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Mondnacht

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15.06.2016
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Mondnacht

Sie sitzt ganz hinten. Allein. Ungerade Anzahl Schüler, einer muss alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin. Neben der Fetten hat niemand Platz, sagen die anderen.

Letzte Stunde. Deutsch. Hausaufgabe war Eichendorffs Mondnacht – auswendig. Sie kann es. Es war, als hätt' der Himmel. Aber sie wird sich nicht nach vorne stellen, es aufzusagen. Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.

Doch jetzt gibt Herr Remper – Sven – erst einmal die Klassenarbeiten zurück. Geht durch die Reihen, nennt die Namen. Ihren. „Silvia Luft.“ Ein aufgeschlagenes Heft wird vor ihr auf das Pult gelegt. Eine schöne, schmale Männerhand hält es mit gespreizten Fingern fest. Der Zeigefinger ruht auf der umringelten Eins. Am Knöchel ein verblasster Farbklecks. Herr Remper – Sven – gibt auch Kunst. „Sehr schön gemacht, Silvia“, sagt eine dunkle Stimme direkt über ihr.
Sie sieht hoch in grau-grüne, freundliche Augen. Eine sanfte, schwere Hand streicht sacht über ihre Schulter. Die Erde still geküsst. Ihr wird warm und ihr Herz wird ganz weit, als pochte es nun neben ihrem Körper.

Sie wird die Erinnerung daran behutsam mit nach Hause nehmen, tief in sich verschlossen. Und dann langsam entblättern, wenn sie im Bett liegt, sich von der Bettdecke umarmen lässt und an die Stellen fasst, die so wohlig jucken. Sie wird sich ihre Hände als seine denken. Das geblümte Kopfkissen küssen. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

Sie sieht zu, wie er spricht, fragt, zuhört, die Stirn runzelt, verschmitzt lächelt. Folgt mit den Augen dem geschmeidigen Gang. Beobachtet das Muskelspiel unter dem Hemd, wenn er den Arm reckt, um an die Tafel zu schreiben. Es war. Einmal. Einmal nur erleben, wovon die anderen Mädchen tuscheln, nach der Sportstunde, beim Duschen. Während sie sich die Brüste einseifen. Sich vor dem Spiegel wollüstig räkeln. Dann werden Körbchengrößen verglichen und Jungennamen gewispert. Aber keine flüstert „Sven“. Und sie traut sich nicht. Nicht einmal zu duschen. Das Sportzeug zieht sie in der dunkelsten Ecke der Umkleidekabine aus. Hastig. Und zwängt sich die Kleidung über den verschwitzten, dicken Körper, den sie den anderen nicht preisgeben will.

Er fragt, wer aufsagen möchte. Schaut zu ihr hin.
Sie weicht dem Blick aus.
Simon meldet sich. Von vorne ein erstauntes „Simon?“
Herr Remper – Sven – freut sich. Macht lächelnd vor der Tafel Platz.
Simon spult die ersten Zeilen fast hektisch herunter. Als hätte er Angst, unterbrochen zu werden. Dann die zweite Strophe.
Die Luft ging durch die Felder –“
Kunstpause. Silvia will soufflieren. Sie sieht zu Simon hinüber, bewegt die Lippen. Die Ähren wogten sacht.
Er schaut sie an, verzieht den Mund, quetscht dann heraus: „– und walzte alles platt.“ Lässt die Arme vom Körper abstehen und imitiert ihren rollenden Gang.
Gellendes Gelächter. Neunzehn Köpfe drehen sich zu ihr hin. Mit aufgerissenen Mäulern. Speichel sprüht.
Sie wagt einen Blick auf den Lehrer. Lacht er auch?
Sein Gesicht ist gerötet, er brüllt gegen den Lärm an: "Ruhe!"
Ihr Blick verschwimmt, sie lässt ihn vor sich auf den Tisch fallen. Auf ihre zitternden Hände. Drückt den Daumennagel unter den Nagel des Mittelfingers, bis der Schmerz die Augen trocknet. Nicht heulen. Nicht heulen. Bloß nicht heulen.
„Simon, du entschuldigst dich sofort bei Silvia!“
Sie hört keine Antwort, sieht nicht auf.
„Dann verlässt du jetzt besser das Klassenzimmer.“
Das anerkennende Gejohle der Klasse begleitet den Verwiesenen zur Tür. Letzte Stunde. Der braucht nicht wiederzukommen. Gelungene Aktion.
Der Lehrer bleibt vor der Tafel zurück. Sein bedauernder Blick in ihre Richtung tut ihr gut. Er ist dem Monster unterlegen, das ihn nun mit feindseligem Schweigen straft, aber er hat den Kampf versucht. Ihretwegen.
Trotzdem fühlt sie sich elend. Sie hebt die Hand.
„Ja, Silvia?“
„Ich müsste bitte mal raus.“ Die Stimme so brüchig. Die Worte müssen erst über die Scherben, in die ihr Ich zersprungen ist.
„In Ordnung. Geh ruhig.“ Er klingt fast erleichtert. Jetzt wird er sagen können, was in ihrer Anwesenheit nicht gut gesagt werden kann.

Der Flur ist leer. Kein Simon. Gott sei Dank. Ach, wäre ein Gott. Auf der Mädchentoilette schlüpft sie sofort in eine Kabine, klappt den Deckel herunter, setzt sich darauf. Presst das Gesicht so in die Armbeuge, dass kein Schluchzen nach außen dringen kann. Und lässt die Tränen fließen, bis der Ärmel ihres Sweatshirts durchweicht ist.
Sie zieht, um den Schein zu wahren, die Spülung. Es rauschten leis'. Die Wälder. Jetzt im Wald sein. Würziger Duft. Weicher Boden, in den der Körper einsinkt. Sein Arm unter ihrem Kopf. Seine Hand auf ihrer Brust. Sie läge ganz flach, ihr Fleisch, das ach so viele Fleisch, es wäre zwischen dem Farn und dem Moos kaum zu erkennen. Und seine Hand würde tiefer wandern. Die Beine spreizen. Das wohlige Jucken. Die Keramik kühl gegen die nun nackten Schenkel.

Der erste Ton des Schulgongs reißt sie aus ihren Träumen. So sternklar war die Nacht. Sie wischt sich die klebrige Hand am Bauch ab, zieht die Jeans hoch. Lugt durch die Tür, aber noch ist der Vorraum verwaist. Nur nicht in den Hauptflur, nicht ins Foyer, nach oben über die Nebentreppe zum Kunstraum stattdessen. Schüler strömen ihr entgegen, rempeln sie an oder weichen ihr aus. Ihre Mitschüler sind nicht dabei. Sie atmet schwer, als sie im vierten Stock inmitten der Staffeleien steht. Das Fenster weit offen. Der Raum riecht trotzdem nach Farbe, feuchtem Papier. Ein Bild an der Wand ist von ihm. Zärtlich zieht sie mit dem Finger seine Signatur nach. Und meine Seele spannte.

Da geht die Tür.
Herrn Rempers – Svens – Stimme. „Silvia?“ Eilige Schritte auf sie zu. „Was treibst du denn hier oben? Ist wieder alles in Ordnung?“
Sie schluchzt statt zu antworten. Sieht bloß noch Farbkleckse, das Rot seines Pullunders kommt näher, bis das Zopfmuster direkt vor ihren Augen verschwimmt. Sie spürt die Wolle an ihrer Wange, als zwei kräftige Arme sie plötzlich umfassen. „Na na. So böse haben sie es doch gar nicht gemeint.“
Sein Kinn liegt für einen Moment auf ihrem Scheitel. Dann lässt er sie ebenso abrupt wieder los.
Denn sie hat nach oben gefasst, sein Gesicht berührt, die Wangen mit dem Nachmittagsschatten, der unter ihren Fingern prickelt. Will den Mund küssen, aber erreicht nur das Kinn.
Sein Ausdruck verzerrt sich. Er tritt ein paar Schritte zurück. Schüttelt den Kopf. Mitleidig. Ablehnend.
Mit einem Schrei fährt sie herum, wischt die Gläser, in denen die Pinsel zum Auswaschen stehen, vom länglichen Tisch. Wieder Scherben. Alles zerbrochen. Alles zerstört.
„Silvia! Was tust du?“ Er steht vor der Tür. Versperrt den Ausgang. Hebt die Hände. Weit ihre Flügel. Das Fenster. Natürlich. Weit ihre Flügel.
„Silvia! Komm sofort da runter!“ Schritte. Glassplitter knirschen.
Aus.

Aus? Flog durch die stillen Lande, als flöge sie? Nein. Ein Griff packt, hält fest und zerrt nach unten. Zurück in die schmutzige Pfütze, in die Scherben. Ein Griff, der die Berührung scheut und doch nicht loszulassen wagt. Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn!“ Und zögernd, mehr zu sich selbst als zu ihr: „Ich bring dich jetzt wohl besser nach Hause." Nach Haus.

 

Hallo Ella!

Eine sehr gut nachvollziehbare, lebendige und ausgesprochen glaubhafte Geschichte hast du da abgeleifert. Wirklich gut beschrieben, der alltägliche (Überlebens-)Kampf im Kriegsgebiet "Schule", wenn man auf der ewigen Opferseite ist. Wehe dem, der da nicht genug Selbstbewusstsein, Ego oder Brutalität im Repertoire hat, um sich das vielköpfige "Monster mit den kalten Augen" vom Leibe zu halten. Übrigens eine wirklich gute Formulierung - gefällt mir!

Hm... hab ich was zu meckern? Na los, Eisenmann, jetzt streng dich mal an... du wirst doch irgendwas finden! Na mach... irgendwas ;)

Ha, ich hab was!!! Du solltest vielleicht noch etwas mehr darauf eingehen, dass es sich um die (höchst wahrscheinlich) Mittelstufe handelt. Ich glaube nicht unbedingt, dass ab der Oberstufe wirklich alle in der Klasse solche Riesen-Arschgeigen sind und Silvia von jedem einzelnen so gemobbt wird. Vor allen Dingen dann, wenn die Schüler so ganz allmählich reifer und etwas erwachsener werden, und nicht mehr die kleinen, grausamen Mistratten sind, die sie in dem Alter (vor allem in der Gruppe) nun mal meistens sind.
Das vielleicht als einsamen, müden und halbherzigen Verbesserungsvorschlag! Ansonsten kann ich allerdings wirklich nicht viel an der Geschichte aussetzen.:D

Gut beschrieben ist auch der Selbsthass und das autoaggressive Verhalten einerseits, die Verliebtheit in den Lehrer sowie die Freude an den ersten autoerotischen Erfahrungen andererseits.

Ich muss sagen, dass die arme Silvia ein absolut glaubhafter Charakter ist. Nochmals ein großes Lob von mir. Ich würde ihr am Liebsten einen Rat mit auf den Weg geben, den ich mal vor vielen Jahren gehört habe: Du musst das Leben fressen, oder das Leben frisst dich.

Viele Grüße vom EISENMANN

 

Hallo Eisenmann,

was kann ich anderes sagen als DANKE! Und ich muss es schnell sagen, bevor die nächsten Kommentare dich Lügen strafen. :)
Ich weiß dein Lob wirklich zu schätzen. Deinen Verbesserungsvorschlag werde ich überdenken. Ich hab mir da ganz ehrlich gar keine Gedanken gemacht, in welcher Altersstufe die deutsche Romantik durchgenommen wird. Irgendwie hatte ich Eichendorff in Lesebücher für die zehnte Klasse verortet. Und Gedichte auswendiggelernt habe ich in der Oberstufe auf jeden Fall nicht mehr. Zumindest nicht für die Schule.

Also nochmals herzlichen Dank und liebe Grüße
Ella Fitz

 

Hej Ella Fitz,

wie rund deine Geschichte wieder ist. Das ist schon ungerecht, dass du viel für Wortkrieger gibst und außer Lob nix zurückkriegst. ;)

Es ist eine schöne Idee, Eichendorffs Zeilen zu nutzen. Sehr romantisch.

Sie wird die Erinnerung daran behutsam mit nach Hause nehmen, tief in sich verschlossen

Das ist schön.

Drückt, bis Blut quillt.

Sie läge ganz flach, ihr Fleisch, das ach so viele Fleisch, es wäre zwischen dem Farn und dem Moos kaum zu erkennen. Und seine Hand würde tiefer wandern. Die Beine spreizen. Das wohlige Jucken. Die Keramik kühl gegen die nun nackten Schenkel.

Und ich dachte immer, mit der Selbstverletzung werden andere Gefühle kompensiert. :hmm:

Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn! Ich bringe dich jetzt nach Hause." Nach Haus.

Diese Reaktion ist recht irritierend, so cool.

Wieder mal eine Geschichte zum Lernen.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Keine Sorge, liebe Kanji, ich komme hier schon auf meine Kosten. :D

Sei auch du herzlichst bedankt für die Aufmerksamkeit, die du meiner Geschichte schenkst.

Und ja, der Übergang vom Ritzen (des Mobbings wegen, also wirklich der Regulation negativer Gefühle dienend, streng nach ICD-10) zur Masturbation ist etwas abrupt, nur von einer Klospülung getrennt, und könnte/darf befremden. Aber Silvia steht ja nun gerade auf der Schwelle zwischen Selbstverachtung und Verliebtheit, pubertiert halt.

Tja, und der gute Herr Remper ist wirklich keine Leuchte, was die Psychologie heranwachsender Mädchen betrifft. Deshalb sein ungelenker Versuch am Schluss, die Sache als "Blödsinn" herunterzuspielen. Das darf irritieren. (Meine ich.)

Viele Grüße
Ella Fitz

 
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Liebe Ella Fitz

eine große Erleichterung ist es, einen Text vorgesetzt zu bekommen, bei dem man keine Kraft verschwenden muss auf formale Elemente. Ich darf mich also ganz auf das Inhaltliche konzentrieren.

Die Story hat bei mir ambivalente Gefühle ausgelöst. Einerseits ist sie folgerichtig in der Personenkonstellation: hier die Außenseiterin, dort die erbarmungslose Meute, dazwischen der gutmeinende , aber naive Lehrer. Alles plakativ, eindeutig, schwarz- weiß. Holzschnittartig. Hier die pure Poesie, da die brutale Realität.
Dieses Konstrukt hat es mir schwer gemacht, Empathie mit deiner Prota zu empfinden. Dazu kommt der Zweifel, ob das Ritzen nicht einem anderen Zweck dient als pubertärem Lustgewinn Kanji hat auch darauf hingewiesen. Silvia leidet ja nicht an fehlender Wahrnehmung an Gefühlen, sondern davon hat sie gerade mehr als genug.
Und den Lehrer empfinde ich geradezu als tumben Tor. Eine weinende Schülerin in den Arm zu nehmen, ist absolut unprofessionell. Es sei denn, so ein hübscher Lehrer hat andere Absichten. Übrigens ein Dauerthema in Lehrerkollegien.

Vielleicht schaust du noch einmal nach den Zwischentönen. Auch was die Meute betrifft. Schüler und Literatur ist jedenfalls eine spannende Sache.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 
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Hallo Ella,

das ist nun wirklich eins meiner Lieblingsgedichte und dieses Gedicht mit dieser furchtbaren Situation zu kontrastieren, in der Sylvia steckt, finde ich raffiniert gemacht. Die fast überirdische Schönheit, von der das Gedicht handelt, macht die tiefen Beschämungen, die Sylvia erleidet umso grausamer. Und zugleich hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass das Gedicht etwas über Sylvias Seele sagt, was keiner in ihrer Umgebung wahrnimmt. Ich hatte beim Lesen die Melodie der Vertonung von Schumann im Ohr, aber viel trauriger als sonst. Am Ende ist in dem Gedicht alles vollkommen, die Seele findet in der ganzen Welt ein Zuhause, Sylvia findet scheinbar nirgendwo eins.

Ein paar Kleinigkeiten:

Sie sitzt ganz hinten. Allein. Ungerade Anzahl Schüler, einer muss alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin. Neben der Fetten hat niemand Platz, sagen die anderen.

Den Anfang empfinde ich als zu stichwortartig, besonders den Satz von der Lehrerin. Vielleicht reicht es schon, den wegzulassen. Du schreibst später auch mehr ausformuliert.

Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.

Ach, das ist jetzt mein persönlicher Geschmack, mir ist das ein bisschen zu breit ausformuliert. Ich bräuchte diese Metapher nicht.


„Silvia Luft.“

Der Name gefällt mir. Für die anderen ist sie Luft und zur Mondnacht passt er auch gut.

Sie wird die Erinnerung daran behutsam mit nach Hause nehmen, tief in sich verschlossen. Und dann langsam entblättern, wenn sie im Bett liegt, sich von der Bettdecke umarmen lässt und an die Stellen fasst, die so wohlig jucken. Sie wird sich ihre Hände als seine denken. Das geblümte Kopfkissen küssen. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

Schön und traurig

„Silvia! Was tust du?“ Er steht vor der Tür. Versperrt den Ausgang. Hebt die Hände. Weit ihre Flügel. Das Fenster. Natürlich. Weit ihre Flügel.
„Silvia! Komm sofort da runter!“ Schritte. Glassplitter knirschen.
Aus.

Aus? Flog durch die stillen Lande, als flöge sie? Nein. Ein Griff packt, hält fest und zerrt nach unten. Zurück in die schmutzige Pfütze, in die Scherben. Ein Griff, der die Berührung scheut und doch nicht loszulassen wagt. Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn! Ich bringe dich jetzt nach Hause." Nach Haus.


Hier bin ich wirklich beeindruckt, wie es dir gelingt, die beiden Ebenen miteinander zu verschränken. Sehr souverän.

Liebe Grüße von Chutney

 

Hallo Ella,

sehr, sehr stark! Ich bin gerade ziemlich geplättet. Die Gefühle deiner Protagonistin kommen sehr intensiv rüber und sind super nachvollziehbar. Alle Mobbingopfer an den Schulen werden da mitfühlen können. Besonders beeindruckend finde ich, wie unaufdringlich und geradezu organisch du das Gedicht in seiner Gänze (okay, so furchtbar lang ist es nicht) in die Story eingepasst hast. Bei 9 von 10 (ach was - 49 von 50) Autoren wäre das ins Gekünstelte abgedriftet - bei dir nicht!

Die nachfolgenden Kritikpunkte stellen deshalb das vielzitierte "Meckern auf hohem Niveau" dar. Es sind zwei:

Zum einen muss ich denjenigen zustimmen, die die Story etwas zu schwarz-weiß finden. Das betrifft weniger die Protagonistin - für die ist die Welt mit Ausnahme von "Sven" einfarbig schwarz, und das passt auch so - sondern eher ihr Umfeld. Dass es vielleicht auch den einen oder anderen Mitschüler geben sollte, der beim Mobbing nicht mitmacht, wurde schon geschrieben. Mein ergänzender Vorschlag wäre, dies vielleicht so darzustellen, dass Silvia solche Mitschüler/-innen entweder nicht richtig wahrnimmt oder denen ihr Mitgefühl nicht glauben kann oder etwas in der Richtung. Würde m.E. gut in ihr Weltbild passen. Und du findest bestimmt hervorragende Worte dafür.

Zum anderen finde ich die Kombination von Übergewicht, Mobbing, Ritzen und Lehrerschwärmerei ein bisschen zu viel. Gar nicht mal, weil ich es nicht glaubwürdig fände; Silvia könnte zwar auf manche Leser wie ein Klischee wirken, aber manche Klischees sind ja leider auch ab und zu wahr. Sondern vor allem, weil es m.E. den Fokus deiner Geschichte schwächt, wenn du diese Dinge miteinander vermengst. Dass Silvia wegen ihrer Körperfülle gehänselt wird und sich in Tagträume mit dem Lehrer flüchtet - das ist für mich schon heftig genug und auch in seinen Folgen hinreichend plausibel. Mit der Selbstverletzung fügst du da nicht wirklich etwas Substanzielles hinzu und setzt dich dafür dem unnötigen (und ungerechtfertigten) Verdacht der Effekthascherei aus. Zudem ist das Thema in letzter Zeit ein bisschen zu oft thematisiert worden. Das kann auch zu einer achselzuckenden Reaktion in Sinne von "ach, schon wieder eine" führen.

Bei der Gelegenheit möchte ich auch schon mal vorbeugend davon abraten, noch weitere Fäden anzufangen. Ich hätte nämlich selbst um ein Haar moniert, dass ich z.B. keine Ahnung habe, wie es in Silvias Elternhaus aussieht. Bei näherem Nachdenken finde ich aber, dass auch das den Fokus verwässern würde, deshalb möchte ich lieber gar nicht danach fragen. Das lenkt nur ab.

Dann gehe ich noch mal den Text durch:

Und sie traut sich nicht. Nicht einmal zu duschen. Das Sportzeug zieht sie in der dunkelsten Ecke der Umkleidekabine aus. Hastig. Und zwängt sich die Kleidung über den verschwitzten, dicken Körper, den sie den anderen nicht preisgeben will. Und nicht ihrem Spott.
Letzten Satz würde ich weglassen, unnötiges Tell.

Er verzieht den Mund, schaut sie verächtlich an, quetscht dann höhnisch heraus:
Würde ich auch reduzieren, die markierten Teile raus. Der Leser merkt ja, dass das Spott ist, der darf den gleichen Aha-Effekt erleben wie die Zuhörer im Klassenraum.

Er runzelt die Stirn, begreift, schaut ärgerlich. „Ruhe!“, ruft er.
(...)
„Simon, du entschuldigst dich jetzt bei Silvia!“ Die Stimme klingt scharf.
Hier auch. Man spürt ja seinen Ärger.

Der Lehrer bleibt besiegt vor der Tafel zurück. Sein bedauernder Blick in ihre Richtung tut ihr gut. Er ist dem Monster unterlegen, das ihn nun mit feindseligem Schweigen straft, aber er hat den Kampf versucht.
Du nennst die Niederlage doppelt, ich würde das erste rausnehmen.

Die Stimme so brüchig. Die Worte müssen erst über die Scherben, in die ihr Ich zersprungen ist.
Sehr starkes Bild.

Es rauschen leis'. Die Wälder.
Ich habe den Text gefunden als: Es rauschten leis’ die Wälder. Den Punkt als Abwandlung verstehe ich. Ist der Tempuswechsel auch Absicht?

Schüler strömen ihr entgegen, rempeln das Hindernis an, das sie in Gegenrichtung bildet, oder weichen ihm aus.
Würde ich auch streichen. Schon klar, dass sie das Hindernis ist.

Herr Rempers – Svens – Stimme.
Herrn Rempers.

Ist alles wieder in Ordnung?“
(...)
„Na na. Sie haben es doch gar nicht so böse gemeint.“
(...)
Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn! Ich bringe dich jetzt nach Hause."
Den Lehrer könnte man evtl. noch ein bisschen nachschärfen. Dass es nicht schlau ist, Silvia in den Arm zu nehmen, wurde ja schon angemerkt. Das könnte man m.E. als Fehler seinerseits einfach stehenlassen. Aber vielleicht könnte er ein bisschen weniger plump reden. Und/oder du machst seine Überforderung mit der Situation auch im Dialog noch ein bisschen deutlicher (mit mehr Stocken, Zögern oder so). In den Handlungen und Gesten hast du das schon, aber in den Worten noch nicht so ganz.

Also, wie gesagt: auf ganz hohem Niveau. :thumbsup:
Die Tell-Stellen, die ich angemerkt habe, sind ja gerade deshalb unnötig, weil der Rest so ein tolles Show ist.

Sehr gern gelesen!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo wieselmaus,
ja stimmt, die Geschichte ist konstruiert. Da erwarte ich vom Leser dann auch gar nicht, dass er mehr Empathie für die Figuren entwickelt als ich es selbst habe. Mir ging es tatsächlich, schön erkannt, um den Kontrast zwischen Romantik und Realität. Silvia sucht Trost in Poesie und Liebesschwärmerei und gerade diese beiden Dinge stoßen sie erst richtig in den Abgrund. Mitleid mit ihr hätte mich da beim Schreiben eher gehindert.

Muss sie da auch noch ritzen? Wahrscheinlich nicht. Ich brauchte etwas, um ihren Schmerz darzustellen, aber nachdem nach Kanji nun auch du und später der Holg (es braucht immer drei!) es mir auszureden versuchen, lasse ich sie jetzt einfach ein bisschen weinen.

Die von dir gewünschten Zwischentöne machen mir da mehr Probleme. Da muss ich nochmal drüber nachdenken.

Liebe Grüße
Ella Fitz

Hallo Chutney,
da bin ich froh, dass du es mir nicht übel nimmst, gerade eines deiner Lieblingsgedichte so zweckentfremdet zu haben.

Und du hast recht, der Satz der Lehrerin am Anfang war holprig. Vielen Dank für den Hinweis. Hab ihn jetzt ausformuliert. Weglassen möchte ich ihn genauso wenig wie Silvias Eindruck von ihrer Klasse als Monster. Beides steht nicht ohne Grund da.

Dein Lob hat mich aufrichtig gefreut.
Viele Grüße
Ella Fitz

Hallo The Incredible Holg,

dein "Meckern auf hohen Niveau" hat zumindest schon mal eines erreicht: wie in meiner Antwort an wieselmaus bereits angekündigt, ist das Ritzen weg. So ganz überzeugt bin ich noch nicht, dass der Schmerz damit ausreichend dargestellt wird, aber deinem Argument, dass hier einfach ein bisschen zu viel in einer Figur vereint wird, kann ich mich nicht entziehen.

Deine Kürzungsvorschläge habe ich 1:1 übernommen. Ich bin für so etwas einfach unheimlich empfänglich. Je weniger, desto besser. :)

Und wenn der Tempuswechsel im Zitat irgendwann mal Absicht war, hab ich vergessen, welche. Also wurde es korrigiert. (Wahrscheinlich eh nur ein Typo.) Genauso wie der ungebeugte Herr.

Und redet der Lehrer jetzt etwas weniger plump? Hmm, keine Ahnung. Denn ein tumber Tor soll er ja bleiben.

Ach, herzlichen Dank für all die guten Ratschläge. Wenn ich auch immer noch am Grübeln bin, wie ich aus Silvias Sicht darstellen soll, dass sie sich in einigen ihrer Mitschüler irrt. Da bleibt es jetzt erst noch schwarz-weiß.

Sei freundlichst gegrüßt
Ella Fitz

 

Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst

Herr Remper, ein Jüngling (= altnordisch Sven) dem Namen nach, sieht durchaus den Wald (Silvia) und bemisst ihn nicht nach Kubikmetern Holz und bleibt frei von Liebesgluten, sozusagen glutenfrei* (kann ein Lehrer auch anders?), von der isolierten Schülerin, die vom Jüngling schwärmt, wie‘s halt so vorkommt bei diesem und jenem jungen Mädchen, für die er – so mutmaß ich mal
Von vorne ein erstauntes „Simon?“
- Sympathie empfindet, zumindest gibt er sich wohlwollend (die Wollust ist nicht von der Rechtschreibreform ausgeschlossen worden, sie ist an sich eine Wohl-lust und tatsächlich in der mhd. Form erhalten geblieben, zumindest im Schriftbild). Zu diesem Satz und den von Dir wohlgeformten und vollständigen Sätzen,

liebe Ella,

stehen die eingestreuten Ellipsen als Beschleuniger. Wobei man bei glühenden Gefühlen schon von Brandbeschleunigern reden darf.

Eine feine Geschichte, wie offensichtlich nicht nur ich finde,

Friedel

*Ach ja, Gluten wird das Klebereiweiß genannt, das den Teig der meisten Getreidesorten zusammenhält.

Das seltsame Wortspiel ist - kann's anders sein? - von einem andern Romantiker verursacht:


Die Liebesgluten, die so lodernd flammten,
Wo gehn sie hin, wenn unser Herz verglommen?
Sie gehn dahin, woher sie einst gekommen,
Zur Hölle, wo sie braten, die Verdammten.
Heine​

 

Hallo Ella Fitz,

wir hatten ja bereits miteinander über einen meiner Texte kommuniziert. Diesmal schaue ich bei einem von deinen vorbei. Deine Geschichte liest sich rund - wenn man es denn überhaupt als eine Geschichte bezeichnen kann. Mehr eine kurze Abfassung ohne viel Federlesen, nur die nötigsten Informationen an den Leser weitergeben - so etwas gefällt mir und ist im Grunde das Problem an meinen eigenen Texten.

Bei einer ungeraden Anzahl von Schülern muss einer alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin.
Aus den anderen Kommentaren lese ich heraus, dass du diesen Einstieg bereits einmal überarbeitet hast. Dennoch habe ich meine Zweifel daran, dass eine Klassenlehrerin ihre Schüler - aus Mittel- oder Oberstufe - darauf hinweisen muss, dass ein Tisch mit nur einer Person besetzt sein wird. Da ergibt sich für mich aus dem Zusammenhang. Das nur als kleiner Gedankenanstoß:)

Das Sportzeug zieht sie in der dunkelsten Ecke der Umkleidekabine aus. Hastig
Das konnte ich mir gut vorstellen.

Du verwendest einen sehr klaren Schreibstil, der leicht nachvollziehbar ist. Das finde ich prinzipilel schön. Manchmal waren mir gewisse Sätze aber zu "abgehackt". Dann lässt du Pronomen, Verben oder Adjektive in Reih und Glied aus, als müsstest bei ihrem Einsatz mit deinem Leben bezahlen:

Sie sitzt ganz hinten. Allein.
Letzte Stunde. Deutsch. Hausaufgabe war Eichendorffs Mondnacht – auswendig. Sie kann es.

Diese Art von Formulierungen rufen teilweise dann auch Unverständnis hervor, wie z.B. hier:
Der Flur ist leer. Kein Simon. Gott sei Dank. Ach, wäre ein Gott.

"Ach, wäre ein Gott?" Ich glaube, ich weiß zwar, was du meinst, aber dieser Satz ist für mich wie die Konsequenz auf die zwei ersten: Meine Meinung. ann falsch sein. Ach, wäre ein Gott? Die Doppelung habe ich übrigens nicht störend empfunden.

Mehr fällt mir nicht mehr auf - sieh es als Beweis dafür, dass dein Text im Vergleich zur "Mitternachtssonne" nochmal an Reichtum und literarischer Rafinesse gewonnen hat.

Grüße,
SCFuchs

 

Hallo Friedrichard,

bleibt der Jüngling jetzt glutenfrei, weil er als Lehrer eh nicht anders darf, oder weil er vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht? Nun, am Ende spielt es keine Rolle. Nur Wollust ist auch am Anfang keine vorhanden, nur Wohlwollen der schülerischen Leistung gegenüber. Denn brav und fleißig sind sie ja, die dicken, verträumten Mädchen, und immer auch ein bisschen geschlechtslos in den Augen derer, für die sie schwärmen.
Danke für die Betrachtung und den Heine.
Liebe Grüße
Ella Fitz

Hallo SCFuchs,

schön, dass du vorbeischaust. Auch wenn du mich etwas verwirrst, wenn du meinen Text nicht als Geschichte, sondern als Abfassung bezeichnest. Dabei habe ich diesmal sogar versucht, das 3-Akt-Modell umzusetzen. Aber ein Eindruck ist ein Eindruck ist ein Eindruck. Und interessant für mich allemal.

Zu deinen weiteren Anmerkungen:

SCFuchs schrieb:
Dennoch habe ich meine Zweifel daran, dass eine Klassenlehrerin ihre Schüler - aus Mittel- oder Oberstufe - darauf hinweisen muss, dass ein Tisch mit nur einer Person besetzt sein wird. Da ergibt sich für mich aus dem Zusammenhang.
So einfach war es nicht gemeint. Es ging mir mehr darum, dass die Klassenlehrerin Silvias Isolation
nicht erkennen will und herunterspielt. Vielleicht war die abgehackte Fassung da doch deutlicher.

SCFuchs schrieb:
Manchmal waren mir gewisse Sätze aber zu "abgehackt". Dann lässt du Pronomen, Verben oder Adjektive in Reih und Glied aus, als müsstest bei ihrem Einsatz mit deinem Leben bezahlen.
Na, mit dem Leben nicht, aber für jedes Verb wurde mir ein Zahn gezogen. :sealed:
Der Stil war mal so ein Versuch. Und irgendwie beunruhigt es mich auch, dass mich so viele dafür loben. Denn ich mag lange Sätze. Nicht nur lesen, sondern auch schreiben. Aber für die Innensicht einer zutiefst verwirrten Pubertierenden wären ausformulierte Satzkonstrukte nun mal nicht passend gewesen. Sie erzählt ja nicht, sie erlebt es ja. Denkt es. Und wer denkt schon in ganzen Sätzen?

SCFuchs schrieb:
"Ach, wäre ein Gott?"
Das ist keine Frage, das ist ein Stoßseufzer, ein Wunsch. Und eigentlich ein Zitat. Aber nicht von Eichendorff, sondern von Kurt Marti (aus "wer kennt schon die not eines überaus dicken mädchens"):

"ach wäre ein gott, ach wäre ein gott, der fleisch wird im fleisch eines überaus dicken mädchens"

Muss man nicht kennen, und so, wie ich es im Text versteckt habe, schon gar nicht erkennen. Aber gut, dass es dir aufgefallen ist.

Dein letzter Satz schmeichelt mir natürlich, wenn ich auch nicht finde, dass man die beiden Texte so gegeneinander ausspielen muss. Zumal ich "Mondnacht" einen Monat vor "Mitternachtssonne" geschrieben habe. ;) Es sind einfach zwei aus völlig unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Stimmungen geschriebene Texte. Aber stimmt schon, meine Texte sind besser, wenn ich etwas damit sagen will.

Vielen Dank für deinen Kommentar und die Zeit, die du meiner Abfassung gewidmet hast.

Liebe Grüße
Ella Fitz

 

Hallo Ella Fitz,

das ist ja mal eine LehrerInnen-Geschichte. Du verwebst ein romantisches Gedicht mit dem Geschehen im Klassenzimmer. Und wäre das Gedicht nicht, dann flögen meine Augen raus (äh nach Haus) :). Na ja: und das Klischee schlechthin, das arme fette Mädchen. Gibt es nix anderes?

Eine Menge Ellipsen. Nicht schlecht gemacht, schafft eine kühle Stimmung, jedenfalls teilweise, weil du das nicht recht durchziehst im Text. Da bleibt zu viel Restwärme, lässt mich zwiespältig zurück...

Ich schau mal in den Text:

Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.
Das klingt nicht gut, inkonsequent. So könnte es mir besser gefallen.
Nicht vor der ganzen Klasse. Dem kalten, zwanzigköpfigen Monster.

Herr Remper – Sven –
findest du das witzig?

Ihr wird warm und ihr Herz wird ganz weit, als pochte es nun neben ihrem Körper.
schöner Satz

und an die Stellen fasst, die so wohlig jucken.
kann man so sagen, aber klingt doch merkwürdig, auch so prüde...

Einmal nur erleben, wovon die anderen Mädchen tuscheln, nach der Sportstunde, beim Duschen. Während sie sich die Brüste einseifen.
ehrlich: beim duschen wird dpch nicht über den Sportlehrer gesprochen, wenn überhaupt dann mit der besten Freundin...

Die Worte müssen erst über die Scherben, in die ihr Ich zersprungen ist.
schönes Bild

Sie zieht, um den Schein zu wahren, die Spülung. Es rauschten leis'. Die Wälder.
der Vergliech verdirbt gewaltig die Stimmung

Mm am Emde ein Selbstmordversuch und der Ritter, der sie rettet.
Ich weiß nicht. Die Gefühlswelt von Lehrer und Schülerin ist (teilweise) ganz gut getroffen, aber so richtig getroffen hat mich das Ding nicht.
Vielleicht reduzierst du, entscheidet sich für Satire oder Ernst und machst den Text noch härter, dann wird er (richtig) gut,,,

viele Grüße
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Ella Fitz,

Dank, dass du das Rätsel um Ach, wär ein Gott gelöst hast. Mir war doch gleich, als ob es sich um ein Zitat handle. Und da habe ich gegoogelt, bin bei Goethe und Heine gelandet, habe Kleist vermutet, wie man halt - wenig professionell - sich zu helfen versucht.

Vielleicht habe ich in meinem ersten Komm nicht deutlich genug gemacht, dass mir dein Text sehr gut gefällt. Ich find ihn gerade wegen des kühlen analytischen Habitus gelungen. Und wenn schon lehrerinnenhaft. Dieser Text in der Oberstufe oder im Zweiten Bildungsweg, da wäre er, als Provokation, eine tolle Vorlage für modernen Literaturunterricht.


Außerdem: Ich liebe lange Sätze, wenn sie denn gekonnt sind. Alles zu seiner Zeit!

Herzliche Grüße
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ella Fritz!

Auch mir gefällt deine Geschichte sehr, besonders der sprechende Name der Protagonistin: Silvia Luft.

Wie Friedrichard bringe auch ich den Vornamen Silvia mit dem lateinischen Wort silva "Wald" zusammen und mit dieser Zeile des Eichendorff-Gedichts, in dem vom Wald die Rede ist:

Es rauschten leis die Wälder

Was da im Gedicht das Rauschen verursacht, ist ein Wind, Luftzug oder Lüftchen, auch "Luft" genannt:

Die Luft ging durch die Felder

Nun ist ein Wind ein uraltes archetypisches Symbol für einen potenten Mann, der sich mit Frauen sexuell einlässt, zum Beispiel in diesem Mörike-Gedicht:

Jung Volkers Lied


Und die mich trug im Mutterleib,
Und die mich schwang im Kissen,
Die war ein schön frech braunes Weib,
Wollte nichts vom Mannsvolk wissen.

Sie scherzte nur und lachte laut,
Und ließ die Freier stehen:
Möcht lieber sein des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen!

Da kam der Wind, da nahm der Wind
Als Buhle sie gefangen:
Von dem hat sie ein lustig Kind
In ihren Schoß empfangen.


Der archetypische erotische Charaker des Windes hat auch einen Fotographen zu diesem Bild von Marilyn Monroe inspiriert: https://en.wikipedia.org/wiki/Maril...Marilyn_Monroe_photo_pose_Seven_Year_Itch.jpg

Der Wind oder Luft(zug) steht also für den Lehrer, den die Fantasie des Mädchens erotisiert und zum Buhlen macht, und in dem Namen Silvia Luft sind sie beide wie in einem Liebesakt vereint: Mädchen als Wald und Lehrer als (Luft)zug.

Deine Geschihcte habe ich gern gelesen!
Grüße
gerthans

Nachtrag:

Mir ist gerade noch eingefallen:

Der Nachname "Luft" ist doppeldeutig:

1. Das Mädchen ist Luft für den Lehrer (wie das einer meiner Vorkommentatoren
herausgekriegt hat)

2. Er ist Luft für sie, also ein erotischer, sie zu erotischen Fantasien inspirierender Wind.

Nr. 2 ist die romantische Vorstellung des Mädchens, Nr. 1 die bittere Realität.

 

Hallo Ella,

wo wir gerade noch an anderer Stelle über kurze, unterkühlte Sätzen gesprochen haben: Danke für das eindrucksvolle Beispiel, wie gut so ein knapper Schreibstil funktionieren kann. Ich würde deine Sätze zwar nicht als unterkühlt bezeichnen, bin eher beeindruckt, wieviel Gefühl du darin zum Ausdruck bringst, so ganz nebenbei.
Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen, auch wenn ich mich ebenfalls an den allzu plakativen Stereotypen gestört habe. Gut, dass du das Ritzen heraus genommen hast, wenn ich auch diese Fassung nicht gelesen habe. Wie du das Gedicht eingebaut hast, sehr passend.

Sie wagt einen Blick auf den Lehrer. Lacht er auch?
Er runzelt die Stirn, begreift. „Ruhe!“, ruft er.
Hier habe ich kurz gestutzt. Braucht er wirklich länger als die Schüler, um zu begreifen, was passiert?

Sieht bloß noch Farbkleckse, das Rot seines Pullunders kommt näher, bis das Zopfmuster direkt vor ihren Augen verschwimmt. Sie spürt die Wolle an ihrer Wange, als zwei kräftige Arme sie plötzlich umfassen.
(…)
Sein Kinn liegt für einen Moment auf ihrem Scheitel. Dann lässt er sie ebenso abrupt wieder los.
Denn sie hat nach oben gefasst, sein Gesicht berührt, die Wangen mit dem Nachmittagsschatten, der unter ihren Fingern prickelt. Will den Mund küssen, aber erreicht nur das Kinn.
(…)
Aus? Flog durch die stillen Lande, als flöge sie? Nein. Ein Griff packt, hält fest und zerrt nach unten. Zurück in die schmutzige Pfütze, in die Scherben. Ein Griff, der die Berührung scheut und doch nicht loszulassen wagt.
Gefällt mir gut, wie du das beschreibst.

Viele Grüße,
Rotmeise

 
Zuletzt bearbeitet:

bleibt der Jüngling jetzt glutenfrei, weil er als Lehrer eh nicht anders darf, oder weil er vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht? Nun, am Ende spielt es keine Rolle. Nur Wollust ist auch am Anfang keine vorhanden, nur Wohlwollen der schülerischen Leistung gegenüber. Denn brav und fleißig sind sie ja, die dicken, verträumten Mädchen, und immer auch ein bisschen geschlechtslos in den Augen derer, für die sie schwärmen.
Danke für die Betrachtung und den Heine.
Liebe Grüße
Ella Fitz

Nein, nein, der Lehrkörper ist und bleibt (hoffentlich) liebesglutenfrei und doch, doch, nach dem Sportunterricht (durch Herrn R.) findet sich bei den Klassenkameraden Wohl+Lust:
Während sie sich die Brüste einseifen. Sich vor dem Spiegel wollüstig räkeln.
wenn auch weniger bei frl. Luft.

“For standin' in your heart
Is where I want to be, and I long to be
Ah, but I may as well, try and catch the wind

Ah, but I may as well, try and catch the wind“​


endete 1964 der erste öffentlich Auftritt des blutjungen Donovan (P. Leich), und mir kommen unzählige Wendungen zur Luft in den Sinn,

liebe Ella,
lieber gerthans,

und so wenig man den Wind einfangen kann, ist die Luft zu greifen und doch brauchen wir sie zum Atmen.

Sie ist so dünn wie sie dick werden kann, als könne man sie schneiden, als erzeuge sie Druck. Dann liegt was in der Luft, was sie oder besser den Atem uns wegnehmen, rauben kann, auf dass uns eng werde (Ängste klingen nicht umsonst wie der Superlativ der Angst) - und das Gegenteil, die frohe Erwartung hängt in ihr. So drückend die Luft wirkt, so befreiend mag sie werden (Stadtluft macht frei), dass wir geradezu Schlösser aus ihr bauen. Luft brauchen wir, um auch mal den luftleeren Raum zu betreten. Und immer ist noch bissken mehr Luft drin für den Luftikus, dem Frl. Luft sich eines Tages zuwenden mag ... Auf dass ein Luftkissen geräumiger wirkt als jedes Luftschloss eines Hans Guck-in-die-Luft.

Gruß und schönes Wochenende vom

Friedel

Achja, etwas Trost für Frau Luft: Zwo Jahre später galt Donovan als der größte Konkurrent Bob Dylans.

 

Hallo Isegrims,

wie schön, dass du dich so offen und kritisch äußerst.

Zu deinen Anmerkungen im einzelnen:

Isegrims schrieb:
Na ja: und das Klischee schlechthin, das arme fette Mädchen. Gibt es nix anderes?
Was anderes schon, aber nix besseres. Finde mal einen Mobbinggrund, der auch zu Selbstablehnung Anlass gibt und für den sich noch dazu aus dem Gedichtvortrag heraus eine Gelegenheit zur Hänselei bietet. Außerdem haben Klischees ja auch den Vorteil, dass sie unbestritten sind und ohne große Erklärungen funktionieren. Und Worte wollte ich nicht zu viele machen, weil es nicht darum ging. Das Mobbing ist ja nur die Randbedingung.
Da bleibt zu viel Restwärme, lässt mich zwiespältig zurück
Die Kühle war nicht das Ziel, sodass mich die Restwärme jetzt nicht sonderlich beunruhigt. Anderen war es schon wieder zu kühl.
Herr Remper – Sven –
findest du das witzig?
Nö. Es sollte den Zwiespalt darstellen, er ist für sie die Autoritätsperson, der Lehrer, der nicht geduzt wird, aber für sich selbst hängt sie in Gedanken dann doch immer seinen Vornamen hinten dran.
ehrlich: beim duschen wird dpch nicht über den Sportlehrer gesprochen, wenn überhaupt dann mit der besten Freundin...
Es geht nicht um den Sportlehrer, sondern das Reden über Jungs und die Erfahrungen mit ihnen im allgemeinen. Und ihr habt in der Mädchenkabine darüber nie gequatscht bzw. der nächsten Nachbarin zugeraunt? Was war ich auf einem verlotterten Gymnasium. ;)
Sie zieht, um den Schein zu wahren, die Spülung. Es rauschten leis'. Die Wälder.
der Vergliech verdirbt gewaltig die Stimmung
Das ist jetzt eine Stelle, wo ich dir zähneknirschend zustimmen muss. Und jetzt auch verstehe, warum dir den Text auch als Satire vorstellen könntest. Hier unterstelle ich meiner Silvia eine Menge Selbstironie und Sinn für Humor. Auf jeden Fall findet hier ein Stimmungswechsel statt, vormals von Selbstverletzung zur Selbstbefriedigung, jetzt von tränenreicher Verzweiflung zur (lustvollen) Tagträumerei. Da sollte vielleicht noch ein Satz dazwischen. Ich denke drüber nach.
aber so richtig getroffen hat mich das Ding nicht.
Muss ja auch nicht. Aber auf jeden Fall vielen Dank, dass du dir trotzdem die Mühe gemacht hast, mir die Grenzen aufzuzeigen, an die mein Text stößt. Es hilft auf jeden Fall, wenn nicht mehr bei diesem, dann beim Konzipieren des nächsten.

Liebe Grüße
Ella Fitz


Hallo wieselmaus,

einfach die Anführungszeichen drumrum, dann findet es auch Google. :)
Toll, wieviel Mühe ihr euch macht.

Und keine Sorge: ich fühlte mich schon beim ersten Mal gelobt.

Sei herzlichst bedankt
Viele Grüße
Ella Fitz


Mein lieber gerthans,

da machst du mich verlegen. Was ich nach Friedrichards Kommentar schon hätte bekennen müssen, jetzt gestehe ich es: Sven und Silvia sind als Namen völlig willkürlich gewählt. Und der Nachname Luft ist auch nur in der Absicht ausgesucht, Simons Hänselei möglich zu machen. Alles weitere ist so unbewusst geschehen, dass ich es mir wirklich nicht zuschreiben darf und möchte.

Nun stehe ich starr vor Bewunderung, was du aus einem Text herauszulesen vermagst. Du beweist, dass es wohl doch der Leser ist, der zu entscheiden hat, was ein Text aussagt, und nicht der Autor, der wenn überhaupt, ja an nur einen Bedeutungsstrang dachte.

Hat Spaß gemacht, von dir rezensiert zu werden. Vielen Dank und beste Grüße
Ella Fitz


Hallo Rotmeise,

danke, dass auch du auf dein Störgefühl bei den "plakativen Stereotypen" hinweist. Ich hatte die Aufgabe, mir über eine differenziertere Darstellung Gedanken zu machen, schon fast wieder verdrängt.

Rotmeise schrieb:
Hier habe ich kurz gestutzt. Braucht er wirklich länger als die Schüler, um zu begreifen, was passiert?
Und dieser Hinweis war goldrichtig, hab ich denn auch geändert in "Sein Gesicht ist gerötet, er brüllt gegen den Lärm an: 'Ruhe!'" Er soll zwar etwas dämlich sein, der gute Herr Remper, aber doch nicht gar so ein Schwermerker.

Viele Grüße
Ella Fitz


Ach, und da lässt der olle Willie seine Julia so dumm daherfragen "What's in a name?", wenn du, bester Friedrichard, doch wieder sehr eloquent darlegst, was alles so in einen Namen steckt. Mehr als ich, wie ich gerthans schon errötend gestehen musste, jemals hineinstecken wollte. Da bin ich doch sehr unbedarft.

Aber Blech wird nicht Gold, nur weil es auf die Goldwaage gelegt wird. Oder doch, wer weiß, du hast etwas von einem Alchemisten. ;)

Beste Grüße
Ella Fitz

 

Hallo Ella Fitz,

Eine traurige, kleine Geschichte wunderschön geschrieben.
Abgehackte, kurze Sätze, wenn es um die Schilderung des qualvollen Schulalltags geht, stehen langen, verschlungenen Sätzen gegenüber, wenn es um die Schwärmerei um Herrn Remper - Sven - im Kopf der Silvia geht. Auch das Einflechten von Eichendorffs "Mondnacht" ist eine geniale Idee.
Mir gefallen einige Bilder, wie z.B. das "zwanzigköpfige Monster mit den kalten Augen", besonders gut.
Ein schwieriges Thema hast du dir da ausgesucht.
Mobbing, Selbsthass, die Entdeckung der eigenen Sexualität. Ist schon eine verdammt harte Zeit!

Deine Geschichte habe ich wirklich gern gelesen.

Liebe Grüße
Lind

 

Hallo Lind,

es tut hin und wieder schon gut, durch ein Lob in dem bestätigt zu werden, was da ist. Und sich mal keine Gedanken darüber machen zu müssen, was alles noch zu ändern wäre. Herzlichen Dank dafür.

Einen schönen Sonntag wünsche ich dir.
Ella Fitz

 

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