- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 30
Mein Baby
Der Regen prasselte in endlosem monotonen Rhythmus auf den Schirm, bildete Rinnsaale und ergoss sich über die Kanten auf ihre Schulter.
Susanne bemerkte es nicht. Sie hatte nur Augen für den kleinen Sarg vor ihr, den gerade ein paar Männer aufhoben, um ihn langsam die Grube hinab zu lassen.
Das ist nicht mein Kind. Mein Kind liegt nicht in dem Sarg!
Susanne verzog keine Miene, während ihr Blick starr auf die kleine Kiste geheftet blieb, die Stück um Stück hinter der Grasnabe verschwand.
Sie sah die Menschen nicht, die nach und nach vor sie traten und eine Blume oder eine Schaufel Sand in das Loch warfen. Sie spürte es auch nicht, als eine Hand sie sanft am Arm nahm und zum Parkplatz führte, auf dem ihr Mann sie erwartete.
Er wirkte unschlüssig, wie er so vor ihr stand, doch als sie zu seinem Gesicht aufsah, fasste er sich.
„Susanne ...“ Seine Stimme war ein heiseres Krächzen und er räusperte sich, bevor er wieder begann. Sie sah ihm in die Augen und fand den Vorwurf.
Die Wut, von der sie dachte, dass sie heiß bis in ihren Kehlkopf fahren würde, war nur ein dumpfes Pochen. Wieder schwieg sie.
„Ich werde mich bei dir melden.“
Das war es. Keine Umarmung. Kein Kuss. Keine Vergebung.
Er stieg einfach in seinen Wagen und fuhr davon. Aus ihrem Leben.
Die Autofahrt verlief schweigsam. Sie beobachtete die perlenden Tropfen an der Scheibe, blickte in den Himmel und verfolgte den Lauf der Wolken.
Ein sanftes Flüstern neben ihr. Rosas Stimme.
Susanne drehte den Kopf und sah ihre Freundin an.
„Wir sind da“, wiederholte Rosa. „Möchtest du, dass ich mit hineinkomme? Ich könnte dir einen Tee machen und dann schauen wir noch ein bisschen Fern, ja? Matthias wird das verstehen, wenn ich heute bei dir bleibe.“
Susanne schüttelte nur den Kopf und stieg aus. Sie wollte keine Gesellschaft.
„Du bist mir geblieben, meine Süße“, flüsterte Susanne liebevoll und wiegte das Baby sanft in ihren Armen.
„Du bist mir geblieben. Ich werde immer auf dich aufpassen, Mina. Mama ist immer für dich da.“
Susanne wanderte langsam mit dem Säugling auf dem Arm durch die Stiege.
„Hast du Hunger?“
Vorsichtig ließ sie sich in dem Sessel nieder und entblößte die Brust, während sie weiter sanft über das kleine Köpfchen und die samtenen Haare strich. Als ihre Brustwarze die winzigen Lippen fand, versteifte sie sich fast sofort und ein Schauder überlief Susannes Rücken.
Mitten in der Nacht zog die Kälte in ihr Schlafzimmer, kroch über den Boden und fand sie unvorbereitet im Schlaf.
Die Bilder liefen wieder und wieder vor ihr ab, geißelten sie und zeigten ihr schonungslos, was sie vergessen wollte. Sie hatte - wie jetzt – geschlafen, als es passierte. Sie hatte nicht gehört, wie ihr Kind schrie. Hatte ihren Rausch ausgeschlafen und nichts mitbekommen.
Immer wieder stand sie im Traum auf und lief den Flur entlang, auf dem Weg zur Toilette und spürte dabei wieder und wieder die Schwere ihres Kopfes. Immer wieder öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer, trat an das Bettchen und hob den leblosen Körper heraus. Immer schneller wurden die Bilder. Immer häufiger die Wiederholungen. Das Erbrochene. Die starren Augen. Die blauen Lippen. Die Augen. Der verzerrte Mund. Grünes Erbrochenes AugenMundlippengrün... Bis sie die Augen aufschlug und an die Decke starrte, dem Alptraum entkommen, nur um sich bewusst zu werden, dass der Alptraum jüngste Vergangenheit war.
Wimmern wurde in ihrem Kopf zu klagendem Geweine und schwappte in hysterisches Kreischen über.
Ruckartig sah sie auf. Das war kein Traum mehr. Das Weinen. Das Kreischen.
Mein Kind. Mein Baby.
Susanne sprang auf und stürzte auf die Tür zu, riss sie so kräftig auf, dass sie fast gestürzt wäre.
Mein Baby. Mein Baby. „Mina? Mina!“ Susanne kreischte nun unverhohlen, während sie wie in Zeitlupe die wenigen Meter bis zur Tür des neuen Kinderzimmers lief.
„Mina, ich komme!“
Das Kreischen wurde lauter, hallte in Susannes Kopf nach und trieb sie schier in den Wahnsinn.
Sie riss die Tür auf und wurde im ersten Moment von dem aufflammenden Licht geblendet, doch tastete sie sofort nach der Klappe und fand sie.
Und da lag sie. Es war alles in Ordnung. Mina war nur einsam gewesen und wollte zu ihrer Mama.
„Ich bin ja da, meine Süße. Mama ist da!“
Susanne zog den Säugling zu sich heran und stieß dabei ein paar verschimmelte Flaschen Babynahrung um.
„Dir ist bestimmt kalt, meine Kleine. Ich wärme dich.“
Liebevoll strich sie Mina ein paar Eisklümpchen vom Kopf und schloss die Kühlschranktür.