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- 04.03.2018
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Mindfuck
Auf einmal war da dieser satte Duft. Ich brauchte den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte ich es. Unglaublich, es roch nach Gras. Nein, nicht ganz, es stank nach Gras. Nicht normales Gras, sondern Pot, Marihuana, Ganja. Ich folgte der Duftfahne und nur eine Biegung und drei Pappeln weiter gab der Wald direkt neben dem Trampelpfad eine etwa tennisplatzgroße Fläche frei.
Auf der Lichtung standen geschätzte drei Meter hohe Cannabispflanzen, wohlgenährt ihr Parfum absondernd, als wollten sie ihr Revier markieren. Dicht an dicht quetschten sich die Pflanzen in die Lichtung. Die Sonne ließ die obersten Blätter hell aufleuchten und tunkte den schmalblättrigen Dschungel darunter in sattes Waldmeistergrün. Aus diesem Blätterteppich erhoben sich majestätische, weißwollige Blütenstände und reckten sich gen Himmel. Kein Zweifel, ich hatte das Kiffer-El Dorado entdeckt. Reglos stand ich davor. Ungläubig glotzend.
Es dauerte jedoch keine Minute, bis die anfängliche Begeisterung verebbte und meine Ratio mahnend das Wort ergriff. Der Anbau von dem Kraut ist bekanntlich illegal mit allen damit verbundenen Konsequenzen. In mir keimten erste Sorgen auf. Wo ein Schatz liegt, ist der Hüter oft nicht weit, dachte ich. Dennoch hielt es mich nicht davon ab, das Ganze aus der Nähe zu betrachten. Meine Antennen waren maximal ausgefahren. Der Geruch lag schwer auf meiner Zunge. Ich fragte mich, ob bei dieser Konzentration das normale Luftholen schon ausreichte, um breit zu werden.
Gerade hatten meine tastenden Fingerspitzen das erste zarte Blatt berührt, als einen Meter links von mir eine Frau mit einem langen, dunklen Zopf aus dem Hanfdickicht trat und erstarrte. Face to Face. Paralysiert. Aufgerissene helle Augen starrten in meine. Ihre Wangen hohl, beinahe ausgezehrt, dennoch wirkte sie kernig. Und verdammt attraktiv. In dem Gürtel, der ihr sackartiges Kleid an der Hüfte fasste, stak eine Sichel und ein grob genähter Stoffsack war daran festgeknotet.
Ihre Schockstarre löste sich und sie begann zu schreien. Vor meiner Nase wedelte sie dazu mit einer Rosenschere herum, die jetzt synchron zu den Schreien Achten schlug. Ich hob die Hände und ergab mich, ging einen Schritt nach vorne, redete beruhigend auf sie ein – und erreichte damit das genaue Gegenteil, denn ihre Schreie wurden hysterisch und sie zog dazu noch die Sichel aus ihrem Gürtel. Zeitgleich brach hinter mir ein zerzauster Bob Marley aus der Grasplantage und fuchtelte mit einer abgewetzten Machete vor meiner Nase herum. Drohend ließ er den halben Meter geschliffenen Stahl kreisen.
»He, alles easy, is nur´n Missverständnis.« Kratzig drängte sich der müde Spruch vorbei an meinem Kloß im Hals.
»Schnauze!« knurrte er als Antwort und fletschte die Zähne. Irgendwo ganz hinten versteckte sich ein leichter Akzent. Hinter seiner krausen Stirn sah ich es rattern. Die gerundete Spitze der Machete neigte sich leicht. Die Dunkelhaarige hatte sich wieder gefangen und stand jetzt zitternd neben mir.
»Chris, warte, mach jetzt keinen Fehler!« Beschwichtigend redete sie auf ihn ein.
»Klappe halten, beide!« Tatsächlich schaltete er jedoch einen Gang runter und musterte mich abfällig. Lauernd schwebte die Machete auf halber Höhe in der Luft. Seine schwarzen Dreadlocks tanzten dennoch wild auf seinen angespannten Schultern und verrieten seine Anspannung. Ein Blick in die Augen offenbarte sein Dilemma: Einen Unbewaffneten, der zudem die Hände in die Luft hielt, konnte er nicht erschlagen. Nicht einfach so.
Chris kniff wütend die Lippen zusammen, packte mich am Arm und setzte mich mit einem Schubser in Bewegung. Schon nach den ersten Schritten spürte ich die Klinge in meinem Rücken. Die Frau trottete wortlos hinterher.
Wir gingen den ab jetzt ausgetretenen Weg unter raschelnden Riesenpappeln weiter bis zu einem Abzweig, der wenig später in eine steinerne, bröckelige Brücke mündete. Dahinter schimmerte die Zentrale der kiffenden Waldschrate durch die Bäume, ein alter Kotten mit Anbauten, eingefasst von Gemüsefeldern und Bauerngärten. Prost Mahlzeit! Chris verlor weiter kein Wort. Mit einem leichten Druck der Machete dirigierte er mich über die Brücke. Kurz nachdem wir aus dem Waldschatten in die Sonne traten, hörten wir alarmierte Rufe.
Zwei weitere Kerle und eine Blondine kamen uns entgegengelaufen und die Dunkelhaarige sagte beschwörend: »Alles cool hier, Schorsch. Keine Panik, Bulle. Tina, ganz ruhig, es ist nichts passiert.« Wenn sie nicht gerade schrie, hatte sie eine angenehm sonore Alt-Stimme.
Vor dem Haus befand sich eine Feuerstelle, umgeben von einem Ring fetter Baumscheiben. Chris steuerte uns darauf zu.
»Setzen«, knurrte Chris. Da bei drückte seine freie Linke mich nach unten. Die Dunkelhaarige ließ sich neben mir nieder. Ihre Hände flatterten nervös, versuchten zu beschwichtigen. »Nu lasst uns mal alle runterkommen, ja?«
Nach und nach komplettierten die anderen Vögel den Kreis, beäugten mich wie ein seltenes Tier, das vom Aussterben bedroht ist. Chris brauchte am längsten, bis er sich hinpflanzte. Selbst im Sitzen legte er die Machete nicht aus der Hand und linste argwöhnisch zu mir herüber.
Der stämmigere der beiden Kerle zauberte einen Megajoint hinter seinem kahlen Ohr hervor und zündete ihn mit einem Klacken seines Sturmfeuerzeugs an. Sein hellblaues Muscle-Shirt war dunkel geschwitzt und sein spitzer Kopf kahl. Auf seinen rechten Oberarm war unsauber ein Totenschädel tätowiert. Er nahm einen ultratiefen Zug und stieß ihn wie ein wütender Bulle durch seine Nasenlöcher aus. Anschließend verschwand er in dickem Qualm. Daher also der Spitzname, das musste Bulle sein, dachte ich mir. Hinter dem dichten Rauch wanderte seine Hand nach links und Tina übernahm das Friedensbekenntnis, um das gleiche Ritual zu vollziehen, aber mit wesentlich weniger Dampf. Noch nie hatte ich Joni Mitchell beim Kiffen zugeguckt, die Ähnlichkeit war verblüffend.
Der halbnackte Dürre, der Schorsch sein musste, folgte. Sein schwarz behaarter Brustkorb wirkte durch die nach vorne gekippten Schultern eingedrückt, vielleicht war er es auch. Für tiefes Einsaugen reichte sein Lungenvolumen jedenfalls.
Nur Chris schüttelte den Kopf, als er an der Reihe war, kniff die Lippen zusammen und schielte misstrauisch zu mir rüber. Nach ihrem Zug hielt mir die Dunkelhaarige den Joint senkrecht wie eine steile Rakete vor die Nase und nach einem wohl unvermeidlichen Zug wusste ich: Rakete passte! Wenn überhaupt normaler Tabak in dem Joint war, dann in homöopathischer Dosis.
»Krasses Zeug, unser Homegrown …, flüsterte noch der wolfsartige Schorsch, doch zu spät, die Wolke waberte schon tief in meinen Lungen.
Eine schmale Hand kam aus dem Nebel auf mich zu und eine Stimme aus Richtung der Dunkelhaarigen meinte: »Hi, ich bin übrigens die Rosi.« Dann ging sie reihum: „Bulle, Tina, Schorsch. Chris kennst´e ja schon.« Zu meinem Bedauern hatte sie recht. Dann ging es ans Eingemachte: »Wer bist´n du?, … und was machs´n überhaupt hier, hm?« Das war die Frage aller Fragen.
»Nico«, mehr brachte ich nicht auf einmal heraus, denn mein Mund war schon leicht pelzig und meine Zunge merkwürdig dick. Dann holte ich mein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es in die Luft. »Wander-App ...«, drückte ich noch hinterher. Die fünf im Kreis schauten mich an, als hätte ich behauptet: »Ein Meteorit rast auf die Erde zu, in fünf Minuten schlägt er ein und alles explodiert in einem gleißenden Lichtblitz!«
Bevor ich 'Piep' sagen konnte, schlug Chris mir das Ding aus der Hand. Das Outdoorhandy war zwar für 'Heavy Duty'-Zwecke konstruiert. Doch der Angriff einer Machete gehörte offenbar nicht zum getesteten Gefahrenspektrum und so wurde es sauber mittig halbiert, sobald es den harten Boden berührte. Das Geräusch, das dabei entstand, klang wie das Spalten eines Schädels und ich selbst fühlte mich nicht weit davon entfernt.
Meine letzte mögliche Verbindung zur Außenwelt war gekappt. Mit eingezogenem Kopf sammelte ich die Reste ein und verstaute die Hälften in meiner Jeans. Hoffentlich konnte ich wenigstens einige Daten retten, dachte ich – später, zurück in der nüchternen Wirklichkeit. Nur, wie sollte ich es dahin schaffen? Chris erweckte nicht gerade den Eindruck, als ob er mich irgendwohin gehen ließe, im Gegenteil. Die Feindseligkeit stand ihm offen ins Gesicht geschrieben und er hörte nicht auf, die Damoklesmachete pendeln zu lassen.
Die Anderen interessierte das herzlich wenig. Bulle grinste dümmlich, er war völlig hinüber und hatte sich von der Baumscheibe nach hinten fallen lassen. Mit ausgebreiteten Armen lag er im Gras und küsste den Himmel. Tina und Schorsch standen auf, murmelten was von Essen machen, bevor sie sich Hand in Hand ins Haus stahlen.
Rosi grinste verlegen, dann – nach einem ängstlichen Blick zu Chris – stand sie auf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie führte mich über den Hof und durch die Gärten. »Möhren, Lauch, Stockrosen …«, mit ihrer angenehm dunklen Stimme zählte auf, was sie anbauten, »… Rhabarber, Kapuzinerkresse.« Zeigte mit schmalen Fingern in jeden Winkel. Ich kapierte nichts und genoss doch jedes Wort. Ich folgte ihr in die Käserei im Anbau. Stolz dozierte sie über das Käsen und seine Tücken. Unbeachtet meiner gar nicht sicheren Lage hing ich magisch an ihren Lippen, sog Kasein, Enzyme und Gallerte in mich ein. Nickte dazu wie ein Dackel.
Als wir zurückkamen, hatte Chris ein amtliches Lagerfeuer entfacht. Dazu gab es den passenden Soundtrack: Eight Miles High', 'Venus in Furs' und 'Green Tambourine' dudelten nacheinander aus einem alten Kassettenrekorder, natürlich batteriebetrieben. Tina und Schorsch gesellten sich wieder zur Runde, rotwangig und strahlend. Für einen Moment war das Wolfsartige verschwunden.
Ich machte gute Miene zum Ganzen und blieb cool, rauchte mit ihnen noch einen Joint, kicherte albern, doch ich inhalierte nicht mehr. Die anderen hatten keine Hemmungen, sich abzuschießen. Insbesondere Rosi und Tina gaben sich sichtlich Mühe, das Gespräch in Gang zu halten und das Eis zu brechen. Nur Chris blieb nüchtern und schweigsam.
Sie hatten mich gefragt, was ich so mache und auf 'Systemadministrator' mit demselben leeren Blick reagiert, den ich schon bei 'Wander-App' geerntet hatte. Niemand bohrte in die Tiefe oder wollte Genaueres wissen. Ich fühlte mich wie ein Alien, das von seinem Heimatplaneten berichtet. Gleich nehme ich meinen Kopf ab, fahre den glibbernden Rüssel aus und sauge euch alle leer. Ha! Aber erst, nachdem ich euch einzeln in Kokons eingesponnen habe. Yep!
Ich flirtete mit Rosi und machte ihr Komplimente, die mir bei klarem Kopf viel zu platt gewesen wären. Sie löste ihren Zopf und strich sich durch die leicht gewellten Haare. Dabei lächelte sie und sah mich aus glänzenden Augen an. Das kann noch heiter werden, dachte ich mir.
Alles blieb angenehm oberflächlich und entspannt und wäre Chris nicht gewesen, hätte ich mich sicherlich ein Stück weit fallen lassen. Doch dem obersten Wächter der Grasplantage gefiel nicht, was er sah, und er zeigte es mit unverhohlener Deutlichkeit. Meine Nackenhaare stellten sich auf und signalisierten: Vorsicht, keinen Schritt weiter, Dude, attenzione! Also übte ich mich in vornehmer Zurückhaltung und kochte mein Süppchen auf kleiner Flamme. Ich betrieb Konversation, ließ die anderen reden und stellte nicht allzu schlaue Fragen. So beruhigten sich die Gemüter und ich erhielt nebenbei einige nützliche Informationen.
Unter anderem erfuhr ich, dass einmal die Woche einer von ihnen mit einem alten Fahrrad zum 'Tauschhandel' den Hügel hinter dem Kotten hochstrampelte. Damit war das Abliefern neuer Ware und das Wiederbefüllen der Radtaschen mit Vorräten gemeint. Meistens machte Bulle den Job, einfach weil er die besten Connections zu den Abnehmern hatte und vom Äußeren her durchschnittlich und somit unauffällig wirkte – solange ihm niemand in die Augen sah! Jedenfalls hatte seine gestrige Einkaufstour zur Folge, dass es leckeren französischen Rotwein gab.
Dazu wurden jetzt die von Tina und Schorsch gezauberte Fladenbrote herumgereicht. Frisch belegt mit Tomaten, Zwiebeln und würzigem Schafskäse. Alles aus eigenem Ofen und Anbau, wie sie mir stolz mitteilten. Alles sprach für ein Leben wie Gott in Frankreich – dachte ich.
Nach dem Essen packte Rosi die Gitarre aus, gab Marleys 'Redemption Song'. Unplugged und mit Talent. Alle sangen mit und starrten angenehm sediert in die Glut. Ich fühlte mich wohl wie selten, auch weil die kleinen Rädchen, die sich sonst permanent in meinem Kopf drehten, endlich mal zum Stillstand kamen. Irgendwann war Chris verschwunden.
Wir redeten und lachten, bis die Nacht aufzog und mit ihr die Kälte, die uns den Rücken hochkroch. Ein weiterer Joint machte die Runde und wir rückten enger zusammen. Irgendwann legte Rosi eine Hand auf mein Knie. Der Beginn einer Zeitreise! Es war wirklich alles so wie früher.
Wir tauschten Blicke und es kam, wie es kommen musste. Rosi nahm mich mit in ihre kleine Mansarde. Im Nachhinein bereute ich, so breit gewesen zu sein. Denn an die folgende Nacht fehlt mir leider jede Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass wir sehr kompatibel waren und sehr wenig Schlaf brauchten.
Zwei Tage und drei Nächte verließen wir das Zimmer nur, um Nachschub an Essen und Gras zu holen und für andere unvermeidliche Verrichtungen. Topf und Deckel, Korken und Flasche, Stecker und Steckdose. Keine alberne Metapher kann beschreiben, wie gut wir zueinander passten. Wir hatten uns einfach gefunden.
Am dritten Tag wurde ich morgens auf dem Weg zum Klo abgefangen von Chris, der wie aus dem Nichts vor mir auftauchte.
»Schön, dass es dir hier bei uns gefällt, das macht vieles einfacher. Aber seit Tagen hältst du Rosi von der Arbeit ab und du selbst musst was tun für dein Essen. Also schwing deinen Arsch aus dem Bett und hilf mir auf der Plantage!« Seine Miene war so eisern wie seine Stimme.
»Ich glaube nicht, dass du mir irgendwas zu sagen hast, du Vogel. Ich mach sowieso was ich will. Und wenn es mir hier nicht mehr passt, bin ich weg ... und wenn Rosi will, nehme ich sie mit.«
Wenn sein Blick vorher schon düster war, bestand er jetzt aus offener Feindseligkeit.
Der Schlag kam aus dem Nichts und erwischte mich seitlich am Kinn. Ich ging auf die Knie und spuckte Blut. Er packte meine Haare, beugte sich runter und zischte mir ins Ohr: »Du wirst nirgendwo hingehen, kleiner Pisser, und Rosi auch nicht. Du wirst hier deinen Job machen und dein altes Leben vergessen. Capito hombre? Ab jetzt bist du ein Teil von uns und ich rate dir dringend: nimm gefälligst deinen Platz ein, muy rapido!«
Er schob die Machetenspitze unter meinen Hals und als ich ausweichend den Kopf zur Seite drehte, sah ich Bulle mit verschränkten Armen im Schatten warten.
Aha, daher wehte der Wind. Jetzt war es amtlich: Sie wollten mich nicht gehen lassen. Nein, sie konnten mich nicht gehen lassen. Ich hatte zu viel gesehen! Wenn ich plauderte, brachte das ihr ganzes Dasein in Gefahr. Das hier war kein Zufall, die Hippieborgs wollten mich assimilieren!
Aufgewühlt stieg ich hoch in die Mansarde. Was sollte ich nur tun? Der naive Zauber war gebrochen und die Landung auf dem Boden der Tatsachen umso härter. Natürlich erzählte ich Rosi, was passiert war, und natürlich war sie kein bisschen erstaunt. Im Gegenteil, sie hatte damit gerechnet, denn sie kannte die Regeln. Sie lebte schon ewig in dieser Hippiediktatur und sie tat es gerne. Es war ihr Leben. Trotzdem war sie sauer auf Chris. Sie klapperte die Stiege runter und kurz drauf hörte ich sie lauthals schimpfen.
Als sie wieder hochkam, setzte sie sich ernst auf die Kante ihres Betts und schaute mich aus offenen, großen Augen an. »Könntest du dir vorstellen, hier bei mir zu bleiben?« Wortlos nahm ich sie in den Arm. Roch den Duft ihres Haares. Küsste ihren Hals. Lange hielt ich sie so fest. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich ihr nahekam.
Als ich die schmale Holzstiege herabstieg, begannen meine Knie zu wackeln. Ich bereute nicht die Nähe zu Rosi, im Gegenteil. Was ich bereute, war vielmehr, dass ich mich so tief hatte hineinziehen lassen in die magische, scheinbar unbesorgte Kinderwelt dieser Leute, die aus der Zeit gefallen zu sein schienen. Der Preis, den ich jetzt zahlen sollte, war nichts geringeres als meine Freiheit. Etwas wuchs in meinen Eingeweiden. Mir war bewusst, was es war. Ein Knoten, der mir früher oder später alle Luft nimmt, bevor er platzt.
Ich ging mit Bulle, Schorsch und Chris in die Plantage und kümmerte mich um die Anpflanzung. Gefühlte Hunderte Male stapften wir mit blechernen Gießkannen zum Bachlauf, füllten sie und gossen mit dem Inhalt die Hanfpflanzen, bis an jedem Stämmchen eine Pfütze stand. Schorsch verteilte noch händeweise Schafköttel als Dünger und wir schnipselten stundenlang in der Sonne an den Blüten herum. Chris zeigte mir, wie.
Nach dem Abendessen startete die übliche Lagerfeuerrunde. Ich winkte und bedeutete kurz, dass ich das Häuschen mit dem Herz in der Tür aufsuchen musste. Mein Lager-Aufseher ließ mich nicht aus den Augen.
Nach der geschäftlichen Verrichtung wusch ich mir am Trog hinter dem Haus die Hände. Im toten Winkel vom Lagerfeuer. Als ich die Seife weglegte, sah ich es. Da stand es, fahrbereit direkt vor mir und lachte mich an, die Reifen prall gefüllt und nicht abgeschlossen. Dummer Fehler!
Ohne lange zu überlegen, packte ich das Fahrrad, warf den Rahmen über die Schulter und hetzte zur Böschung hinter dem Haus. So schnell ich konnte, kraxelte ich auf dem alten Drahtesel die Steigung hoch. Schon hörte ich hinter dem Haus lautes Fluchen und Rumoren. Chris hatte meine Flucht entdeckt. Schneller, als gedacht, hing mir der durchtrainierte Rastaman im Nacken.
Die Anfangsgeschwindigkeit von anfahrenden Fahrrad und spurtenden Mann waren annähernd gleich, wie ich spätestens merkte, als Chris mit seiner Machete den Gepäckträger spaltete und glücklicherweise das Hinterrad verfehlte. Doch dann hatte ich ihn abgeschüttelt und strampelte um mein Leben. Weiter vorne kam Bulle auf allen Vieren die Böschung hochgekrochen, um mir den Weg abzuschneiden. Doch gerade, als er sich oben aufrappelte, düste ich an ihm vorbei.
Ich war so vollgepumpt mit Adrenalin, ich hätte auf der alten Gurke jede Bergetappe der Tour de France gewonnen. Mit einem lauten Knall platzte seitlich vor mir ein Stück Rinde aus einem Kiefernstamm. Schossen sie auf mich? Ungläubig schaute ich über die Schulter zurück und sah die blonde Tina unten im Bauerngarten stehen. Sie hatte eine Büchse im Anschlag, lud nach und nahm mich erneut aufs Korn.
Verdammt, sie machten wirklich ernst. Todernst! Es knallte erneut und das Rad bekam einen Schlag, der es beinahe aus der Spur warf. Der Todesengel hatte tatsächlich den Rahmen getroffen. Ich hörte Rosi noch entfernt rufen: »Nico! Nein, komm zurück!«, dann knickte die Piste in den Wald ab und der Kotten war außer Sicht. Ich zitterte am ganzen Körper und hielt mich mit Mühe auf dem Rad, doch ich gönnte mir keine Pause. Hechelnd trat ich in die Pedale. Weiter, immer weiter. Links, rechts, links, rechts.
So einer wie Chris gibt nicht auf, dachte ich mir und spürte meine Beine langsam sauer werden. Doch so ganz stimmte das nicht, denn das eine schmerzte deutlich mehr als das andere. Ich schaute an mir herunter und sah ein ausgefranstes Loch in meiner Hose und darunter eine feine Blutspur auf meiner Hose bis zu meinem Knöchel. Die Kugel war offenbar vom Sattelrohr abgeprallt und hatte mich als Querschläger getroffen.
Ich konnte es nicht fassen, sie wollten wirklich um jeden Preis verhindern, dass ich floh. Auch um den Preis meines Ablebens. Und um Haaresbreite hätten sie das auch geschafft. Links, rechts, links, rechts.
Die Schmerzen waren höllisch. Ich biss auf die Zähne. Durchhalten, nur bis zur nächsten Straße.
Jetzt kam ein breites Stahltor in Sicht und dahinter eine Industriebrache, wohl eine alte Zeche oder so was, ein Schornstein überragte die verfallenen Gebäude.
In der Mitte hatte das Doppeltor ein normales Schloss, doch zusätzlich waren die beiden Torflügel mit einer dicken, rostigen Kette verbunden und mit einem Monster-Vorhängeschloss gesichert.
Irgendwie musste es Bulle auch schaffen, sagte ich mir und suchte nach einem Durchlass – Fehlanzeige. Ich drückte die Klinke des einen Flügels herunter. Es war nicht abgeschlossen. Der Torflügel ließ sich einen Spalt weit aufziehen. Es reichte jedoch nicht, um das Fahrrad durchzuquetschen. Und wenn ich den Lenker drehte? Tatsächlich ließ er sich parallel mit dem Vorderrad stellen und es passte durch – bis zu den Radtaschen am gespaltenen Gepäckträger. Ich war gerade dabei, sie abzunehmen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Chris lief auf mich zu, noch fünfzig Meter! Die Machete wie ein Schwert über den Kopf gehoben. Der Typ musste eine Art Forrest Gump sein, er war nicht totzukriegen.
Der Rest war ein Wettlauf der Zeit: der spurtende Chris versus Rad durchschieben, Lenker wieder drehen, Aufsitzen und in Schwung kommen. Ich war der Sieger des Wimpernschlagfinales und querte das Gelände, ohne mich umzudrehen oder anzuhalten. Wie im Tunnel dachte ich nur: Straße, Straße, Straße, wo ist die verschissene Straße? Links, rechts, links, rechts.
Chris schrie wie ein Berserker, und ebenso strampelte ich. Die Schmerzen wurden unerträglich, meinen linken Fuß hingegen spürte ich kaum. Mir wurde schlecht. Ich sah eine verblichene, rot weiß gestreifte Schranke, dort musste die Ausfahrt sein. Irgendwie unter der Schranke her am Pförtnerhäuschen vorbei, dann hatte ich freie Fahrt. Kein Blick zurück. Tränen liefen über mein Gesicht, aber ich gab nicht auf. Mechanisch trampelte ich weiter, ein lebendes Perpetuum Mobile.
Links, rechts, links, rechts. – noch eine halbe Ewigkeit, bis ich nichts mehr fühlte und mir schwarz wurde vor Augen.
***
Ich wurde davon wach, dass die Tür aufgerissen wurde. Eine gut gelaunte Krankenschwester jonglierte mit einem Tablett herein, auf dem ein Teller durch kleine Plastikschälchen kegelte. Mit gekonntem Schwung klappte sie den Tisch vom Wagen hoch und setzte das Futter vor mir ab.
»Na junger Mann, haben wir ausgeschlafen?«, flötete sie im schwesterlichen Plural.
Ich starrte sie an und rutschte rückwärts das Kissen hoch. Panik kroch Rückgrat hoch. Das konnte nicht wahr sein. Tina! Auf ihrem Kittel stand Bettina Kalbach. Die Büchsenbraut musste eine Zwillingsschwester haben, die auch noch so hieß wie sie! Und sie schaute zurück ohne das geringste Anzeichen eines Wiedererkennens. Wie war das möglich?
»Guten Hunger. Ich sag eben Bescheid, der Arzt kommt dann gleich«, säuselte sie. Gestern noch hatte Schwester Bettina auf mich geschossen, heute brachte sie mir Frühstück und kannte mich nicht mehr. Wie eine Welle kam die Erinnerung zurück. Mit einem Mal war alles wieder da, die Plantage, Kifferrunden am Lagerfeuer und die Tage und Nächte mit Rosi. Was hatte ich getan?
Die Tür flog wieder auf und herein trat ein junger Stationsarzt. Sein Habitus deutete schon den zukünftigen Oberarzt an und sein Blick verriet mir, dass er mich für mindestens kriminell hielt. In seinem Gefolge befand sich ein älterer Herr mit Hut und bohrendem Blick, der sich lange nicht so wichtig nahm. Bevor er den Mund aufmachte, wusste ich schon, vor mir steht ein erfahrener Kripobeamter.
»Guten Tag Herr Marić. Mein Name ist Kaulas, Hauptkommissar. Als sie hier eingeliefert wurden, waren Sie bewusstlos. Und bis gerade standen Sie unter Narkose, weil aus ihrem Bein eine deformierte Bleikugel entfernt wurde. Nebenbei Munition, die seit fünfzig Jahren nicht mehr hergestellt wird und laut unserem Ballistiker von einer M44 abgefeuert wurde. Das ist übrigens ein extrem seltener, russischer Militärkarabiner.« Er schaute mich fragend an, als wollte er mir die Möglichkeit geben, mich zu äußern, was ich tunlichst bleiben ließ.
»Außerdem befindet sich in ihrem Blut reichlich THC. Und sie sind von einem Fahrrad gefallen, dessen Gepäckträger gespalten wurde, vermutlich von einer Axt, oder ähnlichem Spaltwerkzeug. Haben Sie eine Erklärung für mich?« Er fragte lakonisch, beinahe gelangweilt, als wüsste er schon, dass es nicht einfach wird. Ich berief mich auf momentanen Gedächtnisverlust und wusste sogleich, der Typ lässt nicht locker. Doch für den Moment entließ er mich aus seinem verbalen Würgegriff. Sein Blick sagte mir jedoch, dass er sehr wohl noch vorhatte, mich durch die Mangel zu drehen. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.
Die Kugel war aufgrund der großen Entfernung nicht tief eingedrungen und hatte glücklicherweise nur Muskelfleisch verletzt. Es heilte erstaunlich schnell. Trotzdem durfte ich erst nach einer elend langen Woche nach Hause. Als Andenken verpassten sie mir noch einen wunderschönen Klumpfußverband. Ich hatte sowas von Hummeln im Arsch. Privatdetektiv Snoop Marić humpelte aus den Startlöchern.
Noch im Krankenhaus hatte ich die Karten aus meinem halbierten Smartphone herausoperiert und ließ das Taxi zunächst beim Handyladen meines Vertrauens halten. Hastig zog ich den Karton aus dem Regal, dasselbe Modell, dasselbe Design. Zuhause angekommen, schob ich SIM- und Micro SD Karte ein. Dann klemmte ich das Telefon ans Ladekabel und fuhr es hoch. Zu meiner Erleichterung funktionierte alles. In den nächsten Stunden lud ich Anwendungen herunter, bis es annähernd wieder auf dem alten Stand war – inklusive Wanderapp. Gespannt öffnete ich das Programm und ging auf 'mein Profil' und 'gemachte Touren'. Der letzte Trip von voriger Woche wurde nicht angezeigt. Schnell öffnete ich das Kartenmaterial und suchte die Stelle der Abzweigung und fand – nichts. Keine gestrichelte Linie, keinen Hinweis auf einen Trail. Null. Niente. Nada.
Ich wechselte zu Google Earth und zoomte auf die Stelle im Wald, wo die Plantage liegen musste, so nah heran wie möglich. Ich konnte es nicht glauben, denn dort, wo sie liegen musste, war nur geschlossenes Blätterdach zu sehen. Mit dem Finger wanderte ich weiter bis zum Kotten. Auch hier nur das Haus grob pixelig von oben, kein Anbau, kein Garten, keine Feuerstelle, kein Gemüsebeet, nur trostlose Moorheide und Öde. Als wäre dort nie mehr gewesen.
Eine düstere Vorahnung stieg in mir auf. Ich wischte weiter bis zur Industriebrache. Wenigstens die Fabrik hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Selbst das Tor konnte ich als verschwommenen, hellgrauen Balken erkennen. Nach einem Klick auf „roads & labels“ las ich dort 'Drahtseil & Schäkel Fabrik Schubert'. Auch der Straßenname wurde jetzt angezeigt. Ich notierte mir alles, schnappte mir Handy, Portemonnaie und Schlüssel.
Humpelnd ging es zum Fahrstuhl. Als ich aus der Tiefgarage fuhr, dachte ich noch kurz, ob ich überhaupt fahrtauglich sei, doch mein Anliegen duldete keinen Aufschub. Nervös fuhr ich zur Stadtverwaltung. Im Katasteramt erfuhr ich nur den Namen des heutigen Eigentümers: Georg Schubert.
Aus Datenschutzgründen keine Adresse und keine weiteren Infos. Dafür der Aufwand, für ganze fünf Buchstaben. Ich war stinksauer und dementsprechend lautstark verlief die Rückfahrt zwischen Trotteln, Kamelen und anderen Tieren.
Zurück in meiner Wohnung gab ich den kompletten Namen in die Suchmaschine ein und erhielt mehrere Treffer. Ganz oben auf der Seite stand ein Rechtsanwalt mit der Werbung für seine Kanzlei, Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. Nach dem Anklicken der Homepage erschien ein Foto auf der Startseite und ich wurde bleich. Mein Herz bullerte – ich verstand. Schorsch, Georg Schubert, SchubertGeorg, der leibhaftige Schorsch, nur glattgebügelt. Hallo Zombie Nummer zwei!
Die folgenden Wochen suchte ich nach Bulle und Rosi – Chris ließ ich mal außen vor. Nach dem Machetenschwinger hatte ich keinerlei Sehnsucht – im Gegenteil. Doch ohne die vollen Namen war das schwierig bis unmöglich. Ich googelte mir einen Wolf durch alle in Frage kommenden Schuljahrgänge und sämtliche Sportvereine der Stadt und vor allem Jahrgangsfotos im Netz. Und hoffte beim Abchecken der möglichen Schnittpunkte auf einen Zufallstreffer – alles vergebens. Wahrscheinlich kamen sie nicht aus der Stadt.
Der Zufall war mir dann doch noch behilflich, oder hatte eine höhere Macht ihre Finger im Spiel? Hatte sie mich in dieses kleine Café namens 'Rosenrot' gelenkt, unten in der Altstadt, wo die Auenallee nach unten zum Fluss hin abknickt? Und das zu einer Zeit, wo die Chefin selbst bedienen musste, weil die Servicekraft mit Fieber im Bett lag, wie ich später erfuhr?
»Kenn ich sie?«, sagte die Frau mit dunkelhaarigem Zopf freundlich und mit fragendem Blick. Statt meinen Kaffee zu bestellen, musste ich sie wohl mit hängender Kinnlade sabbernd angegafft haben.
Aber was war das für eine Frage, hatte ein Mann im schwarzen Anzug sie geblitzdingst? Natürlich kannten wir uns – und wie. Wir waren uns so nahegekommen, wie es Menschen nur können, siamesische Zwillinge einmal außen vor. Der Name des Klons war Rosemarie – welch Überraschung! Sie kürzte ihn nicht ab und es gab noch mehr Unterschiede. Sie hatte keine hohlen Wangen und ihre weiblichen Formen zeichneten sich unter ihrem roten Sommerkleid ab. Ich musste mich zusammenreißen, nicht ständig hinzuschauen.
Unter der leicht mutierten Schale war sie zweifelsohne die Frau, in die ich mich verliebt hatte. Gleiche Mimik, gleiche Gestik, gleiche Art zu sprechen, gespenstisch und zugleich unwiderstehlich anziehend. Ich war noch einige Wochen krankgeschrieben und betrieb meine Genesung mit abwechselnd Kuchen und Kaffee im Rosenrot. Dabei konnte ich nicht die Augen von ihr lassen und wenn keine anderen Gäste im Café waren, setzte sie sich zu mir.
Was soll ich sagen, dieselbe beinahe mechanische Kraft, die uns wie zwei Magnete im parallelen Schicksalsstrang unausweichlich aufeinander zubewegt hatte, brachte uns auch in dieser parallelen Realität zusammen. Ich wusste ja, mit welchen Komplimenten ich schon einmal gelandet war und als sie ihren Zopf öffnete und sich durch die leicht lockigen Haare strich, hisste ich innerlich die Flagge.
Es blieb etwas, das ich nie verstand und das gleichzeitig so wertvoll war, dass ich es nicht komplett erfassen musste. Ich wusste, mein Verstand musste Opfer bringen, um das, was ich jetzt gewonnen hatte, nicht wieder zu verlieren. Zukünftig würde ich mich an das klammern, was gegenwärtig geschah und es als kostbaren Schatz verstehen, es erleben und hüten. Die Vergangenheit gehörte abgehakt und tief vergraben. Aus meiner Seele würde ich keinen Friedhof der Geheimnisse machen. Ich würde mich selbst blitzdingsen – ohne weitere Fragen.