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Mitternacht

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24.06.2001
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Mitternacht

Es war wieder einmal einer dieser endlos wiederkehrenden Wintertage, wie ich sie schon so oft in meinem Leben erfahren habe. Die Sonne hing noch tief und groß und aufgebläht am Horizont und strahlte schemenhaft durch den dichten Bodennebel, der sich über dem kleinen See, an dem mein Häuschen lag, gebildet hatte. Ich schmauchte gedankenverloren eine Pfeife, eine Angewohnheit, die ich niemals aufgegeben habe, und schaute dem dicken quellenden Qualm nach, der gen Himmel schwebte und sich mit den Nebelschwaden vereinte. Die Gräser und Farne auf den weiß bestäubten Feldern bewegten sich nicht, denn sie starrten vor Eis und waren vor Frost wie gelähmt. Eine warme Decke lag auf meinem Schoß, wie ich so meine Pfeife rauchte und dem Qualm nachsah. Denn ich war schon lange nicht mehr jung, wie ich traurig feststellen musste. Ich zitterte am ganzen Leibe und meine Haut fühlte sich unangenehm kalt an. Doch wie alt ich auch werden sollte, die Welt, wie ich sie um mich herum leben sah, würde immer jung bleiben und sich kaum verändern. Der Wind fuhr schneidend durch die Baumreihen, die meinen trüben Blick auf sich zogen, wenn immer ich auf den See hinausschauen wollte. Alles glitzerte um mich herum, wenn das glühende Sonnenlicht auf die Eiskristalle traf, die sich ringsherum gebildet hatten. Nur meine Augen waren matt und strahlten nicht. Außer meinem Atem, der eher ein Röcheln war und stoßweise ging, blieb die Welt ruhig. Von Zeit zu Zeit huschten krächzend ein paar Krähen flatternd auf und nieder und waren so schnell wie sie gekommen waren auch wieder verschwunden. Dann legte sich wieder Stille in einem dichten Schleier über die Gegend. An diesem Tage kam mir jede Bewegung, die ich sah und die ich tat, vor als würde sie langsamer ablaufen als sonst. Als hätte sich die Zeit entschlossen, zähflüssiger dahinzuplätschern in das Nichts. Auf einem Tischchen neben mir stand eine alte Petroleumlampe, die einen seltsam vertrauten Geruch verströmte, welcher mich mitnahm in eine Welt des Schlummers und des Vergessens. Ich träumte von den alten Zeiten, die sich immer mehr verklärten und nun in schillernder goldener Farbe meine Gedanken durchflutete und sich über die Gegenwart legte. Dort war der Ort, an dem ich am liebsten meine Zeit verbrachte und an dem ich für alle Ewigkeit hätte verweilen können. Ich sah mich wieder als Kind auf saftig grünen Wiesen mit meinen Freunden tollen und Fußball spielen und wie ich mich so in Gedanken wiedererkannte erhellte ein Lächeln mein Gesicht für einen Augenblick. Dann war das Bild verschwunden und ich saß wieder auf meiner Veranda, alleine und als alter Mann, der niemals mehr Fußball spielen würde und der nie wieder ohne Hilfe das Haus verlassen können würde. Fliegen vollführten einen wilden Tanz um die warmglühende Lampe und man konnte hören, wie sie sich mit leisem Surren näherten und gegen das Glas der Lampe schlugen, um dem Licht ganz nahe zu sein. Und man konnte sehen, wie manche verbrannten, die das Licht erreicht hatten. In meinem Leben war es mir nicht viel anders ergangen, so erinnerte ich mich. Ich hatte die Karriereleiter mühsam erklommen, um nach den Sternen zu greifen und als ich bei den Sternen angelangt war, so waren sie nichts weiter als die Geister meiner Träume. Doch ich konnte die Sprossen nicht wieder hinuntersteigen, da sie eine nach der anderen abgefallen waren und mich dazu verdammten auf die Scherben meines Strebens niederzublicken.
Die einzige Freude, die mir noch geblieben war, fand ich in der Beschäftigung mit den Nachbarskindern, die, im Kreise um mich versammelt, Geschichten lauschten, die ich ihnen erzählte. Geschichten, die nicht wahr gewesen sind und auch nie wahr werden würden. Ich habe nie selbst Enkelkinder gehabt. Und niemand wird einst an meinem Grabe stehen, um meiner zu gedenken. Das macht mich traurig. Die letzte Geschichte, die ich den Kleinen erzählt habe, handelt von der Stadt, die vor langer langer Zeit im See versunken ist - auch sie gibt es nicht. Ich sagte den Kindern, die mit ihren großen staunenden Augen zu mir aufschauten, man könne die Kirchenglocken um Mitternacht leuten hören, wenn man ganz still sei und man könne die Lichter von Geistern sehen, die durch das dunkle Wasser zogen. Und ich erzählte die Geschichte von einem Fischer, der, als er sein Netz im See auswarf, kopfüber ins Wasser fiel und von seiner schweren Kleidung in die Tiefe gezogen wurde. Er wähnte sich schon verloren, eröffnete ich ihnen mit geheimnisvoller Stimme, doch dann erklang ein wundersamer Gesang, der aus der Tiefe emporstieg und Wellen umkreisten den Mann und Lichter kamen aus dem Dunkel näher heran, und immer näher. Dann ergriff ihn eine Hand, nein, mehrere, an seinen Armen und seinen Beinen und hob ihn aus dem Wasser und auf sein Boot zurück. Die Kinder waren fasziniert und träumten noch weiter, als ich längst geendet hatte. Manche tuschelten miteinander und lachten und mein Herz war voller wärmender Freude.
Ich saß immer noch in meinem Sessel und erwachte langsam wieder aus den Träumen, die mich hinfortgerissen hatten und hörte entsetzliche Schreie. Die Schreie von Kindern aus weiter Ferne. Vom See. Es war bereits Nacht geworden. Ich erhob mich mühsam und starrte hinüber, doch ich konnte nichts erkennen. Dumpf stiegen Schwindel und Angst in mir auf und ich spürte, dass ich ohnmächtig werden würde, wenn ich stehen bliebe. So sank ich ermattet wieder zurück in meinen Sessel. In den Nachbarhäusern flammten die Lichter auf, grell und blendend, Leute stürmten hinaus in Richtung See. Ich hörte schwere Schritte durch den Schnee stapfen und Menschen, die sich zuriefen. Fackeln loderten auf und entfernten sich. Für eine Weile war alles ganz still. Nur ganz kurz. Dann erhoben sich wieder Schreie. Schreie, die lauter wurden, Schreie, die verzweifelter wurden. Schreie, die nicht verstummen wollten. Dann kamen die Fackeln näher, gesenkt wie die Häupter der Leute, die sie hielten. Bedächtig und nun gänzlich ohne Eile, schien es, kamen sie näher. Manche hielten etwas in den Händen, das ich von hier aus nicht erkennen konnte. Dann raffte ich mich doch auf, von plötzlicher Furcht getrieben und ging unsicheren Schrittes auf die kleinen Gruppen von Fackeln zu. Niemand schaute mich an. Die Fackelträger nicht und auch jene nicht, die kleine tote Menschenpakete liebevoll im Arm hielten und in stiller Prozession zu ihren Häusern strebten. "Was ist geschehen?", fragte ich einen der Menschen. "Sie wollten um Mitternacht die Lichter im See anschauen. Die meisten betraten das dünne Eis, brachen ein ... und... sind ertrunken." Die Fackeln wurden kleiner, das Schluchzen leiser, als sich die Menschen von mir entfernten. Und der Mond erzählte mir eine Geschichte, die ebensowenig wahr sein konnte, wie sein Mitleid. Auch er hatte nie selbst Enkelkinder gehabt. Er würde es sein, der einst an meinem Grabe stünde, um meiner zu gedenken. Das macht mich traurig. Mahnend glüht das Mondlicht über dem See und nur wenn man ganz leise ist, so kann man die Kirchenglocken hören, die um Mitternacht dort unten im versunkenen Kirchturm läuten, dort im Nebel, wo die Krähen krächzen.


Tobias Rösch

 

:rolleyes: Ist die Geschichte eine Art Traumparabel? Nur das sich in Wirklichkeit die Dinge etwas anders abspielten als die Erinnerungen im Traum. Da wären zum Beispiel der "wundersame Gesang" der sich nacher in "Schreie" verwandelte und der "Fischer", der aus dem See gezogen und später zu "kleinen toten Menschenpakete" wurde. Vielleicht ist Parabel aber zu stilisiert.

<IMG SRC="smilies/cry_ron.gif" border="0"> Der alte Mann, der wohl Fußballkarriere oder etwas anders gemacht hat, was ihn später an sein Haus fässelte, erzählt Kindern eine so sagenhafte und faszinierende Geschichte, dass diese tatsächlich am gefrorenen See sich davon überzeugen wollten ob sie nicht doch stimmte.

<IMG SRC="smilies/eek4.gif" border="0"> Was soll uns das sagen, das unsere Vergangenheit uns jagt und wir immer auf der Hut sein sollten zu bedenken, dass alles was wir tun unsere Zukunft pägt, ohne es rückgängig machen zu können? Ich weis es nicht, aber es hat sich gelohn sie zu lesen.

<IMG SRC="smilies/cwm15.gif" border="0"> Die Geschichte ist aber wunderschön ausgeführt. Die Szene der Fliegen bei der Petroleumlampe, oder die mit der verlorenen Stadt und der Dramatik am Ende machen es zu einer gut lesenden "DrüberNachDenkGeschichte". Passt hier gut hinen!

 

Ich finde auch, es lohnt sich ohne Zweifel, sie zu lesen!!!

Am Anfang dachte ich: Na ja, ein alter Mann erzählt. Ist der depressiv? Gelangweilt? Lass ihn ruhig erzählen... Wenn man noch jung ist, versteht man solche Gedanken wohl schwer. Es ist eine Art Blick in die Zukunft bzw. zum Ende, aber daran glauben?? Nein, es wird ja doch alles ganz anders kommen... Dann wurde ich mir der Dramatik bewusst. Es muss nicht nur um einen alten Menschen gehn. Das Schlimme ist nicht, dass er nie wieder gehen kann (o. ähnliches) oder dass er alt ist und "verfällt", ich denke, das Furchtbare ist, dass er sich dem Ende bewusst ist. Ob es der Tod ist sei dahingestellt, vielleicht auch nur das Ende der Gedanken, der HOffnung (so kitschig das klingt!).
Dann reißt du den Leser plötzlcih aus seinem Gedankenfluss. Gerade, wirklich nur kurze Zeit, nachdem ich über SEIN Ende (mein Ende?) nachdachte, steht plötzlcih etwas anderes vor mir: Tod. Die Kinder, ein Unfall, eine Tragödie...
Am Ende ist man jeglicher Illusionen beraubt. Das Ende ist nah, wozu noch hoffen? Aber ich finde, du schilderst das alles in einem sehr optimistischen Ton, soweit man optimistisch vom Ende reden kann. Und "Ende" heißt nicht zwangsläufig, das Aus für immer, vielleicht wird bloß eine bestimmte Ära abgeschlossen...

Na ja, vielleicht interpretiere ich mir hier Sachen hinein, an die du (als Autor) nie gedacht hast.
Dein Schreibstil gefällt mir, diese heimische, liebevolle Beschreibung einer umgebung erinnert mich ein klein bisschen an Hesse, aber ich will dich mal noch nicht mit einem Nobelpreisträger vergleichen... ;)

Und man konnte sehen, wie manche verbrannten, die das Licht erreicht hatten.
Eindeutige Aussage!!

Bin gespannt auf weiteres von dir... (wie so viele *schleim*schleim*)

MfG,
kc

 

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