende Regenschirm. Hämisch, ungefragt, nass. Als die Fußgängerampel an der Bismarckstraße mich zum Warten zwingt, schaue ich zufällig ins Café Klatsch und sehe Sebastian dort sitzen. Ich starre bewegungslos ins Café, die Ampel springt auf Grün, wieder auf Rot, vorbeihastende Passanten rempeln mich an. Endlich blickt Sebastian hoch. Er scheint meine Gemütslage in der Sekunde zu erfassen, in der seine Augen durch die beschlagene Fensterscheibe des Cafés meine einfangen. Er winkt mich herein. Sein Blick verspricht, alle Frustration in Lebendigkeit ertränken, jeden einzelnen Regentropfen durch die Kerzen auf den Bistrotischen verdampfen zu lassen. Da können meine Kuscheldecke und der Krimi nicht mithalten. Ich seufze erlöst und betrete das verrauchte, lärmerfüllte Café.
„Du bist nass“, begrüßt Sebastian mich erstaunt lächelnd, als ich auf seinen Tisch zugehe. „Warte einen Moment, ich bin gleich fertig, ja?“, fährt er zusammenhanglos fort und widmet sich wieder seiner Kohleskizze. Sebastian erkundigt sich nicht, wie es mir geht, das hat er noch nie getan. Sebastian spürt, wie ich mich fühle, warum sollte er mich danach fragen?
„Aber sicher“, antworte ich, wuschle ihm leicht durch die störrischen Locken, deren Braun durch die ersten grauen Strähnen durchzogen wird, und lasse damit die Nässe von meinen Händen in seine Haare wandern. Er merkt es nicht. Wenn Sebastian zeichnet, dann zeichnet er ausschließlich, mit jeder Pore seines Daseins. Ich bin erstaunt, dass er mich überhaupt draußen stehen sah.
Ich entledige mich meines Parkas, ignoriere die entstehende Pfütze auf dem Holzboden und begebe mich auf die Toilette, um meine Haare unter dem Heißluftgerät zu trocknen. Sebastian sieht nicht auf, als ich zurückkehre. Ich lümmle mich auf die abgesessene rote Samtcouch, reinige meine Brille von den Regentropfenflecken und bin froh, nicht reden zu müssen. Ich habe mit Sebastian noch nie über meine Sorgen gesprochen und habe es auch heute Abend nicht vor. Sie sind ja auch nicht mehr so groß, wenn er in der Nähe ist. Ich mustere ihn, wie seine ganze Persönlichkeit aufgeht in seiner Zeichnung, das Strahlen seiner stahlblauen Augen sich wieder findet in den sanften Strichen auf seinem Block. Meine feuchten Hosenbeine halte ich während dessen zum Trocknen vor die Heizung und bestelle mir einen Milchkaffee.
Ich bekomme nur am Rande mit, dass der Regen nachlässt. Ich bin in Sebastians Kontemplation versunken. Seine Haare hängen unordentlich in der Stirn, seine Zungenspitze schaut aus dem Mund, die Nasenflügel beben. Er hat keine Kontrolle über seinen Körper. Die drei Mädchen auf den Barhockern können genau wie ich ihren Blick nicht von ihm wenden und gibbeln verhalten zwischen ihren Schlücken vom Latte Macchiato. Ich rücke ich ein Stück zur Seite, um den Mädchen den Blick auf ihn zu versperren.
Als ich meine erste Zigarette längst aufgeraucht habe, legt Sebastian schließlich seinen Block beiseite und sieht mich strahlend an.
„So, jetzt bin ich da.“
„Das ist schön“, antworte ich, bringe aber offenbar nur ein bemühtes Grinsen zustande.
„Du weißt, dass ich beleidigt bin, wenn Du nicht sofort lächelst“, sagt er, seine feinfühligen Antennen nehmen stets jedes Detail wahr. Besonders all das, was ihn betrifft. Sebastian ist der Überzeugung, dass alles in dieser Welt ihn direkt betrifft. Alles bezieht sich auf ihn, der Krieg im Irak, die Gesundheitsreform, die neue Herbstkollektion, alles. So auch meine schlechte Laune heute Abend. Sebastian kann in jedem Menschen lesen wie in einem Buch, das hat nichts mit mir zu tun. Diese Lektion habe ich kürzlich erst wieder lernen müssen, als ich ihn eines Samstags zufällig auf dem Markt traf.
„Mein Vertrag wird verlängert“, stand ich lächelnd vor ihm und erwartete seine Glückwünsche.
„Dir macht Dein Job doch längst keinen Spaß mehr, Kleines. Klar, dass Du Dich nicht freust“, antwortete er, ohne eine Sekunde zu zögern. Seine Feststellung traf den Kern der Sache ohne Umwege. Ich war wie erschlagen, hatte mich ohne es zu merken tagelang angestrengt, Begeisterung zu heucheln vor den Kollegen und vor mir selbst. Sebastian kannte meine Gefühle, bevor sie mir bewusst geworden waren und zerrte sie gnadenlos hervor, ohne dass ich sie der gewohnten Zensur unterziehen konnte.
Das Café füllt sich mit den Besuchern vom Musiktheater, Madame Butterfly ist zu Ende. Die Bedienung tritt an unseren Tisch, bringt Sebastian ein neues Hefeweizen und leert den Aschenbecher. Sebastian ist hier Stammgast, die beiden scheinen sich zu kennen. Sie erzählt einen Witz, den ich flach gefunden hätte, selbst wenn er mir neu gewesen wäre. Überraschenderweise beginnt Sebastian, schallend zu lachen. Sein Herz legt er offen in seinen Grübchen, jede Falte strahlt, die Zähne, die Augen, die Welt ist schön. Er ist minutenlang nicht in der Lage zu sprechen. Sein Lachen durchschüttelt seinen ganzen Körper, sein Bauch bewegt sich auf und ab, in regelmäßigen Abständen verlassen schrille Hickser seinen Mund und nicht nur die Mädchen blicken wieder zu uns herüber. Einen Moment lang denke ich ernsthaft darüber nach, mit diesem Mann zu schlafen, diesen Körper in Ekstase zu erleben. Sebastian ist so präsent in dem, was er tut. Wenn Sebastian sich freut, dann freut er sich unbändig, wenn er traurig ist, dann geht die Welt unter, wenn er wütend ist, gibt es keinen Gegenpol. Ungewollt beginne auch ich, leise zu lachen.
Genauso plötzlich, wie seine Freude entstand, verebbt sie auch wieder. Sebastian ist so unberechenbar. Ich bin nicht in der Lage, mich so schnell auf ihn einzustellen. Niemand ist das. Ich beobachte argwöhnisch, wie er auf dem Boden kriecht, um ein kürzeres Tischbein durch einen Bierdeckel zu verlängern und das stete Wackeln des Tisches damit zu beenden. Wenn wir fünf Sinne haben, muss Sebastian eine vielfache Anzahl besitzen. Anders kann ich mir nicht erklären, wie ein Mensch so stimulierbar, so abhängig von äußeren Reizen sein kann. Während Sebastians Hand über der Tischkante auftaucht und nach einem zweiten Bierdeckel greift, kommt mir ein Nachmittag vor einigen Wochen in den Sinn.
Sebastian hatte mich im Büro angerufen, ich verstand ihn kaum unter seinen Schluchzern. Sebastian weinte wie so oft - nachdrücklich und in einer Intensität, wie ich sie sonst nur von Kindern kenne. Alles, was ich während des Telefonats von der Tragödie erfasste war, dass Natalie, seiner damaligen Freundin, sein neustes Werk nicht gefiel. Diese Beziehung, gar das ganze Leben sei damit sinnlos geworden, weinte er. So früh es ging verließ ich an diesem Tag die Firma, setzte mich auf mein Fahrrad und raste in die Nordstadt, zu Sebastian. Ich traf ihn in euphorischer Stimmung beim Malen an, Natalie huschte in ein weißes Betttuch gehüllt durch seine Wohnung. Das Laken verdeckte ihren Körper nur unzureichend, in der Hand hielt sie eine Flasche Prosecco, sie sah mich spöttisch an. Ich verzichtete darauf, den beiden Gesellschaft zu leisten und verschwand. Es waren höchstens zwei Stunden seit unserem Telefonat vergangen und schon wirkte Sebastian auf mich, als hätte sich sein Leben um 180 Grad gedreht. Das überraschte mich, sicherlich auch ihn. Diese Wechsel sind garantiert auch sehr anstrengend für ihn.
Natürlich ist auch Sebastian anstrengend. „Basti, der Energievampir“, nenne ich ihn oft liebevoll. Er nimmt sich stets das, was er braucht, hat mich schon tagelang für irgendwelche irren Kunstsessions oder die Farbauswahl für sein neustes Werk eingespannt. Ich habe nie Nein gesagt, wenn er während eines Übergriffes meine hundertprozentige Aufmerksamkeit schonungslos eingeklagt hat. Er hat mich auch nie gefragt. Hält man ihm seine Rücksichtslosigkeit vor Augen, schaut er betroffen und sagt: „Ich hoffe, Du kannst damit umgehen.“ Das kann ich oft nur unter Qualen. Entschuldigt hat er sich bei mir noch nie. Ich kenne niemanden, den Sebastian jemals um Verzeihung gebeten hat.
„Hast Du schon mein neues Bild gesehen", fragt Sebastian mich plötzlich mit vor Begeisterung glitzernden Augen und holt mich zurück in die Gegenwart. Jemand vom Personal hat das neue Album von Norah Jones eingelegt, das Café leert sich bereits. Ich sehe ihn fragend an.
„Im Laden in der Seilerstraße, wo früher das Bettengeschäft war.“ Sebastian malt, seit ich ihn kenne. Irgendwo muss er sie ja lassen, seine überschäumenden Empfindungen, die Vielzahl an Reizen verarbeiten. Wir Menschen haben nicht die nötige Kapazität für seine unzähligen Eindrücke.
„Ein neues Konzept der Wirtschaftsförderung“, fährt er fort, „die lassen uns in leerstehenden Geschäften in der Innenstadt ausstellen, jeweils für einige Wochen. Art Hopping, ist das nicht spannend?“ Es würde mich nicht wundern, wenn Sebastians Bilder tatsächlich hüpfen könnten.
„Sie haben gesagt, meine Exponate wären genau das Richtige für das Projekt, so ausdrucksstark, so bewegend.“ Auffordernd sieht er mich an. Er wird nie begreifen, dass er der Falschfahrer auf der Straße der Gleichförmigkeit ist. Manchmal habe ich Angst um Sebastian. Obwohl er nahezu zwanzig Jahre älter ist als ich, möchte ich der Helm über seiner rosa Brille sein, um ihn vor der Welt zu schützen.
„Ich schau es mir an, morgen, versprochen“, versichere ich ihm und streiche leicht mit meiner Hand über seine. Sebastian und unsere Gesellschaft sind einfach nicht kompatibel. Diese Realitätsunreife freut ihn sehr, wenn ihn jemand darauf hinweist.
Meine Antwort hat ihn zufrieden gestellt. „Gut, gucken wir es uns morgen an.“ Selbstverständlich will er mich begleiten. Er ist nur wirklich glücklich, wenn er die Begeisterung auch in anderen Augen sieht, seine Perfektion sich in uns widerspiegelt. Ich hoffe, dass ich ihm diese Verzückung werde liefern können.
Ich bin überrascht, wie spät es bereits ist, als Sebastian schließlich seine Zeichenutensilien zusammenklaubt, in die alte Ledertasche packt, sich seine Jacke überzieht und die Mütze auf den Kopf setzt. Ich bin erschöpft, in den letzten Stunden hat er in meine Seele geschaut, ohne dass er mich vorher um Erlaubnis gebeten hat. Dennoch geht es mir besser. Der Regen ist längst vorbei gezogen, auch meine Hose ist wieder trocken.
„Kommst Du mit?“, fragt er zärtlich grinsend. Er versucht es immer wieder. Sebastian hält mir meinen Parka hin und ergründet mit seinem Blick meine Gedanken. Rasch weiche ich seinen Augen aus, sehe in die leere Kaffeetasse, spiele mit dem Löffel und murmle betreten: „Ich kann nicht.“
Er fragt nicht warum. „Schade“, antwortet er, legt meine Jacke über das Sofa, ein paar Münzen auf den Tisch und verlässt das Café.