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Monstrinho
Ich höre sie wieder schreien.
Die Sepiasturmtaucher nisten zwei Kilometer entfernt, aber der Sturm trägt ihre Rufe zusammen mit dem Meer über die Insel. Die Scheiben sind nass, obwohl es nicht regnet.
Aua. Aua.
Sie klingen wie die Kinder auf dem Rollfeld, wenn sie in der Abendsonne Fahrradfahren üben und sich die Knie aufschlagen.
Ich decke mich auf und gehe zum Fenster. Statt der Sonne steigt Grau aus dem Meer auf. Die Luft ist kühl und riecht nach Kohle. Vermutlich feuert Papa bereits den Ofen an. Er scheint immer wach zu sein. Morgens entdecke ich die Reste seines Frühstücks: Brotkrümel. Eierschale. Kaffeeränder in der Tasse, für jede Stunde ein weiterer, wie die Ringe eines Baums. Abends versuche ich ihn zu hören, ein Stühlerücken oder die Eisentür des Kamins. Aber oft bin ich bereits eingeschlafen, wenn er in der Dunkelheit nach Hause kommt.
Der Wind lässt die Fensterscheibe knacken.
Aua. Aua.
Ich stehe auf.
Papa nickt und kaut, ohne aufzusehen. Die Küchenfenster sind beschlagen, es duftet nach Orangenmarmelade und Kaffee. Major liegt vor dem Ofen. Als er mich sieht, springt er auf und drückt den Kopf an mein Bein. Die Schnauze ist heiß vom Feuer. Ich setze mich.
»Heut gehst du in den Caldeirão«, sagt Papa. »Ich muss rüber nach Flores. Die Rinder brauchen Antibiotika.«
»Wieso?«
»Wegen des Sturms. Ihr Fell is dauernd nass. Die Hälfte hat ne Lungenentzündung.«
Er liest die Krümel mit dem Zeigefinger auf. Ich senke den Blick.
»Ich kann heut nicht.«
»Wieso nich?«
»David kommt.«
Die Zugluft bewegt die Tassen an den Haken. Wenn sie aufeinandertreffen, klingt es wie das Ticken einer Uhr.
»Is das dein Ernst?«
Bevor ich antworten kann, springt er auf und lässt das Geschirr in die Spüle fallen. Etwas zerbricht.
»Du bringst die Rinder zum Unterstand.« Er reißt die Regenjacke vom Haken und öffnet die Haustür. Der Sturm fährt in den Raum. »Was du danach machst, ist mir egal.«
Ich bleibe sitzen, lasse den Wind mitnehmen, was er möchte. Servietten wirbeln über den Boden, die Bilderrahmen klackern an der Wand. Major winselt und schiebt seinen Kopf unter meine Hände. »Is schon gut.« Ich stehe mit weichen Beinen auf und lehne mich gegen die Tür, um sie zu schließen. Dann ein Schlag. Major jault auf. Was war das?
Regen schlägt mir ins Gesicht. Ich gehe ums Haus, drücke mich an der Wand entlang, um nicht vom Sturm erfasst zu werden. Ich sehe ihn auf dem Boden sitzen, benommen vom Flug gegen das Küchenfenster. Ein Sepiasturmtaucher. Sie werden vom Licht der Häuser angelockt. Er hält still, als ich ihn aufhebe. Ein hellblauer Fleck am Schnabel. Ist das Farbe?
»Allein schafft er’s nicht«, schreie ich Major entgegen und werfe den Vogel in die Luft. Es dauert keine Sekunde, bis sich sein Körper entfaltet.
Wo man ist auf Corvo, das Meer ist auch dort. Der Caldeirão ist mit Nebel gefüllt wie eine übergroße Milchschüssel und selbst der Wind schafft es nicht, sie zu leeren.
»Scheiße.«
Wo sind die Rinder? Vereinzelte Rufe dringen aus dem Krater. Der Hund könnte die Tiere finden. Ich folge ihm ins Tal, er treibt sie an der Ostseite aus dem Nebel und ich führe sie am Rand zum …
Major bellt und schießt los.
»Was?« Die Überraschung lähmt mich. »Warte!« Dann laufe ich ihm nach, stolpere über Grasbüschel und meine eigenen Gummistiefel. Das Meer erscheint hinter dem Kraterrand. Es wirkt wie Marmor, schwer und dunkel.
»Major!« Ich rufe ein letztes Mal, obwohl ich weiß, dass er zum Wolf geworden ist und keinen Befehlen gehorcht.
Krähen steigen auf. Der Kopf des Rinds ist nach oben verdreht, als befürchte es, im Grasland zu ertrinken. Der Brustkorb wächst aus dem Boden, fünf blanke Rippen.
»Komm weg da«, sage ich in fremdem Ton. Der Schreck verfärbt meine Stimme. Ich packe Major am Halsband. Mir wird schlecht, aber ich muss hinsehen. Die Haut wirkt weich wie die eines Puddings, als könne man sie mit dem Finger durchstoßen.
Ich übergebe mich. Major winselt.
»Alles gut.« Ich schlinge die Arme um seinen warmen Körper, rieche Vanille und Fett und die Asche unseres Ofens. Ich höre mich atmen, die Wellen, die die Küste angreifen, das kratzige Brüllen der Rinder. Und dann weiß ich es. Einfach so. Das ist das Ende der Welt.
»Ja schon.« Ich nippe am Kaffee. Er ist kalt. »Hier bin ich schon immer gern gesessen. So wie ...«
Er nickt. Ich sehe ihn an. Sein wettergeformtes Gesicht, jung und erwachsen zugleich, das beste von beidem. Glatte, braune Haut und ein nachdenklicher Knick zwischen den Augen. Er wirkt wie früher, als wir Dinosaurier spielten und uns brüllend über die Wiesen jagten oder abends mit Mikrowellen-Popcorn Die Mumie ansahen.
»Wie geht’s dir?«, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern.
»Und deinem Alten?«
»Er redet nicht viel mit mir. Ist mehr bei den Rindern.«
»Dann red du mit mir.« Er holt einen gehäkelten Beutel aus seiner Manteltasche und öffnet ihn. Der Geruch von Gras. Hustensaft und Honig. Routiniert streut er die Flocken auf ein milchiges Papier und dreht sie ein. Dann sieht er mich an.
»Fuck, sorry. Ich hab nicht dran gedacht.«
»Schon okay.«
»Sorry echt.« David steckt den Beutel wieder ein und fixiert einen Punkt in der Ferne. Er scheint Worte zu suchen, zwischen den Fischern und ihren Booten. »Du weißt, dass ich nicht zu ihrer Beerdigung kommen konnte? Dein Alter hat’s verboten.«
»Ich weiß.«
»Hast ja ewig nix von dir hören lassen. Du musst mir sagen, wie’s dir geht, ich wills wissen.«
Ich nippe am Kaffee. Eine Weile geschieht nichts zwischen uns. Die Boote fahren aus.
»Ich geh nach Lissabon«, sagt David. Er zieht die Mütze ab und streicht sich über die Haare.
»Was?«
»Macht für mich mehr Sinn. Die zahlen mir das Doppelte fürs Importieren der Rinder.«
»Okay«, sage ich, weil ich nichts anderes sagen kann. Er steht auf und gibt mir eine Schachtel.
»Das ist für dich.« Ein Leuchtturm aus Holz, beklebt mit Muschelsplittern und Glitzer.
»Die hab ich im Souvenirshop am Doca de Alcântara gefunden. Ich hab auch so einen.«
Die Umarmung bleibt einseitig, ich schaffe es nicht, die Arme zu heben. Er legt die Stirn auf meine.
»Schreib mir. Ich will wissen, wie es dir geht.«
Ich nicke.
»Mach’s gut.«
Dann ist er weg, auf dem Weg zum Hafen, zur Ophelia, die ihn erst nach Flores und dann nach Lissabon bringen wird. Eintausendneunhundert Kilometer weit weg. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er bleiben kann. Dass Geld bald keine Rolle mehr spielen wird. Wie alle anderen Dinge.
Auf dem Kieselweg vor unserem Haus liegen tausende tote Bienen. Für den Wind ist es ein Leichtes, die leeren Panzer über den Boden zu wehen. Fast sehen sie aus wie die Blüten vertrockneter Hortensien.
»Steh endlich auf!«
Das Licht schmerzt in den Augen. Ich drücke das Gesicht ins Kissen.
»Ist dir alles egal?«, fragt Papa.
»Nein.« Meine Zunge fühlt sich an wie die eines Fremden.
»Liegst bloß rum, bemitleidest dich selbst. Zum Reden ist Zeit.«
»Zu hell.«
»Was?«
»Die Sonne.«
Durch meine Finger hindurch sehe ich, wie Papa in der Bewegung verharrt und aus dem Fenster starrt.
»Was redest du? Es ist grau, seit Wochen.« Er wirft die Decke über das Bettende. Ich krümme mich in der Kälte zusammen, wickle die Arme um die Beine.
»Steh auf, Kaffee ist in der Kanne. Du kannst nachkommen, wenn du fertig bist.« Ich nicke gegen die Schwere meines Kopfes an.
»Bist du auch so müde, hm?« Ich schließe den Rollladen und hole die Wolldecke aus dem Wohnzimmer. Major schiebt seinen Kopf auf meinen Schoß. Er weiß, wann ich ihn brauche.
»Du spürst es auch.« Er schnaubt als Antwort, sieht mich mit warmen Augen an.
Papa hat mir Kaffee eingeschenkt, bevor er los ist. Der erste Ring hat sich bereits gebildet. Ich öffne die Milchflasche und gieße aus, doch es kommen nur gelbliche Flocken zum Vorschein. Ich lasse die Flasche fallen. Scherben und schale Milch auf dem Tisch, auf den Fliesen, auf Major. Er leckt sich die Schnauze.
Die Tränen überraschen mich. Sie sind einfach da, wie das Meerwasser auf den Fenstern.
»Bráulio.«
Ich drehe mich um, spüre die Kälte des feuchten Bettbezugs an meinem Gesicht.
»Papa?«
Er sitzt am Bettrand, die Hand in meinem Nacken. Die Deckenlampe ist zu hell. Ich drehe den Kopf zur Seite, sehe die Rillen der staubigen Cordhose.
»Wie geht’s dir? Du schläfst viel.« Seine Stimme klingt anders. Warm, wie die der alten Männer, die am Hafen Witze erzählen und Netze für ihre Söhne knüpfen.
»Kannst du …« Ich schließe die Augen. Papa weiß, was ich meine, steht auf und schaltet das Licht aus. Dann setzt er sich wieder.
»Wir haben nich viel geredet in letzter Zeit.«
»Hm.«
»Ist alles okay?«
Ich versuche mich an einem Lächeln, aber scheitere. Stattdessen nicke ich.
»War ein langer Tag.«
Papa streicht mir über den Kopf. Seine Haut riecht wie früher. Es gab keinen Tag, an dem er nicht voller Erde nach Hause kam und versuchte, Hände und Fingernägel mit Schafsmilchseife sauber zu kriegen. Dann rief er »Monstrinho!« und ich rannte los, raus aus meinem Zimmer, zwei Stufen auf einmal, um mich vom letzten Absatz aus in seine Arme fallen zu lassen. Erde und Schafsmilch. Dann wurde Ana geboren. Aus einem kleinen Monster wurden zwei. Monstrinhos.
»Es is erst morgen. Sieben gleich.«
Ich sehe ihn an, seine Silhouette zeichnet sich im fahlen Licht ab. »Ich hab gehört, wie du weinst. Vielleicht denkst du, es is mir egal, aber …« Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber ich höre, wie er atmet. Schwer und schnell, wie die Rinder, wenn Major ihnen aus Spaß auflauert, sie aufschreckt in ihrer gemäßigten Ruhe. »Is es nich.«
»Was?«
»Egal. Es is mir nich egal, was mit dir is.«
»Okay.«
Die Stille schafft Raum für die Geräusche der Insel. Das Meeresrauschen schwillt an, genau wie das Ticken des Weckers. Es sind Töne, an die man sich gewöhnt hat. Die in Vergessenheit geraten, bis man an sie erinnert wird.
»Du musst nich mit zu den Rindern. Is schweinekalt draußen.«
Ich nicke.
»Schlaf so viel du willst. Ich wart auf dich, bis du wieder Kraft hast.«
Er küsst mich auf die Stirn. Dann geht er, schließt lautlos die Tür. Ich ziehe die Decke bis zu den Schläfen. Draußen fällt Asche vom Himmel. Sie tanzt auf jeder Böe, so leicht ist sie. Ich schließe die Augen, damit ich die Flocken nicht sehen muss.
»Major«, sage ich. Ein Flüstern, aber nicht für Hundeohren. Er winselt.
Zweimal falle ich hin, schlage mir die Knie auf. Ich schmecke Blut und spucke aus. Die Luft ist dünn, jeder Atemzug scheint die Muskeln zu lähmen. Weiter.
Der Caldeirão eröffnet sich vor uns. Die grüne Sonne steht tief. An den Flanken des Kraters gären die aufgeblähten Körper der Rinder. Hunderte liegen verstreut in den Hügeln des Inselgrases. Der Wind trägt die Süße der Verwesung mit sich. Ich spucke erneut aus.
»Weiter.« Major zieht.
Die letzten Schritte knirschen. Ich kann meine Spuren im weißen Salz sehen, dass sich am Seeufer gesammelt hat. Das Wasser schlägt Blasen und riecht säuerlich, wie schlechter Wein.
Ich brauche all meine Kraft, um die Steine aus dem Salz zu ziehen. Drei Stück passen jeweils in die Taschen des Parkas. Meine Hand blutet. Der Schmerz schüttelt mich wach.
Ich ziehe die Schlaufe von meiner Hand und lege die Leine auf den Boden. Major sieht mich an. Um seine dunklen Augen wachsen erste graue Haare. Es fällt mir erst jetzt auf. Er wartet auf Worte von mir, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer, dass es mir leidtut. Und wieder weine ich.
»Geh schon.«
Ja, ich hab es gesehen, Ana. Ich hab’s gesehen. Der Drache flog. War mir egal. Ich war zu müde für diesen Scheiß. Lass du ihn fliegen, hab ich gesagt, wir sehen’s von hier aus. Dann nahm ich noch nen Zug, weil ich glaubte, vor Langeweile einzugehen. Der Wind war stark, der Kratersee schlug kleine Wellen. Selbst die Fischer wollten nicht ausfahren. Zu gefährlich.
Die Steine sind schwerer als gedacht. Auf allen Vieren zum Ufer. Es ist kalt. Das Wasser kriecht die Jeans hoch, die Ärmel des Pullovers. Bráulio. Ich habe eine Scheißangst.
»Bráulio!«
Wenn alles schwer ist, wird es leichter, loszulassen. Ich atme Wasser ein, ziehe es in die Nase, in den Rachen. Es brennt wie der Wodka, den David mitbrachte. Brennt im Brustkorb wie der erste Zug auf Lunge, bitterer Harz und Tabak. Brennt wie die Augen nach dem Schlafen in der Nachmittagssonne, als wir wieder aufwachten, allein am Caldeirão.
»Bráulio!«
Papas Stimme. Ich will vergessen, wie sie klang, als David und ich daheim ankamen. Ohne Ana. Da war nur Angst. Nur Panik.
»Was tust du?«
Er packt mich an der Kapuze. Ich sehe Wasser, Papas Gesicht, Gras. Die Rillen seiner Cordhose. Dann nichts.
»Kalt, wa? Wo is David?«
»Der ist drinnen und holt Tee.«
Ich meine, ein kleines Lächeln zu sehen. Dann fällt sein Blick auf das Heft, das auf meinem Schoß liegt. Meerestropfen sammeln sich auf dem Plastikumschlag. Matemática steht darauf. Und mein Name, in enger Kugelschreiberschrift.
»Wozu is das gut?«
»Dr. Correia sagt, ich soll alles aufschreiben und sehen, wie’s vorwärtsgeht.«
»Hm«, sagt er. »Wenn wir in Flores sind, kauf ich dir was Richtiges. Ein Tagebuch aus schönem Leder, was meinst?«
Ich nicke und betrachte ihn, seine rote Nase, die weichen Wangen, die Augen, die verfrühte Schatten werfen und denen man Anas Fehlen ansieht. Wann saßen wir das letzte Mal so beieinander? Ich rücke näher, lege meinen Kopf auf seine Schulter. Erde und Schafsmilch.
»Tut mir leid.«
Ich spüre, dass er nickt.
»Ich weiß.«
Er legt seine Hand auf meine. Corvo liegt hinter uns wie ein ins Meer gestürzter Fels. Die Sepiasturmtaucher fliegen wieder. Ich höre sie noch schreien, aber weit entfernt.