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Mit Wallander beim Chinesen.
Mit Wallander beim Chinesen
Jonas betrat den Chinaimbiss. Es war einer der schmuddeligen Läden
hinter dem Bahnhof, die sich als Restaurant tarnten. Jonas gefiel
nicht, wo er war. Aber er hatte Lynn schon zu viele Wünsche
abgeschlagen. Diesem Treffen hatte er zugestimmt. Zumal es Lynns
letzter Wunsch sein würde - was ihn betraf. Aber das ahnte sie nicht.
Nie hatte sie etwas geahnt.
Lynn saß schon am Tisch, in der grell erleuchteten Mitte des Raums, nicht
in einer Nische wie sonst, wo gedämpftes Licht ihre grobporige Haut
feiner aussehen ließ.
Ihre Augen weiteten sich wie sonst vor Freude, das beruhigte ihn, auch
wenn er ein Fünkchen Überraschung in ihnen zu entdecken glaubte.
Bis auf die Bedienung, eine flinke, ältere Chinesin, war der Raum leer.
Lynn lächelte ihn an, als er sich zu ihr an den Tisch setzte und ihr
Lächeln war strahlender als sonst. Sie musste etwas an ihren Zähnen
gemacht haben, dachte Jonas. Vielleicht lag es auch nur an dem kalten
Licht, dass alles im Raum wie aufgehellt aussah. Trotzdem gab es ihm
einen Stich. Die neuen Zähne machten Lynn nicht hübscher. Beinahe alles,
was Lynn tat, war umsonst.
Das wusste Lynn selbst und ihm gefiel die leichte Selbstironie, wie sie
damit umging. Das war einer der Punkte, die er stets an ihr genossen
hatte. Vor allem beim Nach-dem-Sex-Kuscheln, wenn sie von ihren
Bewerbungsfiaskos berichtete, die in ihrer zunehmenden Trostlosigkeit
immer tragikomischer wurden.
"Ich kam mir schon vor wie eine Detektivin", sagte sie und ihre Blicke
trafen sich in dem Endlosspiegel neben dem Eingang. "Wochen habe ich
gebraucht, allein für deine Telefonnummer."
"Wenn du mich nur sehen möchtest, um dich zu beschweren,kann ich gleich
gehen!" Jonas griff nach seiner Jacke. Eigentlich tat er nur so, als ob
er sich aufregte und freute sich über die Chance, schnell verschwinden
zu können. Er fühlte sich unbehaglich. Der fleckige, mit chinesischen
Ornamenten beklebte Spiegel war wie die Wand eines Verhörraums, nur
dass dieser zur Straße ging und statt Polizisten Betrunkene davor
standen. Es war eine fiese Gegend und im aggressiven Neongedränge hatte
er beim Betreten des Imbiss nicht darauf geachtet, ob dieser Laden
Glaswände hatte. Ein Mann mit halb offener Hose hatte ihn als Büroarsch
bezeichnet und Jonas war schnell hier hin geflüchtet. Er haßte diese
Typen, die zum Pinkeln nicht einmal in Nischen verschwanden und hoffte,
dass Nicky niemals in diese Straße kam. Nicky, wie gern würde er jetzt
mit ihr irgendwo sitzen und er verfluchte, dass er Lynn nachgegeben
hatte.
Als ob Lynn seine Gedanken lesen konnte, griff sie nach unten und
hievte eine schwere Tasche auf den Tisch, einen dieser
Riesenplastikbeutel, die Rentner in Asia-Läden erstehen.
"Ich möchte dich gar nicht weiter belästigen", sagte sie, während sie
hinein langte und umständlich mit ihren blassen, molligen Armen nach
etwas suchte.
Lynn stand auf und steckte auch noch ihren Kopf in die Tüte und das
quietschendbunte Plastikmonster bekam durch Lynns hektische Bemühungen
ein komisches Eigenleben wie eine Bauchrednerpuppe.
"Ich möchte dir nur etwas wiedergeben",kam es aus der Tüte.
Jonas empfand eine gewisse nachsichtige Rührung, die sofort verflog,
als er sah, was Lynn auf den Tisch türmte.
Seine Wallanders, die er Lynn geschenkt hatte!
Ein bedrohlich wackliger hoher Stapel und es kamen weitere dazu, die
wie er gleich sah, nicht von ihm waren.
Und hatte Mankell tatsächlich so viel geschrieben?
Vielleicht waren auch englische Übersetzungen dabei.
Oder hatte Lynn auch von anderen Bücher bekommen - zu ihrer kulturellen
Weiterbildung, wie sie es selbst bezeichnete?
Lynns Bildungsbedarf war unermesslich. Das war ein Grund, warum Jonas
es nicht mehr mit ihr ausgehalten hatte. Und er haßte zurückgegebene
Geschenke.
Manches hatte sie ihm zurückgegeben, in trostloserem Zustand als
vorher, ein vertrocknetes Rosmarinbäumchen, das er ihr im Sommer
geschenkt hatte. Den großen Glasstein hatte sie behalten, ein
Verlegenheitsgeschenk zu ihrem vergessenen Geburtstag.
Ein aufwändig geschliffener Anhänger, eine Glashimbeere, die Lynns Sinn
für Kitsch entsprach und den sie immer trug. Und Jonas mochte, wie er
aufreizend in ihrem Ausschnitt schwang, blutrot und dunkel wie
zerküsste Rotweinlippen. Nicky würde soetwas nie tragen. Jonas wollte
gerade einen Blick auf Lynns Dekollete werfen, das sich hinter dem
höher werdenden Wallanderturm versteckte, als die kleine Chinesin an
ihren Tisch kam.
"Für Sie beide", sagte sie, als sie zwei köstlich dampfende Platten
neben die Bücher stellte. Und auf Jonas fragenden Blick hin:"Geschenk
des Hauses."
"Ich geh mal eben raus", sagte Lynn, wie immer in unpassendem Timing,
aber das schien die Chinesin nicht zu beleidigen. Immerhin gab es in
ihrem Restaurant keinen Ort für kleine Tigerinnen, wie Lynn es formulieren würde.
Jonas wunderte sich, wo Lynn so lange blieb und fing an, sich die
Bücher anzuschauen.
Er öffnete das erste, "die fünfte Frau", und ärgerte sich über die
Leuchtmarkierungen, die ihm entgegensprangen.
Auch die anderen Bücher hatte Lynn durchgearbeitet, wie er schnell
feststellte, so als würde sie sich für eine ihrer Prüfungen
vorbereiten.
Er wusste nicht, was schlimmer war, die Leuchtschrift, die akribischen
Buchstaben oder dass er schon wieder ein Geschenk in benutztem Zustand
zurückbekam.
Dann waren noch Lesezeichen hineingesteckt.Mit nahezu detektivischer,
anspielungsreicher Präzision wiesen sie Jonas auf seine "Verfehlungen"
hin.
Er staunte über die Stellen, die Lynn markiert hatte.
War er tatsächlich so ein Arsch?
Er wollte es kaum glauben.
Sie hatte ihn bestimmt mehr geliebt als er - je - geahnt hatte, auf jeden Fall
mehr als für sie gut war.
Im Buch "der Chinese", dem einzigen Nicht-Wallander-Band steckte ein
Silberkettchen, eins dieser Kaufhauskettchen.
Ein Kettchen, das ihm sehr bekannt war. Hatte er es ihr doch geschenkt.
Jonas wunderte sich, während er einen Bissen nahm. Eigentlich hatte er
auf Lynn warten wollen. Aber er ärgerte sich zu sehr über ihre
Spielchen.
Eine Frau muss wissen, wann Schluss ist.
Er wog das Kettchen in der Hand.
Ohne den Anhänger war es so billig und trostlos wie der Imbiss.
Nichts als raus hier, dachte er und wollte aufstehen.
Doch es gelang ihm nicht.
Die Chinesin schaute ihn merkwürdig an. Lauernd wie er fand.
Plötzlich wusste er es. Mit einer Ruhe, die ihn selbst erstaunte.
Er würde hier bleiben müssen.
Mit dem Kettchen in der Hand.
Er wusste es, sobald er die Textstelle gelesen hatte, auf die das
anhängerlose Kettchen gezeigt hatte.
Die Textstelle spielte ebenfalls in einem Restaurant.
In einem fernen Restaurant in China.
Und es war eine Frau, eine Europäerin, die nichtsahnend vor ihrem Teller saß.
Die nichts von der Gefahr wusste, in der sie schwebte.
Jonas fragte sich, wie Lynn es angestellt hatte.
Wie hatte sie es geschafft, das Essen zu präparieren?
Er würde sich darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen können.
Das würden andere tun, die noch mehr Zeit hatten als er.
Vielleicht war einer so schlau wie Wallander.
Er hatte sich ein schöneres Ende vorgestellt.
Irgendwann, später, in 50 Jahren vielleicht, mit Nicky.
Nicht so, wie er es nachlesen konnte.
Nicht so grausam. Nicht so raffiniert.
Lynn war tatsächlich eine andere geworden, belesener als er gewollt
hatte.
Und sie hatte sich von ihrem Glasanhänger getrennt - von dem Symbol
ihrer Liebe. So hatte sie ihn tatsächlich manchmal bezeichnet.
In unangenehm langen Momenten, die Jonas jedesmal überstanden hatte,
indem er sich auf das rote Leuchten über ihm konzentrierte, wenn sich
das Kerzenlicht im Glas verfing und tanzende Flecken wie eine
Miniaturdiskokugel auf ihre blassen Brüste zauberte.
Er hätte nie gedacht, dass Lynn sich die Sache mit ihm so zu Herzen
genommen hatte.
Und jetzt hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte.
Ein chinesisches Mords-Rezept, ein toller Mankell-Einfall. Nur war er
kein Gegner, dem man solch eine perfide Essens-Falle stellt.
Eine Falle, wie es sie sonst nur in Büchern gab.
Unumkehrbar tötlich.
Ein lautloser, sicherer Tod.
Gegen feinst zermahlenes Glas gibt es kein Gegenmittel.
Lynn hatte den Anhänger genommen, das Glas pulverisiert.
Wieso hatte sie das getan? Lynn übertrieb wie immer, ein letztes Mal.
Jonas wusste, dass die Antwort ihm nicht mehr half.
Die Chinesin war verschwunden. Und wer weiß, wer auf der anderen Seite des Spiegels stand?
Vielleicht pinkelte gerade ein Betrunkener gegen das Glas und sah ihm gelangweilt beim Sterben zu.
Es nützte nichts mehr.
Die Glashimbeere war in ihm. Lynns verfluchter Anhänger.
Pulverisiert, mäandernd, unaufhaltsam.