Mondläufer
Diese Augen. Diese riesigen, grauen Augen. Sie starren mich an. Nein nicht mich. Sie sehen durch mich hindurch, scheinen mich nicht wahrzunehmen. Sie machen mir Angst.
„Warum siehst du mich nicht an? Warum sprichst du nicht über dich?“
Diese Augen. Ihr Ausdruck bleibt gleich, doch ein Lächeln huscht über sein bleiches Gesicht.
„Wir müssen alle zusammenhalten, doch das können wir nur, wenn wir uns kennen!“
Ein erneuter, vergeblicher Versuch ihn zum Sprechen zu bringen.
Er dreht sich um und geht, hinaus in die kalte, klare Nacht. Wieder alleine, wieder schweigend, wieder ziellos.
Schon oft sah ich ihn durch die leeren Gassen wandern. Nicht verträumt, schnellen Schrittes, sicher.
Er ist ein Rätsel. Ist noch ein Junge und erinnert doch an einen Greis. Nichts durch seine Stimme oder seine Bewegungen. Seine Augen verleihen ihm dieses Alter. Was hat er erlebt, das ihn innerlich so altern ließ? Ich weiß es nicht. Doch ich werde nie aufhören nach dem Menschen in diesem scheinbar leeren Körper zu suchen.
Ganz alleine sitzt er dort am Hafen. Ich gehe auf ihn zu, doch er hört mich nicht kommen. Ohne ein Wort der Begrüßung setze ich mich zu ihm und starre wie er anscheinend gedankenverloren auf die raue See.
Ich sehe, dass er friert und auch ich fröstle, doch wage ich nicht mich ihm zu nähern.
Wir sitzen schon lange und schweigen und jetzt, wo ich die Kälte kaum mehr ertrage, rücke ich doch ein Stück näher an ihn heran. Wie ein aufgeschrecktes Tier blickt er zu mir herüber. Doch dann sehe ich etwas in seinen Augen, was mir die Angst vor ihm nimmt.
Nur ein kurzes Aufleuchten, ein Funke, der im Wind erlischt. Doch dieses Leuchten war so warm, so menschlich, dass ich nicht umher kann meinen Arm um ihn zu legen.
Er sagt nichts. Und doch ist mir auf einmal, als könne mir in seiner Gegenwart nichts mehr geschehen. Müde sinkt mein Kopf in seinen Schoß.
„Der Mond“, durchbricht seine klare laute Stimme die Stille.
„Der Mond, weißt du, er ist gütig. Im Mondlicht wirkt alles sanfter, als im grellen Tageslicht. Er lässt scharfe Konturen verschwimmen, er mildert Dinge ohne sie zu ändern. Er legt seinen grauen Schleier zarter Ungewissheit über uns. Und wir, wir können uns beruhigt treiben lassen, umgeben von dem sanften Nebel. Die Nacht ist zu schade um sie zu verschlafen, der Tag zu hart um ihn zu leben.“
Seine Worte graben sich tief in mein Gedächtnis
Wie Recht er hat. Wie oft ist der Tag zu grell, zu wild, zu stark, um ihn schadlos zu überstehen.
„Die Nacht tröstet den Menschen. Sie gibt ihm die Chance wenigstens ein wenig Ruhe zu finden. Ich brauche die Nacht. Ohne sie stürbe ich. Zu scharf sind die Bilder des Tages. Am Tag schaue ich durch alles hindurch.
Ich schließe mein inneres Auge vor den Eindrücken, die auf mich niederprasseln. Erst in der Nacht öffne meine Augen und sehe die Welt. Vielleicht nennt ihr das „ vor der Realität fliehen“, aber habe ich nicht das Recht, selbst zu wählen, ob ich die ganze Wahrheit wissen will, oder nur die verschönte Version des Lebens hören?
Wie begrenzt ist unsere Zeit in dieser Welt, wieso sollten wir uns mit Dingen belasten, an denen wir nichts ändern können? Ich wurde in diese Welt geworfen, als ein Straßenjunge in den Gassen Russlands. Auf mich alleine gestellt, dem harten Winter ausgesetzt, ohne jemanden der mich wärmt.
Wieso darf ich dann nicht wenigsten diese schrecklichen Bilder zudecken. Mit der Decke, die ich mir übergeworfen habe und nicht an dem Anblick dieser grausam Welt zugrunde zu gehen.
Wenn ich sterbe, dann nicht an einem gebrochenen, blutenden Herzen. Ich werde erfrieren, oder verhungern, doch im Tod werden nicht die grellen Bilder des Tages in meinem Kopf sein, sondern die ruhigen, die zarten Bilder der Nacht.“
Wie eindeutig diese Worte sind. Wie wahr, wie schonend vermittelt.
„Gehen müssen wir sowieso irgendwann. Warum dann in Erinnerung an einen brutale Wahrheit, von der wir uns nichts kaufen können.“
Mein Mondläufer. Mehr als diese Worte sprach er nicht zu mir. Doch diese Worte verbinden uns, liegen auf unseren Seelen, als Schutz vor dieser Welt. Des Nachts treffen wir uns und öffnen gemeinsam die Augen.
Mein Mondläufer ist sehr krank. Er hustet stark, hat hohes Fieber und Schüttelfrost. Und doch kann ihn nichts von seinen Mondnächten abbringen. Er hat keine Angst vor dem Tod. Er ist des Lebens müde. Er hat alles gesehen was er sehen wollte und übersehen was ihn hätte kränken können.
Mein Mondläufer. Jetzt liegt er in meinem Schoß und keucht. Er ist noch blasser als sonst. Doch auch das vertuscht unser Mondlicht. Er sieht die See, er sieht den Hafen, all das, was ihm vertraut ist sieht er sich noch einmal an. Im Mondenlicht.
Und nun, nun sieht er mich an. Er sieht nicht mehr durch mich hindurch, sondern er blickt mir in die Augen, tief, innig und wissend. Dann schließt er seine Augen. Er verschließt sie vor der Welt, bevor ein neuer Tag anbricht. Für immer.